# taz.de -- Therapeut Martin Miller über seine Mutter Alice: „Sie hat ihre F… | |
> In seinem Buch schildert Miller die schwierige Beziehung zur Mutter, der | |
> berühmten Kindheitsforscherin. Ihr Leid machte sie zur Täterin gegenüber | |
> dem Sohn. | |
Bild: „Narzisstisch kalt“: Alice Miller. | |
Die Kindheitsforscherin Alice Miller veränderte mit „Das Drama des begabten | |
Kindes“ (1979) und „Am Anfang war Erziehung“ (1980) die Psychotherapie im | |
Sinne des Kindes entscheidend und beeinflusste damit eine ganze Generation | |
von Lesern. Die weltberühmte Anwältin des Kindes war jedoch unfähig, ihrem | |
eigenen Sohn gerecht zu werden. Als Baby starb Martin Miller fast an den | |
Folgen der Vernachlässigung, als Erwachsenen trieb ihn die Mutter an den | |
Rand des Suizids. | |
Nicht mal Martin Miller wusste, dass seine Mutter als Jüdin den Holocaust | |
in Warschau überlebt hatte, denn ihre Vergangenheit hielt sie lange Zeit | |
geheim. Ihre verdrängten Kriegstraumata und Verfolgungsängste projizierte | |
sie zeit ihres Lebens auf ihren Sohn, der auf diese Weise „emotional ein | |
Teil ihrer Holocausterfahrung“ wurde. Um sich vor den Übergriffen seiner | |
Mutter zu retten, grenzte Martin Miller sich später stark von ihr ab und | |
wurde selbst Psychotherapeut. | |
Sein Buch über das tragische Leben seiner Mutter und ihre schwierige | |
Beziehung dokumentiert die destruktiven, intergenerationellen Folgen von | |
Krieg und Verfolgung. Miller rechnet nicht ab, sondern klärt auf. Es ist | |
ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung, der zeigt, wie der Zyklus von | |
Schweigen, Schuldgefühlen und Konflikt konstruktiv gebrochen werden kann, | |
damit Heilung eintritt. | |
taz: Herr Miller, Ihre Mutter hat in ihrem Leben viel Mut bewiesen – als | |
Überlebende des Zweiten Weltkriegs und in der Kindheitsforschung, die sie | |
nahezu revolutioniert hat. Sie beschreiben Ihre Mutter jedoch auch als eine | |
Frau, die von Angst bestimmt war: Wie passt all das zusammen? | |
Martin Miller: Alice Miller schuf sich einen geistigen Raum, der sie vor | |
den Gefahren des Lebens schützte und in dem sie sich frei und angstfrei | |
fühlte. Und es gab eine Alice Miller, die sich im Alltag verfolgt und | |
bedroht fühlte, vereinnahmt von ihrer traumatischen Vergangenheit. Zwischen | |
diesen beiden Welten von Sicherheit und Angst pendelte meine Mutter. | |
Auseinandersetzungen hat sie stets aus diesem sicheren Geistesraum heraus | |
geführt, ohne wahrzunehmen, was sie gleichzeitig in der Realität in ihrem | |
sozialen Umfeld anrichtete. | |
Die Psychotherapie hat sie zwar nie revolutionieren wollen, aber radikal | |
wie niemand zuvor hat sie die kindliche Perspektive des subjektiven | |
Erlebens in die Psychologie eingeführt. Sie vertrat die Ansicht, dass | |
Kinder den Respekt verdienen, ihr eigenes Potenzial entwickeln zu dürfen, | |
und dass Erziehung nicht bedeutet, dass Eltern ihre Kinder nach ihren | |
eigenen Vorstellungen formen. Das hatte natürlich auch Konsequenzen für die | |
Therapiearbeit. | |
Hatte Alice Miller eine gespaltene Persönlichkeit? | |
In ihrem Alltag hat sie ihre Kriegserfahrungen völlig abgespalten. Doch | |
jedes Mal, wenn ich sie mit ihrem schlimmen Verhalten mir gegenüber | |
konfrontierte, hat sie darauf mit Ablehnung und Rückzug reagiert. Sie hat | |
mir gegenüber ein egozentrisches, ja sogar ein symbiotisches | |
Beziehungsverhalten praktiziert. | |
War das die Ohnmacht eines Opfers? | |
Ja. Meine Mutter war aber auch Täterin. Was mich am meisten erschüttert, | |
ist, dass sich jemand, der den Holocaust überlebt hat, dessen Familie fast | |
gänzlich ausgelöscht wurde, unbewusst mit den Tätern von damals | |
identifiziert, um die eigene Opfersituation abwehren und ertragen zu | |
können. Dass meine Mutter Schwierigkeiten hatte, mich zu lieben und mich | |
ins Kinderheim gab, kann ich in ein Schema einordnen und begreifen, nicht | |
aber ihre nahezu narzisstische Kälte und ihr destruktives Verhalten mir | |
gegenüber. Das kann passieren, wenn ein Opfer seine eigene Geschichte nicht | |
aufarbeitet. | |
Für die Nachkommen der Täter gilt das genauso. Kann man sagen, die | |
Opfer-Täter-Dichotomie erfasst das Problem nicht, wenn es um | |
transgenerationelle Prozesse geht? | |
Seit etwa zehn Jahren wissen wir, wie Spiegelneuronen funktionieren: Wenn | |
ich geschlagen werde, erlebe ich das nicht nur passiv als Opfer, sondern | |
verinnerliche zugleich auch den Schlagenden. In der Therapie arbeitet man | |
deshalb heute vorwiegend mit den verinnerlichten Introjekten, das heißt mit | |
jenen passiv aufgenommenen Normen und Werten, die ein Teil der | |
Persönlichkeit wurden und als solche nicht mehr erkannt werden: Der Patient | |
soll in der Therapie erkennen, dass auch das schlagende Elternteil | |
unmerklich Bestandteil seiner Persönlichkeit geworden ist. Erst wenn ich | |
meine Introjekte mental externalisiert habe, kann ich mich ablösen und | |
eigenständig werden. | |
Sie sind auch von Ihrem Vater geschlagen worden. Wie haben Sie das alles | |
überlebt? | |
Mit meiner Biografie hätte ich auch zum Massenmörder oder zu einem | |
Psychopathen werden können. Aber dank meiner Tante habe ich einem wissenden | |
Zeugen gleich das Glück gehabt, dass mir ihre Herzlichkeit mein Leben | |
gerettet hat. Mit ihr habe ich eine gute Bindungserfahrung gemacht, die | |
mich später davor beschützt hat zu sterben. | |
Alice Miller hat sich vor drei Jahren das Leben genommen. Hat Ihr Buch | |
Ihnen geholfen, um Ihre Mutter zu trauern und ihr zu vergeben? | |
Das Schreiben hat mir geholfen, Abstand zu gewinnen und mein eigenes | |
Narrativ zu entwickeln. Ich kann jetzt mit meiner schmerzhaften Biografie | |
in Frieden leben und fühle mich von ihr nicht mehr beeinträchtigt. Mit | |
meiner Mutter kann ich mich nicht versöhnen, denn sie hat ihre Fehler nie | |
eingesehen. Mit meiner eigenen Geschichte habe ich mich jedoch versöhnt. | |
Das ist ja das Ziel einer jeden Trauerbewältigung. | |
Haben Sie in irgendeiner Weise an Ihre jüdische Herkunft anknüpfen können? | |
Meine Mutter hat ihr Jüdischsein während der Ehe mit meinem Vater stets | |
verleugnet und sich erst nach der Scheidung wieder intensiv damit | |
beschäftigt. Ich bedaure zutiefst, dass sie mich davon völlig | |
ausgeschlossen hat. Als ich in den achtziger Jahren zur jüdischen Gemeinde | |
in der Schweiz Zugang suchte, fühlte ich mich von dieser ebenfalls | |
ausgegrenzt: Man sah mich nicht als „echten Juden“ an, weil ich eine | |
religiöse Lebenserfahrung verpasst habe. Da ich nun die Geschichte meiner | |
Mutter kenne, weiß ich, woher ich komme. Darin liegt auch eine Genugtuung. | |
War auch Ihr Vater Jude? | |
Nein, er war ein überzeugter Christ und ein Antisemit. Mit ihm hat meine | |
Mutter die Vergangenheit reinszeniert, er hieß sogar genauso wie der Mann, | |
der meine Mutter in der NS-Zeit lange verfolgt hat. Stellen sie sich vor, | |
was für eine Stimmung bei uns zu Hause herrschte! | |
Dialoge zwischen den Nachkommen von Opfern und von Tätern sind bis heute | |
sehr schwierig. Sehen Sie für die dritte Generation bessere Chancen, sich | |
miteinander auszutauschen? | |
Unser Gespräch hier ist ja dafür schon ein gutes Beispiel! Wissen Sie, das | |
hängt davon ab, ob das Gegenüber sich mit der eigenen Geschichte | |
auseinandergesetzt hat oder nicht. Als Therapeut kann ich ihnen viel über | |
Familien erzählen, in denen bis heute geschwiegen, die Vergangenheit aber | |
unbewusst immer wieder neu inszeniert wird. | |
Ich hatte mal eine Patientin, die, ohne dass es jemand begriff, zu Hause | |
ihre Erfahrungen aus dem Luftschutzbunker simuliert hat. Alle | |
Familienmitglieder mussten sich ruhig verhalten, es durfte kaum gesprochen | |
und nicht diskutiert werden. Für den Sohn hatte das verheerende Folgen, bis | |
er den Zusammenhang begriff und sich von diesem Schweigegebot befreien | |
konnte. | |
Wie nehmen es Ihre Leser auf, dass Sie das Privatleben von Alice Miller | |
öffentlich gemacht haben? | |
Die Resonanz ist meist positiv. Sie erfahren etwas über meine Mutter und | |
erkennen, dass sie eben auch nur ein Mensch war. Ich zeige den Lesern, wie | |
man sich konkret mit seinen Eltern auseinandersetzen kann. Es geht darum, | |
sachlich und erwachsen Stellung zu beziehen und sich nicht mit einer | |
wutentbrannten Anklage in einer infantilen Position zu verstricken. | |
16 Nov 2013 | |
## AUTOREN | |
Alexandra Senfft | |
## TAGS | |
Psychotherapie | |
Judenverfolgung | |
Schizophrenie | |
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