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# taz.de -- Obdachlosen-Magazin: „Greenpeace für’s Soziale“
> Das Hamburger Straßenmagazin "Hinz & Kunzt" wird 20. Das ist zwar kein
> Grund zur Freude, dennoch haben die Macher es geschafft, Menschen zu
> helfen.
Bild: Happy Birthday: Das Hamburger Straßenmagazin Hinz & Kunzt wird 20.
HAMBURG taz | Es wäre wohl verwerflich, das 20-jährige Bestehen des
Hamburger Straßenmagazins Hinz & Kunzt als Erfolg zu verbuchen. Immerhin
handelt es sich ja um ein Projekt, das im Wesentlichen auf Obdachlosigkeit
beruht. Als am 6. November 1993 das erste Heft erschien, gingen die damals
noch ehrenamtlich arbeitenden Journalisten davon aus, dass sie es schaffen
können, das Problem, vielleicht in zwei bis drei Jahren, zumindest in
Hamburg zu lösen. Heute sagt Chefredakteurin Birgit Müller dazu nur: „Wir
waren sehr naiv.“
Heute ist die Messlatte des Magazins eine andere. Über die Jahre ist der
Anspruch entstanden, den Finger stets auf die Wunde zu halten und
gleichzeitig konstruktiv zu sein. Für Müller soll das Magazin immer auch
ein Lichtblick – eben nicht zu düster sein. Und so wirken die Aktionen, die
sich die Redaktion ausdenkt, unternehmungslustig. Im eigens angelegten
Obst- und Gemüsegarten darf man die Hinz&Künztler bei der Arbeit begleiten,
auch wenn sie sich um die nicht unbedingt reißen.
Das Blatt verhandelt längst nicht nur klassische Obdachlosen-Themen. Die
Mischung aus Stadtpolitik, Arbeit, Kultur und über die Situation von
Wohnungslosen kommt gut an. Im Schnitt verkauft sich das Heft 68.000 Mal im
Monat. Die Themensetzung lebt davon, dass die Verkäufer ihre Erfahrungen
von der Straße einbringen. Professionelle Journalisten sie aber
recherchieren und schreiben. In Sonderheften über das Kochen begegnen die
Verkäufer Fernsehköchen wie Christian Rach oder Tim Mälzer und dem
Sternekoch Wahabi Nouri.
Über die Jahre hat sich das Projekt etabliert. Heute versteht sich Hinz &
Kunzt als Lobby für Obdachlose und Arme. Für Müller eine Art „Greenpeace
für’s Soziale“. Das Prinzip könnte einfacher kaum sein: Die Zeitung kostet
1,90 Euro, das aktuelle Jubiläumsheft ist mit 2,20 Euro ein wenig teurer,
davon geht ein Euro an den Verkäufer.
Die Idee kam damals von Stephan Reime, dem damalige Diakoniechef. Reime
wollte etwas dagegen tun, dass den Leuten auf der Straße nur das Betteln
bleibt. Er wollte ihnen etwas in die Hand geben, was ihnen Würde verleiht.
Und so entstand, angelehnt an die Londoner Straßenzeitung The Big Issue,
das Magazin.
Dass Obdachlosigkeit nicht mehr nur in den Grenzen Hamburgs gedacht werden
kann, ist auch bei Hinz & Kunzt angekommen. Während Anfang der 90er-Jahre
fast ausschließlich alkoholkranke Männer die Zeitung verteilten, sind in
den letzten Jahren neue Gruppen dazu gekommen. Zuerst Drogenabhängige, dann
durch die Hartz-VI-Reform junge Menschen und Frauen, heute viele Zuwanderer
aus Osteuropa. Eigentlich soll das Projekt offen für alle sein, inzwischen
gibt es aber eine Begrenzung. Von den 500 Verkäufern dürfen nur 50 aus
Bulgarien oder Rumänien kommen.
Es gibt aber auch Konflikte. Immer dann, wenn eine neue Gruppe dazu kommt,
gibt es Ängste, vertrieben zu werden, sagt Müller. Um zu verhindern, dass
Schwächere von Stärkeren verdrängt werden, gibt es feste Verkaufsplätze.
Und Regeln. Wer verkauft, muss rudimentär Deutsch sprechen. Besoffen oder
zugedröhnt darf man nicht verkaufen. Verstößt jemand gegen die Regeln, wird
der Ausweis vorübergehend entzogen.
An diesem Morgen steht ein weißer Lastwagen vor dem kleinen Gang an der
Altstädter Twiete. Das neue Heft wird angeliefert. Während die Mitarbeiter
vom Vertrieb die Zeitungen stapelweise in das Rotklinkerhaus reichen,
stehen draußen schon die Verkäufer Schlange.
Obdachlosigkeit beginnt oft mit einer Trennung. So war es auch bei Dieter.
„Scheidung, Führerschein weg, Arbeitsplatz weg“, sagt der 62-jährige
Verkäufer. Sein Gesicht ist rot und rau. Er zieht an seiner Zigarette,
möchte nicht darüber reden. Denn inzwischen kann er nach vorne schauen.
Morgen früh hat er einen Termin. Zusammen mit der Sozialarbeiterin Isabel
Kohler will er eine Wohnung besichtigen. Die erste, seit er vor zehn Jahren
auf der Straße landete. Auch wenn er mit seinem Lager, das er jeden Abend
an der Mönckebergstraße aufschlägt, eigentlich ganz zufrieden war. Aber nun
steht der Winter bevor.
Jetzt wartet er erstmal, bis seine Nummer aufgerufen wird. Er will sich
heute zehn Zeitungen holen. Wenn die verkauft sind, kommt er wieder, um
sich Nachschub zu besorgen. Das macht er mehrmals im Monat. Vor allem am
Monatsende holt er sich nur noch kleine Stapel, damit er nicht auf den
Zeitungen sitzen bleibt. Dieter hat mit seinem Standort Glück gehabt. Er
steht auf zwei Wochenmärkten in guten Wohngegenden. „Das ist ein guter
Platz“, sagt er. Die Markthändler kennen ihn und geben ihm gerne etwas zu
essen mit. „Viel einkaufen muss ich nicht.“
Das Straßenmagazin ist in Hamburg gut verankert. Müller sagt: „Die
Verkäufer machen mit ihrem Gesicht und mit der Zeitung deutlich, es gibt
uns, dass wir etwas anzubieten haben, aber auch Unterstützung brauchen.“
Über die Jahre ist es dadurch gelungen, eine große Nähe zwischen
Obdachlosen und Nichtobdachlosen in der Stadt herzustellen.
Um die aufzubauen, richtet das Magazin den Blick auf den einzelnen
Menschen. Auch über den Tod hinaus. Das Blatt druckt Nachrufe an die
verstorbenen Hinz&Künztler. So wie im Sommer: „Ob Elke noch Angehörige hat,
die um sie trauern, wissen wir nicht genau“, war da zu lesen. „Obwohl sie
eine unserer ältesten Verkäuferinnen war, blieb sie immer ein bisschen
zurückhaltend.“ Die über 60-Jährige hatte ihren Stammplatz vor dem Rewe in
der Jarrestraße, eine Kundin war es, die herausbekommen hat, dass Elke
gestorben ist.
Hinz & Kunzt hält sich zugute, dass Obdachlosigkeit in Hamburg ein Thema
ist, das die Leute interessiert. Das zeigt zum Beispiel das
Winternotprogramm, andernorts sei das ein Spezialthema für Sozialpädagogen.
Dieter hat die Wohnung bekommen. Er ist der vierte Zeitungsverkäufer in
diesem Jahr, der von der Straße wegkommt. Die Zahl ist ernüchternd und
zeigt, wie groß der Druck auf dem Wohnungsmarkt ist, auf dem Obdachlose das
Nachsehen haben. Früher, als Hinz & Kunzt an den Start ging, wurden 30 bis
40 Wohnungen im Jahr an Verkäufer vergeben.
Im Rotklinkerbau in der Altstadt, in dem das Straßenmagazin seine Räume
hat, haben sich die VerkäuferInnen gerade am Tresen Kaffee, Brot und Obst
geholt. Sie bräuchten nichts dringender als eine Bleibe. Auch wenn das
Kerngeschäft dieses Straßenmagazins woanders liegt, arbeitet
Chefredakteurin Birgit Müller genau darauf hin: Sie träumt von einem Haus,
in dem unten die Zeitung und oben die Verkäufer Platz finden.
Konkretisieren könnte sich das in den kommenden Jahren, wenn sie von der
Stadt ein passendes Baugrundstück bekommen: „Wir haben zwei Orte im Auge,
die gut passen würden.“
## Geburtstagsparty Hinz & Kunzt: „Aufstehen statt aufgeben“: heute in der
Hamburger Fabrik, Barnerstraße 36, Tickets 12-15 Euro
5 Nov 2013
## AUTOREN
Lena Kaiser
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