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# taz.de -- Ökologischer Fußabdruck: Kommune im Feldversuch
> Um Alternativen zur herkömmlichen Landwirtschaft zu erforschen, ziehen
> Göttinger Studierende in einen alten Uni-Garten.
Bild: Wo es nicht nur um die Wissenschaft geht, sondern auch darum, was auf den…
GÖTTINGEN taz | Wie eine grüne Insel liegt der alte Pflanzgarten zwischen
den brach liegenden Feldern im Göttinger Norden. Während die Flächen der
agrarwissenschaftlichen Fakultät bereits abgeerntet sind, herrscht auf dem
wild bewachsenen Gelände rege Betriebsamkeit. Baumstämme werden zersägt,
Bauwagen instand gesetzt, Beete zugedeckt. In den letzten herbstlichen
Sonnenstrahlen erntet ein junger Mann das Gemüse fürs Mittagessen. Mit
seinem Taschenmesser trennt er vorsichtig die Blätter vom Kohlrabi. „Der
Winter wird für uns eine Herausforderung“, gesteht er ein, während er nach
weiterem Gemüse Ausschau hält, „die Wege werden schlammig, es wird kalt und
dunkel und unsere Vorräte reichen vermutlich nur bis Ende Januar.“
Moritz Halekotte ist einer von neun Göttinger Studierenden, die in
Göttingen-Weende ein alternatives Leben ausprobieren. Seit April lebt der
22-jährige Student auf der knapp 4.000 Quadratmeter großen Grünfläche in
einem Bauwagen. Jahreszeiten bestimmten dort den Lebensrhythmus. Mehrmals
in der Woche müssen sie Wasser in Kanistern den kleinen Berg hinauftragen,
da es weder Strom- noch Wasserleitungen gibt.
Zwischen Apfelbäumen und selbst gezimmerten Gewächshäusern versuchen er und
die anderen Studierenden ihre Vorstellung von einem nachhaltigen Leben
umzusetzen. „Im Studium bin ich auf Menschen gestoßen, die mich für
gesellschaftliche Probleme sensibilisiert haben“, begründet er seine
Entscheidung, in das Projekt zu ziehen. „Umweltverschmutzung, endliche
Ressourcen, viele Probleme hängen mit unserer Lebensweise zusammen. In
einer konventionellen Wohnung konnte ich meine Ideale nicht umsetzen.“
Ein wenig erinnern die Bilder an Aussteigerkommunen aus den 60ern und 70ern
– dabei steckt ein wissenschaftlicher Ansatz hinter dem Göttinger Projekt.
Das Stichwort heißt „Permakultur“. Nicht gegen, sondern mit der Natur
wollen sie Landwirtschaft betreiben, um ihren ökologischen Fußabdruck so
klein wie möglich zu halten.
Das Konzept der Permakultur hat der Australier Bill Mollison entwickelt:
Der Mensch, so dessen Theorie, wird durch sie wieder Teil eines Ökosystems
und steht nicht außen vor. Natürliche Prozesse dienen als Vorbild. Anstelle
von Monokulturen werden beispielsweise verschiedene Pflanzenarten zusammen
angebaut, die sich gegenseitig unterstützen. Pestizide verwendet man nicht,
stattdessen sollen bestimmte Kräuter Schädlinge von den Nutzpflanzen
fernhalten.
Komposttoiletten führen die aufgenommenen Nährstoffe wieder zurück in den
Boden. Der Mensch verschwendet optimalerweise keine Energie, sondern führt
sie direkt wieder in den ökologischen Kreislauf zurück. Hauswärme, die
sonst verloren gehen würde, könnte nach dem Prinzip der Permakultur genutzt
werden, um ein anliegendes Gewächshaus zu erwärmen.
## Revolutionäres Gärtnern
Was wie eine alternative Form des Gärtnerns klingt, hat einen
revolutionären Kern: Mit diesen Anbaumethoden, so formulierte es Mollison,
könnte man Nahrungsmittel dezentral anbauen, um den Problemen der
großflächigen Agrarindustrie entgegenzuwirken. In New York beispielsweise
wird so schon seit Jahren nach permakulturellen Vorstellungen auf
Hausdächern Gemüse angebaut. Eine „stille Revolution“ nennt der Australier
seine Idee. „Damit Permakultur die konventionelle Landwirtschaft ersetzen
könnte, müsste die Gesellschaft ihren Lebenswandel komplett umstellen“,
gesteht Halekotte ein, „aber auch heute kann sie bereits Möglichkeiten
zeigen und Anreize bieten, Dinge im Kleinen zu verändern.“
Aufmerksam geworden auf die Permakultur-Idee ist der 22-Jährige in seinem
Studium: Wie die meisten BewohnerInnen des Gartens studiert er
Ökosystem-Management. In dem interdisziplinären Studiengang lernen er und
seine KommilitonInnen alles über das Zusammenleben von Mensch und Natur.
Seit vier Semestern bietet der Dozent Uwe Scheibler Module zum Thema
Permakultur an. „Nach einer Vorlesung kamen zwei Studierende zu mir und
erzählten von dem Versuch, ihren ökologischen Fußabdruck so gering wie
möglich zu halten“, berichtet Scheibler von den Anfängen des Projekts.
„Über einen gewissen minimalen Verbrauch kamen sie nicht hinaus.“
Gemeinsam entwickelten sie die Idee, ein nachhaltigeres Leben mit dem
Permakulturgedanken auszuprobieren. Obwohl sie am Anfang auf wenig
Verständnis stießen, überließ ihnen die Verwaltung der
Georg-August-Universität den alten, ungenutzten Pflanzgarten. Mit viel
Aufwand begannen die Studierenden, das verwilderte Gelände nutzbar zu
machen, zunächst komplett ohne finanzielle Hilfe. Entsprechend langsam
liefen die ersten Projekte an.
Mittlerweile fördert jedoch die Uni das Projekt. 18.000 Euro gab es Anfang
des Jahres für Dämmstoffe, Baumaterialien, Werkzeuge und Pflanzenmaterial.
Seitdem ist viel passiert: Zwischen den bunten Wohnwagen haben die
BewohnerInnen verschiedene Beete gestaltet, unter Apfelbäumen picken Hühner
Würmer aus dem Boden, in dem selbst ausgehobenen Lagerraum stehen Hunderte
Gläser mit eingekochten Vorräten.
Enten mit langen Hälsen watscheln über das Gelände. „Unsere Laufenten
sollen die Pflanzen vor Schnecken schützen“, erläutert Halekotte, „das
machen sie bisher ganz gut.“ Das nächste große Projekt soll eine
Solaranlage werden. Vor der Gemeinschaftshütte steht groß auf einer
schwarzen Tafel geschrieben: „Freiräume respektieren“. Das Zusammenleben
auf der kleinen Grünfläche wird streng basisdemokratisch organisiert.
## Notfalls wird containert
„In erster Linie sollen sich die Studierenden dort erst einmal
ausprobieren“, sagt Scheibler, „aber mittelfristig wollen wir auch
wissenschaftliche Erkenntnisse zur Permakultur gewinnen.“ In den USA und
Australien wird Permakultur längst akademisch erforscht. Doch in
Deutschland steckt die Wissenschaft diesbezüglich noch in den
Kinderschuhen. „Das Klima in Deutschland lässt keine kurzfristigen
Ergebnisse zu“, sagt Scheibler. „Es wird Jahre dauern, bis wir sehen
können, ob solche Methoden Erfolg haben.“
Das Göttinger Projekt testet also vor allem aus, Buchwissen scheitert oft
an der ökologischen Realität. Trotzdem steht der Anspruch, Ergebnisse aus
den Erfahrungen hier im Permakulturraum zu ziehen. Einige Studierende haben
ihre Bachelorarbeiten über Projekte im Garten geschrieben. Das Thema der
nächsten Abschlussarbeit steht bereits fest: Ein Bewohner will über die
Grauwasseranlage im Garten schreiben, die schmutziges Wasser
wiederverwendbar machen soll.
„Eine Bachelorarbeit wird sonst in sechs Wochen abgehandelt, hier bekommen
die Studenten die Möglichkeit, wirklich wissenschaftlich zu arbeiten“, sagt
Scheibler. Auch für Studierende, die nicht dort wohnen, werden Flächen frei
gehalten, auf denen sie praktisch mit permakulturellen Ansätzen arbeiten
können. In Zukunft will Scheibler ähnliche Projekte auch an anderen Orten
in Göttingen möglich machen.
Im alten Pflanzgarten aber sollen weiter abwechselnd verschiedene
Studierende wohnen und sich mit Permakultur auseinandersetzen – 20 Jahre
lang. Erst dann wird sich vermutlich auch der Erfolg des kleinen Projekts
abschätzen lassen. Fast jeden Tag kommen BesucherInnen aus der Stadt, um
sich die Anlage anzuschauen. Viele von ihnen bleiben, um mitzuarbeiten. Das
positive Feedback ist für die BewohnerInnen ein erster Erfolg ihres
Einsatzes und zeigt, wie sehr die Idee den Puls der Zeit trifft.
Trotzdem bleibt die Reichweite begrenzt: Eine Vernetzung mit anderen Gärten
findet nicht statt, nur sporadisch kommen Interessierte aus anderen Städten
in den alten Pflanzgarten. „Im Moment sind wir einfach immer noch ziemlich
eingespannt“, gesteht eine Bewohnerin ein, „da haben wir für so etwas noch
keine Zeit gehabt.“
Halekotte betont, wie wichtig es für ihn geworden ist, seine Zeit effektiv
zu nutzen: „Studium und die Arbeit im Garten unter einen Hut zu bekommen,
ist eine große Herausforderung.“ Fast jeden Tag müssen die Studierenden an
ihren Beeten arbeiten, um von dem Ertrag leben zu können. Die frühe
Dunkelheit zwingt sie mit Stirnlampen in die Beete.
Wenn das selbst Angebaute nicht reicht, gehen sie containern. Im Supermarkt
kaufen sie nur das Nötigste. Gegessen wird also, was gerade da ist.
„Natürlich bedeutet so ein bewusstes Leben erst einmal auch einen
Verzicht“, fasst Halekotte das erste halbe Jahr zusammen. „Die neuen
Möglichkeiten meines Lebens hier wiegen die Probleme aber auf jeden Fall
auf.“
1 Dec 2013
## AUTOREN
Paul Hildebrandt
## TAGS
Landwirtschaft
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