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# taz.de -- Strukturwandel in China: Nichts für europäische Nostalgiker
> Aus ergrauten Industriestädten sollen grüne Metropolen werden, aus armen
> Arbeitervierteln moderne Hochhaussiedlungen.
Bild: Auch der Smog in Shenyang trübt den Blick in den Himmel, hier ist es abe…
Der Smog hat sich in die Hauswände gefressen. Über Jahrzehnte haben Ruß,
Schwefeldioxid und Staub ihre hässlichen Spuren hinterlassen. Unter den
Fenstern ergießen sie sich, noch finsterer als am Rest der Wand, die
vielleicht mal weiß war, vielleicht auch nicht. Bunte Schilder und
beleuchtete Werbetafeln bringen Farbe in die ansonsten triste Gegend. Durch
die beschlagenen Fenster einer Nudelküche scheint grelles Neonlicht.
Drinnen stehen Herr Wang, seine Frau und seine Tochter hinter dem
Holztresen und warten auf Kundschaft. Während draußen Minusgrade herrschen,
ist es hier heimelig warm. Die Nudelküche liegt im ehemaligen
Industriegebiet Shenyangs, einer Millionenstadt im Nordosten Chinas – dem
Ruhrpott der Volksrepublik.
Reiche Rohstoffvorkommen machten die Region in Zeiten der chinesischen
Industrialisierung zum Zentrum der Schwerindustrie. Der umweltbelastende
Bergbau, die Eisen- und Stahlerzeugung und die Giftstaub speienden
Kohlekraftwerke ließen die Region vom einst reichen Stahlgürtel zum
schmutzigen Rostgürtel verkommen, der aufgrund der starken
Umweltverschmutzung wenig Lebensqualität bot.
In den achtziger und neunziger Jahren verschlechterte sich die
wirtschaftliche Lage, Kohleminen waren erschöpft, viele Fabriken standen
vor dem Bankrott. Es waren elende Zeiten für die Region und damit auch für
die Industriestadt Shenyang. Die neuen kapitalistischen Fabriken im Süden
hatten den einst so erfolgreichen Norden mit seiner Industrie längst
abgehängt.
## Urlaubsort für Arbeiter
Schnell wurde offensichtlich, woran die chinesische Industrie krankte: Die
Staatsbetriebe waren ineffizient, die Anlagen nach fünfzig Jahren alt und
rostig. Etwa 95 Prozent der Unternehmen schrieben rote Zahlen, die
Produktion war weitestgehend eingestellt, da sie unwirtschaftlich war.
„Urlaubsort für Arbeiter“ nannten die Menschen Shenyangs Industriegebiet
Tiexi. Doch ein Paradies war es nicht: Aus erhabenen Arbeiterkulturpalästen
waren längst heruntergekommene und trostlose Bauwerke geworden, von denen
der Putz abbröckelte.
Den einst hochmodernen Arbeiterunterkünften nach sowjetischem Vorbild
haftete der giftige Staub der Jahrzehnte an. Es moderte, rostete, rottete.
Die Umweltverschmutzung war enorm. Shenyang rangierte unter den zehn
Städten mit der schlechtesten Luftqualität weltweit. Die Zentralregierung
zog die Notbremse, doch anstatt die alten Fabriken zu sanieren, entschloss
sie sich für den großen Umbruch. Die Stadt sollte ein neues Gesicht
bekommen.
Mitten in Tiexi liegt Herr Wangs Nudelküche. Die roten Tische sind am
Nachmittag noch leer. Für umgerechnet gut zwei Euro gibt es hier eine große
Schale Nudeln mit dünnen Rindfleischstreifen. Eigentlich gehört das Lokal
seiner Frau. Womit Herr Wang sein Geld verdient, möchte er nicht sagen. Den
kleinen Finger des 49-jährigen Mannes mit der Glatze ziert ein langer
Nagel.
In Asien gilt dieser Fingernagel als Statussymbol wie hierzulande der
Porsche auf dem eigenen Firmenparkplatz. Er zeigt, dass Herr Wang nicht
körperlich arbeitet, sondern einer ist, der Befehle erteilt. Der
Fingernagel passt nicht zu dieser Nudelküche, nicht zu Herrn Wang, der
vielleicht wie China selbst mehr sein will als er ist.
## Wo bleiben die Menschen?
Der Presse gegenüber ist er vorsichtig, erst bei einer zweiten Zigarette
fängt er an zu erzählen. Als er ein Jahr alt war, zogen seine Eltern mit
ihm nach Tiexi. „Die Straße sieht aus wie in meiner Kindheit“, sagt Herr
Wang, wenig habe sich verändert. Ganz im Gegensatz zum Rest Tiexis. „Um
unser Wohnviertel herum standen früher Fabriken und kleine Häuser – das war
alles.“ Als junger Mann arbeitete er in einem Werk der
Maschinenkooperation. Doch noch bevor es geschlossen wurde, kündigte er
seinen Job und machte sich mit einem kleinen Geschäft selbstständig.
Das war vor der großen Entlassungswelle, die Mitte der neunziger Jahre im
Nordosten Chinas Millionen Menschen von einem Tag auf den anderen vor den
Fabriktoren stehen ließ. „Einige bekamen damals eine Entschädigung von der
Regierung, doch längst nicht alle. Die meisten gründeten wie ich kleine
Unternehmen oder wurden Taxifahrer.“ Die Menschen protestierten, doch trotz
versprochener Sozialprogramme mussten viele ohne Abfindung auskommen.
Im Juni 2002 beschloss die Zentralregierung, die Probleme anzupacken, ließ
die alten Fabrikgebäude Tiexis Block für Block abreißen und baute am
Stadtrand ein neues Industriegebiet auf – moderner, effizienter, auf Profit
ausgerichtet. Viele der alten Arbeiterunterkünfte wurden durch moderne
Gebäude ersetzt, die der Menschenmassen Herr werden sollen, die vom Land in
die Stadt ziehen. Und so veränderte sich das Stadtbild von Shenyang rasant.
## Gestörtes Gleichgewicht
Wo vor zwanzig Jahren noch die Schornsteine qualmten, stehen heute moderne
Hochhäuser und Shoppingmalls. Überall wird gebaut. Riesige Plakatwände
preisen die neu entstehenden Viertel an, auf denen extravagante Autos vor
glänzenden Wolkenkratzern stehen. Heute ist das alte Industriegebiet Tiexi
wieder hipp, wer es sich leisten kann, zieht hierher. Hunderte Baukräne
künden von weiteren Neubauten. Ein Gebäude gleicht dem anderen, mal sind es
fünfundzwanzig Stockwerke, mal dreißig. Dass hier vor zehn Jahren noch
zahllose Fabriken standen, ist heute schwer vorstellbar.
Herr Wang nimmt einen tiefen Zug von seiner Zigarette, pustet den Rauch
langsam aus. „Vor der Krise war die Lebenssituation stabil, wer einmal
einen Job in einer Fabrik hatte, blieb dort für den Rest seines Lebens. Er
bekam eine Wohnung gestellt, war versorgt. Heute ist alles viel
komplizierter, es gibt Arbeitsverträge, die jederzeit gekündigt werden
können, Essen und Kleidung sind teurer geworden.“ Es ist die alte
Sicherheit der kommunistischen Planwirtschaft, in der jeder gleich viel
hatte, die den Menschen hier fehlt. Das Gleichgewicht hat sich verschoben,
sagt Herr Wang, früher waren in seinem Viertel alle gleichgestellt, selbst
der Vorgesetzte hatte nicht viel mehr als der Arbeiter.
Heute zeigen teure Kleidungsstücke, luxuriöse Wohnungen oder protzige
Autos, wie weit man es gebracht hat. Es ist nicht gut, wenn das
Gleichgewicht gestört wird, findet Herr Wang, wenn wenig und viel Geld
aufeinander treffen. So wie derzeit in Tiexi. Doch die Entscheidungen aus
Peking zu kritisieren, liegt vielen fern – auch Herrn Wang. Insgesamt, so
resümiert er, habe sich die Lage ja deutlich verbessert.
## Hochhäuser und Eventhallen
Ob das kleine Wohnviertel und die Nudelküche noch lange existieren, ist
jedoch fraglich. Die Stadtväter wollen das gesamte Gesicht der Stadt
verändern, die so schnell wächst, dass immer mehr Ackerland im Umland der
Expansion zum Opfer fällt. In der Shenyang Urban Planning Hall zeigt ein
Modell der Stadt, 1.500 Quadratmeter groß, vergleichbar der Größe von zwei
Tennisplätzen, wie Shenyang bereits in wenigen Jahren aussehen soll.
Das Modell ist übersät mit Hochhäusern und modernen Eventhallen, kleine
individuelle Häuser oder Wohneinheiten sucht man vergeblich. „Nein“,
erklärt die Museumsführerin, „die kleinen Häuser, die jetzt noch stehen,
werden abgerissen.“ Sie passen nicht in das moderne Bild der Stadt. Groß,
größer, Shenyang lautet die Devise.
Europäische Nostalgiker werden den urigen, urbanen Charaktervierteln
nachtrauern, die bald durch anonyme Bauwerke ersetzt werden. Doch um
vergangenen Zeiten nachzutrauern, bleibt China bei seiner rasanten
Entwicklung keine Zeit. Und so wundert es nicht, dass zwischen all den
interaktiven Museumselementen und großflächigen Ausstellungen eines fehlt:
ein Ort des Gedenkens an die Millionen Arbeiter, die von heute auf morgen
vor dem Nichts standen.
Im Jahr 1993 gab es im Nordosten Chinas laut offiziellen Statistiken drei
Millionen Arbeitslose, fünf Jahre später schon über 17 Millionen. In Tiexi
blieb kaum einer in seiner Anstellung. Zeitzeugen erzählen von etlichen
Selbstmorden in jener Zeit, Zahlen gibt es nicht. Es waren die Menschen,
die die Last der rasanten Modernisierung trugen, die Verlierer der Pekinger
Wirtschaftsreformen. Doch für Verlierer ist in China kein Platz. Peking
pumpt Milliarden in die Problembezirke. Shenyang ist die neue
Vorzeigestadt, aus der ehemaligen Dreckschleuder soll eine Öko-City werden.
Und sie ist auf einem guten Weg: Die Umweltbilanz hat sich rasant
verbessert.
Der Smog in Shenyang trübt deutlich seltener den Blick in den Himmel, heute
ist es der Baustaub, der für graue Nachmittage sorgt. Konnten die Menschen
in Shenyang im Jahr 2002 gerade einmal an 209 Tagen den Himmel sehen, waren
es 2011 schon 331 Tage. Beim Wandel der Stadt wird auf eine
umweltfreundliche Bauweise geachtet, alles soll grüner, energiesparender,
fortschrittlicher werden. Wo einst der Ruß der Kohleöfen die Luft
verschmutzte, sorgt heute Naturgas für saubere Wärme.
Eine der letzten Fabriken des alten Bezirks Tiexi ist die Northeast
Pharmaceutical Group am Rande des Bezirks, die ihre Produkte auch nach
Deutschland exportiert. Die Japaner errichteten sie im Jahr 1946, nun muss
sie auf Druck der Zentralregierung weichen. „Damals stand sie nicht wie
heute in einem Wohngebiet, sondern am Rande Shenyangs“, sagt Wang Yuan
Hang, stellvertretener Generaldirektor, der vor siebzehn Jahren nach
Shenyang kam. „Ich erinnere mich an den ersten Besuch meiner Eltern. Sie
fuhren vom Bahnhof aus einmal quer durch Tiexi, damals noch ein
heruntergekommenes Industriegebiet, in dem nur die armen Menschen lebten.
Am liebsten hätten sie mich wohl gleich wieder mit nach Hause genommen.“
Im Jahr 1998 kaufte er in Tiexi eine Wohnung direkt neben dem
Metallhüttenwerk. „Mein Appartement lag parallel zu dem Schornstein der
Fabrik. Ich habe die Wohnung damals nur gekauft, weil sie billig war.“ Drei
Jahre später wurde das Werk geschlossen, der Schornstein abgerissen. Wang
Yuan Yang konnte seine Wohnung zum doppelten Preis verkaufen.
## Erkaltete Schornsteine
Seit vier Jahren plant die Unternehmensspitze nun den Umzug des Betriebs,
spätestens 2016 soll er abgeschlossen sein. Etwa 180 Millionen Euro hat der
Neubau die Firma bislang gekostet. Die Betriebsfläche hat sich verdoppelt.
„Einen Teil der Kosten haben wir durch den Verkauf unseres Grundstücks an
die Regierung wieder reinbekommen“, sagt Wang Yuan Yang, „mehr staatliche
Unterstützung bekommen wir nicht.
Die restlichen Gelder werden aus dem Gewinn des Unternehmens und vom
Aktienmarkt generiert.“ Ein Großteil der Materialproduktion erfolgt bereits
in den neuen Hallen außerhalb der Stadt. Von den 9.000 Angestellten werden
alle an dem neuen Standort übernommen, Neueinstellungen wird es nicht
geben. Die meisten Arbeiter begrüßen den Wechsel, wenn auch nicht alle,
sagt Wang Yuan Hang.
Der stellvertretende Generaldirektor möchte keinesfalls als Kritiker
verstanden werden. „Der Umzug ist viel mehr als eine staatliche Auflage. Um
auf dem Weltmarkt konkurrieren zu können, müssen wir den hohen Ansprüchen
unserer Kunden gerecht werden und unsere neue Produktion noch
umweltfreundlicher gestalten.“ Ein paar Blocks weiter sind die Schornsteine
bereits erkaltet.
Die Fabrik, die einst den grauen Platz mit ihren dicken Stahlträgern und
ihrer massigen Statur beherrschte, wirkt heute inmitten Dutzender, in die
Wolken ragender Gebäude fehl am Platz. Die Hochhäuser umschließen die alte
Fabrikhalle, überragen weit ihr Dach, als würden sie das alte Bauwerk
verhöhnen. Graue Betonklötze, die neue Heimat für Tausende Bewohner
Shenyangs, zu viele, zu dicht gedrängt. Etliche stehen leer.
Doch die Menschen werden kommen, da sind sich die Stadtväter sicher. Die
Landflucht in China ist immens, die jungen Menschen zieht es in die
Großstädte. Offiziell leben sieben Millionen Menschen in Shenyang,
inoffiziell geht man bereits von neun Millionen aus. Tendenz steigend.
Unter dem Vordach der alten Fabrikhalle sitzt ein Mann in einem grauen
Mantel, brauner Hose, Baskenmütze. Einfache Klamotten, trotzdem hat der
Mann etwas Anmutiges. Seine Finger umschließen einen Bambusbogen, lassen
ihn über die Saiten einer Erhu gleiten, eines zweiseitigen
Streichinstruments, das von der Instrumentenführung an eine Geige erinnert,
jedoch viel schlichter ist.
## Die Luft ist besser
Er spielt mit bloßen Händen, bei Minusgraden. In seiner Wohnung kann er
nicht spielen, die Nachbarn würden sich beschweren. Ruhige Töne erfüllen
den Raum unter den alten Stahlstreben. „Vor zehn Jahren hat die Fabrik der
Großmaschinenkooperation geschlossen“, sagt Herr Ma, „nun haben sie hier
ein Museum und Kulturzentrum eröffnet, die Fabrik als Industriedenkmal
erhalten.“
Herr Ma hat jahrzehntelang als Metallarbeiter gearbeitet, zuletzt in einem
Elektrizitätswerk. Vor zwei Jahren ging er in Rente, damals war er 61 Jahre
alt. Er hat fast sein ganzes Leben in Tiexi verbracht hat – erst zum
Arbeiten, später dann auch zum Wohnen. Der pensionierte Metallarbeiter lebt
in einem der neuen Gebäude, die nach dem Abriss der alten Fabriken wie
Pilze aus dem Boden geschossen sind. „Viele Werke waren alt und in keinem
guten Zustand“, sagt Herr Ma, die neu gebauten Betriebe seien dagegen mit
den modernsten Technologien ausgestattet.
Die Luft in Tiexi sei heute viel besser, die Lebensbedingungen sind
komfortabler. Und die Zahlen geben ihm recht: Vor zehn Jahren lebte ein
Bewohner im Durchschnitt auf 12,2 Quadratmetern, 2011 war es fast das
Dreifache. „Früher kamen wir nur zum Arbeiten hierher, heute träumen viele
Menschen davon, hier zu wohnen.“
Leisten könne sich das jedoch nicht jeder, das Einkommen sei zwar
gestiegen, mit ihm aber auch die Preise. „Es kommen viele Fremde nach
Shenyang“, sagt Herr Ma, bewerten möchte er diese Entwicklung nicht.
„Damals hatten wir wenig Druck, alles wurde vom Staat und dem Betrieb
geregelt. Heute ist das Leben schneller, der Druck viel höher.“ Doch hier
unter den grauen Stahlstreben kann Herr Ma durchatmen. Er setzt die Erhu
auf sein Knie, nimmt den Bambusbogen in seine rechte Hand, schließt die
Augen und spielt.
7 Dec 2013
## AUTOREN
Kristin Oeing
## TAGS
China
Reiseland China
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