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# taz.de -- Die Bevölkerung wandert ab: Kampf um die 20.000
> Kein niedersächsischer Landkreis verliert jedes Jahr so viele Einwohner
> wie Osterode am Harz. In der Stadt werden die Folgen jetzt schon
> sichtbar.
Bild: Sanierungsbedürftiges Idyll: Osterrode im Harz.
OSTERODE taz | Tja, wo kann man sich hier morgens um elf Uhr treffen? Da
muss Winfried Seeringer überlegen. Nicht so leicht in Osterode. Ein Laden
fällt ihm dann doch ein, die Brasserie. Vorbei am Weihnachtsmarkt durch
einen Torbogen in eine kleine Passage. Das war mal einer der
Anziehungspunkte in der großen Fußgängerzone mit den vielen
Fachwerkhäusern. Hier gab es einen Haushaltswarenladen, ein Gartencenter,
ein Sportgeschäft bis der Betreiber pleiteging. Auch das große
Textilgeschäft am anderen Ende der Fußgängerzone ist passé. Der Eigentümer
starb und das Haus ist seit Jahren verwaist. 23 Geschäfte stehen derzeit in
Osterodes Innenstadt leer, geblieben sind Ketten wie Kik, McGeiz und
Ernstings Family oder alteingesessene Geschäfte wie der Staubsaugerladen
oder verstaubte Modeboutiquen. „Wenn Sie in der Innenstadt keine
Leuchttürme mehr haben, bleiben die Leute weg“, sagt Seeringer.
Der 68-Jährige hat bis vor anderthalb Jahren als Geschäftsführer für ein
Osteroder Unternehmen gearbeitet, das Gefriertrocknungsanlagen entwickelt
und herstellt. Er engagiert sich in der „Initiative Zukunft Harz“ (IZH),
einer gemeinsamen Initiative der Landkreise Goslar und Osterode am Harz mit
dem Ziel, die wirtschaftliche Talfahrt zu stoppen. Die Brasserie ist
gediegen und gut besucht. Seeringer grüßt eine Männerrunde am Nachbartisch.
Die meisten Gäste sind jenseits der 60 – kein Zufall.
Viele sind schon über 80
Niedersachsen schrumpft – und das am schnellsten im Landkreis Osterode.
Hier gibt es niedersachsenweit das höchste Geburtendefizit, die Menschen
sind überdurchschnittlich alt und hier leben überdurchschnittlich viele
über 80-Jährige. In der Stadt Osterode mit derzeit rund 23.000 Einwohnern
kann man sich die Folgen des schleichenden Schrumpfens auf kleinstem Raum
ansehen.
In den letzten 40 Jahren hat Osterode rund ein Viertel seiner Bewohner
verloren und das macht sich nun auch stadtplanerisch bemerkbar. Osterode
zieht sich zusammen, bereits ausgewiesene Neubaugebiete wurden kassiert und
neue wird es nicht geben. Eine ortsansässige Wohnbaugesellschaft hat Häuser
abgerissen und dafür neue altengerechte Wohnungen gebaut – mit
angeschlossenem Bringdienst für Medikamente oder Fahrdienst zum Arzt. Die
Kläranlage musste verkleinert werden, fünf der neun Grundschulen wurden
geschlossen und ein Teil der Fußgängerzone wurde aufgelöst. „Und wir nehmen
immer schneller ab“, sagt Seeringer. Eine Idee ist, die Menschen wieder in
die Innenstadt zu holen, leer stehende Ladengeschäfte sollen zu
barrierefreiem Wohnraum umgebaut und die denkmalgeschützte Innenstadt soll
saniert werden.
Seeringer ist in Osterode geboren, ging nach Berlin, kam 1977 zurück und
blieb. Die Regel ist eine andere. „Die Leute wachsen hier auf, gehen zur
Schule, verlassen die Stadt zum Studieren und kommen nicht wieder“, sagt
er. Zurück bleiben die Alten.
Die Spirale nach unten
Die Familie Herrmann ist so ein Fall. Der 73-jährige Hartmut Herrmann ist
hier geboren, pendelte bis zu seiner Pensionierung nach Hannover und
gründete dann 2005 die Osteroder Tafel. Vier Tonnen Lebensmittel verteilen
sie hier jede Woche an Bedürftige, haben eine Stiftung gegründet, um nah
der Innenstadt ein Haus für die Tafel zu kaufen. „Ich bin ein ganz
typischer Fall“, sagt er. „Alle meine fünf Kinder leben nicht mehr in
Osterode und sie werden auch nicht wiederkommen.“ Er könnte sich
vorstellen, in Göttingen zu wohnen. Auch weil in Osterode immer mehr
Geschäfte schließen und Dinge wie ein richtig schönes Café oder ein Kino
fehlten. „Das ist eine Schraube, die sich nach unten bewegt“, sagt er. Aber
sein Haus ist seit 1796 im Familienbesitz. „Das verpflichtet schon,
außerdem ist es wunderschön.“
Osterode zählt laut einer im November vorgelegten Studie des Nürnberger
Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zu Deutschlands
strukturschwächsten Regionen – auch der benachbarte Kreis Goslar gehört
dazu. Folgerichtig, dass sich der Landkreis Osterode gegen eine Fusion mit
dem Landkreis Goslar entschieden hat und lieber mit dem Kreis Göttingen
fusionieren wird. „Zwei arme Mäuse muss man nicht zusammenstecken“, sagt
Osterodes parteiloser Bürgermeister Klaus Becker, der 2004 auf dem Ticket
von SPD und FDP gewählt und fünf Jahre später wiedergewählt wurde.
Vorreiter bei negativen Zahlen
Das Rathaus liegt nur einen Steinwurf von der Fußgängerzone entfernt hinter
der hübsch sanierten Stadtmauer. Das Gebäude ist zwischen 1719 und 1722 als
Kornspeicher gebaut worden. Auf dem Weg zu Beckers Büro kann man erahnen,
wie schön das Gebäude mit den freiliegenden Holzbalken im Flur sein könnte,
wären da nicht die beige Tapete, die Plastikstühle und Plastiktürklinken
oder der graue Teppich. „Wenn ich mir den Regionalreport Niedersachsen 2012
anschaue, sind wir Vorreiter bei den negativen Zahlen – nur in einem Punkt
vorn und zwar bei der Sterberate“, sagt Becker. Das sei schon frustrierend,
der ländliche Raum verkümmere hier einfach.
Es sei schwierig, Firmen zu überzeugen, nach Osterode zu kommen, gleiches
gilt für Fachkräfte. „Wenn jemand auch ein Angebot aus Berlin und Stuttgart
hat, fällt die Wahl selten auf Osterode“, sagt er. „Wir werden eben weniger
und älter“, aber unter die 20.000-Einwohnergrenze wollen sie nicht sinken.
„Wir müssen das Image von der sterbenden Region loswerden“, sagt Becker
bevor er zum nächsten Termin muss. Der 15.000. Gast auf dem Osteroder
Campingplatz will begrüßt werden. „Das ist eine der Zahlen, die wirklich
nach oben gehen.“ Über Silvester ist der Campingplatz ausgebucht.
Mehr über verödende Städte und Landkreise lesen Sie in der Printausgabe
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14 Dec 2013
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## AUTOREN
Ilka Kreutzträger
## TAGS
Harz
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