# taz.de -- Schule: Die Vielfalt muss ins Mathebuch | |
> An der Nürtingen-Grundschule in Kreuzberg will man mithilfe des | |
> Bundesmodellprojekts "Nürtikulti" Diskriminierung überwinden. Dazulernen | |
> können dabei alle Beteiligten. | |
Bild: So gleichförmig sieht es in Berlins Klassenzimmern schon lange nicht meh… | |
Im Eingangsbereich der Nürtingen-Grundschule sitzen vier Jungen und lösen | |
Matheaufgaben. Dabei plaudern die Acht- bis Neunjährigen – über Mädchen. Zu | |
jedem Namen, der genannt wird, fällt ihnen Kritisches ein: Süheyla ist zu | |
groß, Lale zu laut, Jule zu dünn. Am Ende kommen sie trotzdem zu einem | |
positiven Urteil: Alle Genannten, so ihr Fazit, seien „total nett“. | |
Vielfalt erkennen, anerkennen und positiv in den Schulalltag integrieren – | |
das ist Programm in der Grundschule am Kreuzberger Mariannenplatz. | |
„Nürtikulti“ wurde das Projekt getauft, das Diversity-Kompetenz an der | |
Schule verankern soll. Den Namen hätten die SchülerInnen ausgewählt, | |
erzählt Schulleiter Markus Schega. | |
Und Vielfalt ist an seiner Schule schon seit Jahren reichlich vorhanden: | |
nicht nur wegen der vielen verschiedenen Muttersprachen der Kinder, von | |
denen knapp jedes zweite aus Einwandererfamilien stammt. Das bringt auch | |
religiöse Vielfalt mit. Als Inklusionsschule nimmt die Schule Kinder mit | |
Behinderungen auf, und außerdem liegt sie in einem ärmeren Kiez, in den | |
zunehmend wohlhabende Familien ziehen. Dass die Schule einige | |
Montessori-Klassen pro Jahrgang anbietet, hat zudem zu einer internen | |
Segregation geführt: Kinder aus bildungsorientierten, wohlhabenderen | |
Familien besuchten die Spezialklassen, die weniger privilegierten die | |
anderen. | |
„Als ich die Leitung der Schule vor vier Jahren übernahm, gab es hier eine | |
homogene weiße Mittelschichtelternvertretung – und Eltern aus anderen | |
Milieus, die dagegen protestierten“, erzählt Schega. Eigentlich keine | |
Seltenheit an Berliner Grundschulen. Doch Schega war überzeugt: „Ihr | |
Vorwurf, dass die Schule Kinder deutscher Herkunftssprache aus | |
bildungsbürgerlichen Milieus bevorzuge, war zum Teil richtig.“ | |
Der erfahrene Lehrer, der zuvor lange an anderen Kreuzberger Schulen | |
gearbeitet hatte, wollte der Diskriminierung nicht nur mit ein paar | |
Diversity-Trainings für die PädagogInnen und einem Theaterprojekt für die | |
Kinder begegnen. Er wollte dem Übel an die Wurzel – und eine Schule, an der | |
Vielfalt nicht nur ausgehalten, sondern geschätzt wird. Gemeinsam mit dem | |
„Mobilen Beratungsteam Ostkreuz“ (MBT) der sozialpädagogischen Berliner | |
Stiftung SPI entstand ein Konzept, dessen Ansatz und Umfang für ein | |
Schulprojekt geradezu gewagt sind: drei Jahre und drei (Teilzeit)-Stellen | |
umfasst Nürtikulti. Vom Familienministerium wird es als Bundesmodellprojekt | |
finanziell gefördert. | |
## Geradezu luxuriös | |
„Aus Projektsicht haben wir eine geradezu luxuriöse Situation“, sagt eine | |
der drei MBT-ExpertInnen, die Politologin Ann-Sofie Susen: „So lange an | |
einer Schule arbeiten zu können ist toll, aber auch eine Ausnahme.“ Die gab | |
dem Nürtikulti-Team Zeit für eine gründliche Bestandsaufnahme an der | |
Schule, deren Ergebnisse in einer Lenkungsgruppe aus dem Team, der | |
Schulleitung sowie Erzieher- und LehrerInnen immer wieder diskutiert | |
wurden, um passende und umsetzbare Maßnahmen zu entwickeln. | |
Die waren umfassend: Diversity-Trainings gehörten zum Pflichtprogramm für | |
alle MitarbeiterInnen der Schule. Zusätzliche freiwillige | |
Fortbildungsveranstaltungen beleuchteten Ursachen diskriminierender | |
Ungleichbehandlung: In einer hätten etwa muttersprachlich deutsche | |
ErzieherInnen gelernt, wie die türkische Sprache aufgebaut ist, erzählt der | |
Hortleiter der Nürtingen-Schule, Michael Palmer: „Das hat ihnen ermöglicht, | |
sich in ein muttersprachlich türkisches Kind hineinzuversetzen, das einen | |
im Deutschen merkwürdigen Satz bildet.“ Letzteres werde schnell „mit | |
sozialen Kategorien und Intelligenz konnotiert“, weiß Palmer, aber „diese | |
Verbindung kann man auflösen, wenn man weiß, wie die andere Sprache | |
funktioniert: Man erkennt plötzlich statt einer Minderbemittlung eine | |
intellektuelle Leistung in einem kruden Satz.“ | |
Zwei Künstlerinnen, Claudia Hummel und Annette Kraus, stellten in einer | |
Fortbildung für LehrerInnen ihre Analysen von Mathebüchern vor – und | |
zeigten, wie auch das „neutralste Fach der Welt“ in Themenstellung und | |
Textaufgaben Familienbilder, Geschlechterrollen oder Klischees typisch | |
deutscher Freizeitgestaltung transportiert, die der heutigen | |
gesellschaftlichen Vielfalt weit hinterherhinken. 25 TeilnehmerInnen kamen | |
zu der mehrstündigen Veranstaltung, darunter auch Lehrkräfte von | |
Brandenburger Schulen. Als Modellprojekt soll Nürtikulti über die einzelne | |
Schule hinaus wirken: indem Erfahrungen an Schulbuchverlage und andere | |
Schulen vermittelt werden. | |
An der Nürtingen-Schule schloss sich an die analytische Bestandsaufnahme | |
eine intensive Begleitung der PädagogInnen durch das MBT an. Ann-Sofie | |
Susen und ihre Kollegen Ibrahim Gülnar und Rufus Sona arbeiteten in Teams | |
eng mit LehrerInnen und ErzieherInnen zusammen: Susen und Gülnar mit | |
jeweils einer Lehrkraft, Sona im ErzieherInnenteam des Horts. Für alle | |
Beteiligten eine neue Erfahrung: „Es war nicht immer ganz leicht, unsere | |
Rollen zu finden“, erzählt Susen. Doch die Befürchtung, nun komme eine Art | |
„Rassismuspolizei“, die immer alles besser wisse, sei aufseiten der | |
LehrerInnen nicht spürbar gewesen. Im Gegenteil: Selbst der langjährige | |
Lehrer Karl-Heinz Reus, mit dem Susen ein Team bildete, fand die Reflexion | |
mit der Coteacherin „sehr gewinnbringend“. Ein neuer Blickwinkel sei damit | |
an die Schule gekommen: „Wir haben genauer betrachtet, welche Haltung | |
hinter unseren Handlungen steckt.“ | |
Für Reus, Sonderpädagoge und Montessorilehrer, war das Nürtikulti-Projekt | |
ein Erfolg – und äußerst notwendig. Denn, so der Lehrer, wer nicht sehen | |
wolle, dass es auch an Schulen Diskriminierung gebe, müsse blind sein: „Es | |
geht aber darum, als Pädagoge vorurteilsbewusst zu agieren. Das kann man | |
lernen.“ | |
Über 80 Prozent der Erzieher- und LehrerInnen der Schule hatten für das | |
Projekt gestimmt, erzählt Schulleiter Schega: „Der Rest hat sich enthalten, | |
dagegen war niemand.“ Dass es im Kollegium aber auch Unverständnis und | |
Widerstand gab, ist für Schega notwendiger Teil des Modellprojekts: „Es ist | |
ja auch schmerzhaft, diskriminierende Seiten an sich selbst zu sehen, zu | |
sehen, dass einem auch rassistische Gedanken kommen oder man sich unfair | |
verhält. Aber das gehört zum Lernprozess dazu, damit muss man sich | |
auseinandersetzen.“ Niemand könne von sich sagen, völlig vorurteilsfrei zu | |
sein: „Ohne Vorurteile kommt man ja gar nicht zurecht im Leben. Aber man | |
muss gucken, welche schädlich sind.“ Wichtig sei es, Vorurteile etwa | |
gegenüber Eltern „zu erkennen und dann darüber hinwegzusehen, um trotzdem | |
gut zusammenzuarbeiten, im Interesse des Kindes“. | |
## Intensive Begleitung | |
Anfang kommenden Jahres läuft das Modellprojekt aus. Die an der | |
Nürtingen-Schule gesammelten Erfahrungen sollen mithilfe einer | |
ausführlichen Dokumentation anderen zugänglich gemacht werden. Dass sich | |
die Grundschule verändert hat, steht für alle Beteiligten fest. Worin diese | |
Veränderung besteht, ist dennoch schwer zu beschreiben oder gar zu messen. | |
„Es war toll, eine Klasse so intensiv begleiten und jedes einzelne Kind mit | |
den dazugehörigen Elternteilen kennenlernen zu können“, sagt | |
Nürtikulti-Coteacher Ibrahim Gülnar. „Das hat sehr viele Erkenntnisse | |
darüber ermöglicht, wie man Diversity umsetzt. Für mich ist das jetzt | |
eigentlich nichts anderes, als Chancengerechtigkeit herzustellen.“ | |
Für die Horterzieherin Isill Güney waren vor allem die vielen kritischen | |
Diskussionen mit dem Nürtikulti-Team ein Gewinn: „Da war einfach Zeit, | |
Raum, Rahmen und Licht. Das hat unseren Blick geschärft. Wir wurden alle zu | |
Spezialisten gemacht.“ Diese Diskussionskultur will die Schule erhalten. | |
„Das Nürtikulti-Team mit seinen gesammelten Erfahrungen wird uns als | |
,kritischer Freund‘ aber fehlen“, bedauert Schega. Sein Traum: Netzwerke | |
aus mehreren Schulen, die von Diversity-ExpertInnen betreut werden. | |
28 Oct 2013 | |
## AUTOREN | |
Alke Wierth | |
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