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# taz.de -- Tanztheater: Tanz’ den Johann Wolfgang
> Choreograf Jörg Mannes zeigt an der Staatsoper Hannover Goethes
> „Wahlverwandtschaften“ als zeitlose Seelenschau.
Bild: Anziehung: Charlotte (Cássia Lopez) und Otto (Patrick Michael Doe) spren…
HANNOVER taz | Ein Paar guckt versonnen in die Ebene. Eduard und Charlotte
sind seit Jahren harmonisch verheiratet, hier draußen auf dem Land haben
sie ihr kleines Reich aufgebaut. Denken und fühlen gemeinsam, während sie
die Natur mit Gartenanlagen gestalten wollen. Ihr Tanz ist voller Harmonie,
aber wenn sie sich gemeinsam im Kreis umeinander bewegen, bleibt jede
Spannung aus. Die Idylle ist nicht von Dauer.
Choreograf Jörg Mannes bringt mit Goethes „Wahlverwandtschaften“ nach
Choderlos de Laclos’ „Gefährliche Liebschaften“ und Gustave Flauberts
„Madame Bovary“ erneut ein Stück Weltliteratur auf die Bühne der Staatsop…
Hannover. Vier Menschen treffen in Goethes Roman auf einem Landgut
zusammen. Eduard und Charlotte sind seit Jahren ein glückliches Ehepaar.
Die junge Ottilie und der vitale Otto sind attraktiv und frei. Wie in einem
naturwissenschaftlichen Experiment lässt Goethe die gegenseitige Anziehung
über das Korsett der Ehe triumphieren – und erzählt eine Vierecksgeschichte
über Begierde, Liebe und moralische Zwänge.
Die Probleme, die da aufgeworfen und verhandelt werden, seien „dieselben,
die uns auch heute betreffen“, findet Mannes. Wie gehen wir mit unserem
Partner um? Was passiert, wenn es nicht mehr so gut funktioniert in der
Beziehung? Wie löst man diese Situation? Ist sie überhaupt zu lösen?
„Heutzutage würde man das Midlife-Crisis nennen“, sagt Mannes. Wenn man in
das Alter kommt, in dem man denkt: War das jetzt schon alles oder kann ich
hier noch etwas Neues erleben?
Mannes will mit Tanz zeigen, was zwischen den Zeilen steht. „Was wir im
Tanz darstellen können, ist das emotionale Skelett, aber gleichzeitig auch
die emotionale Basis des Romans“, erklärt er die Unterschiede zwischen den
Medien Sprache und Tanztheater. In einem Roman sei es einfacher,
verschiedene Realitätsebenen herzustellen. In den „Wahlverwandtschaften“
habe er Goethes Versuchsanordnung noch etwas weitergedreht: „An bestimmten
Stellen haben wir vier Charlottes, vier Ottos, vier Ottilies und vier
Eduards, um die verschiedenen Ebenen des Bewussten und Unbewussten sichtbar
zu machen.“
Schlüsselszene dieser Seelenschau ist der Ehebruch im Ehebett. Während die
Verheirateten sich in einem hellen, klaren Lichtstrahl bemühen, beieinander
zu bleiben, treiben ihre Schatten ein erotisches Spiel. Charlotte und Otto,
Ottilie und Eduard finden sich in sehnsüchtigen Zärtlichkeiten, während die
Eheleute sich gleichzeitig nach der alten Harmonie suchend gegenüberstehen.
Schon bei Goethe schlafen Eduard und Charlotte miteinander, während sie an
Ottilie und Otto denken. In Mannes’ Fassung sind die Liebesspiele im
Ehebruch allerdings so konkret, dass die Grenzen verschwimmen. Es ist nicht
mehr ganz eindeutig, was hier real ist.
Gleichzeitig lenke er aber auch wie Goethe immer wieder vom Hauptgeschehen
ab, sagt Mannes. Manchmal lasse Goethe den Leser ein bisschen auf den
Fortgang der Geschichte warten und ziehe den Fokus breiter auf. „Das
probiere ich auf der Bühne auch herzustellen“, sagt Mannes.
Das Bühnenbild von Mathias Fischer-Dieskau erinnert an einen ungebrochenen
Naturzustand, mit weitem Ausblick und steinernem Steg – und auf der rechten
Seite einem großen, stilisierten Felsen. Auf der linken Seite allerdings
haben Charlotte und Eduard bereits Hand angelegt. Eine unfertige, eckige
Wand steht da, halb bemalt, halb roh – hier haben zwei versucht, die Natur
zu gestalten und zu unterwerfen.
Wie Insekten in einer Versuchsanordnung lässt Mannes die farblich leuchtend
markierten Menschen aufeinander los. Den roten Ehemann Eduard, seine grüne
Frau Charlotte, die leuchtend gelbe Ottilie und den blauen Otto. Bereits
beim ersten Kennenlernen finden sich im Tanz immer wieder Konstellationen
jenseits der tatsächlichen Verhältnisse. Dass in dieser Welt erotische
Ausschweifungen verboten sind, zeigen drei riesige Tische, die aus dem
Schnürboden herabschweben und die durcheinanderwuselnden Menschen fast
erdrücken.
Der Tisch ist bei Mannes ein Ort, an dem man sich benimmt – und
gleichzeitig versucht, aus seinen emotionalen Zwängen auszubrechen. Wie
sich einer wirklich fühlt, verrät aber oft die Körpersprache, auch
außerhalb des Balletts. Und Tanz sei eigentlich vergrößerte Körpersprache.
„Mit unseren Körpern drücken wir vieles aus, was wir mit unserer normalen
Sprache nicht ausdrücken“, sagt Mannes.
Im narrativen Tempo eines Kinofilms, begleitet vom Staatsorchester Hannover
und der Musik von Felix Mendelssohn Bartholdy, Wolfgang Amadeus Mozart und
Johann Sebastian Bach, gelingt an der Staatsoper so ein Abend von
beeindruckender Qualität. Choreograf Mannes schafft ein schillerndes
Psychogramm, dem die Zuschauer von der ersten bis zur letzten Minute
gebannt zusehen. Obwohl das Setting und die Musik zeitlos und ohne moderne
Bezüge daherkommen: Mit diesen Vorgängen auf der Bühne können offenbar auch
die Paare im Publikum etwas anfangen: Sie beklatschen auch ihre eigenen
verborgenen Leidenschaften; die eigenen unsichtbaren Schatten.
ALEXANDER KOHLMANN
## nächste Aufführungen: heute, 19.30 Uhr; 9. März, 18.30 Uhr; 30. März, 16
Uhr
25 Feb 2014
## AUTOREN
Alexander Kohlmann
## TAGS
Schwerpunkt Nationalsozialismus
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