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# taz.de -- Bibliotheks-Besuch VI: Im Adressrausch
> Mit Bit und Byte gegen die Zeit: Die Hamburger Staats- und
> Universitäts-Bibliothek ist ein Hotspot der Digitalisierung.
Bild: Die Hand eines Helden der digitalen Basisarbeit: Marc Rögener scannt Dan…
Büchereien demokratisieren das Wissen – aber gibt ihnen die
Wissensgesellschaft dafür auch die notwendigen Mittel? Strengen sie sich
selbst genug an, um aktuelle Kommunikationsräume zu bleiben? Die
taz.nord-Serie „lesen und lesen lassen“ sucht nach Antworten, vor Ort in
acht Stationen (zweite Staffel).
Das Lesen von Telefonbüchern gilt als langweilig. Als Synonym für sinnfreie
Beschäftigung. In der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek sind sie
nichtsdestoweniger das meist genutzte Medium.
Was sagt das über die Hamburger – und deren Bibliothek – aus? Dass sie beim
Digitalisieren auf die richtige Strategie setzen. 1,2 Millionen Zugriffe
auf die ins Netz gestellten Adress- und Fernsprechbücher verzeichnete der
Bibliotheksserver 2013. „Das ist die mit Abstand größte Nachfrage“, sagt
Jürgen Christof, Leiter der Hauptabteilung Digitales. Was früher nur vor
Ort als Rollfilm einsehbar war, ist nun frei verfügbar. Die Originale sind
physisch schon länger nicht mehr nutzbar.
Wer sich nun in die historischen Tiefen des Hamburger Adress-Universums
einklickt, hat Zugriff auf derzeit 465.000 eingescannte Seiten. Von 1787
bis 1966 ist hier Jahr für Jahr jede Hamburger Adresse erfasst, bis 1970
die Telefonnummern. Dazu kommen etliche Jahrgänge vom Beginn des 18.
Jahrhunderts, der älteste Teil ist das „Hamburger Gelehrtenverzeichnis“ von
1698.
Wer sich hier genau für was interessiert, weiß nur die NSA. Aber auch
Christof kann den IP-Adressen entnehmen, dass in allen Ecken der Welt das
Hamburger Adressbuch studiert wird: „Wir haben sehr viele Kontaktaufnahmen
aus den USA und Australien.“ Wobei Ahnenforschung allein wohl kaum 1,2
Millionen Zugriffe generiert. „Ich weiß nicht“, sagt Christof, „was die
Leute treibt.“
Was die Hamburger Digitalisierungs-Offensive von denen anderer Bibliotheken
unterscheidet, ist die hervorragende Nutzbarkeit der Digitalisate im Netz.
Anders gesagt: die große Mühe, die sich die BibliothekarInnnen bei der
Erschließung des Materials geben. Von jeder Seite der Adressbücher ist der
jeweils erste alphabetische Eintrag manuell erfasst – sonst wäre ein
zielgenauer Zugriff nicht möglich. In Zeiten der Volltext-Suche ist das
deshalb erforderlich, weil die Buchstaben zu klein und verwaschen sind, um
präzise automatisierte Treffer zu ermöglichen.
Wie aber kommen solche Unmengen an historischen Seiten überhaupt ins Netz?
Indem sie zum Beispiel durch die Hände von Marc Rögener gehen. Der
Mitarbeiter der Medienwerkstatt sitzt vor einem rund 30.000 Euro teuren
Scanner, vor sich ein fleckiges Bändchen mit stark vergilbten Seiten. Was
er da gerade in Arbeit hat? „Da muss ich selber mal gucken“, sagt Rögener,
und entziffert das Titelblatt: „De Patavinitate Liviana Liber von Danielis
Georgi Morhofi, 1684“. Morhof, einer der Begründer der Allgemeinen
Literaturgeschichte, hätte sich für seine Weiterverarbeitung auf dem
Scanner sicher brennend interessiert – als Kieler Oberbibliothekar hatte er
mit dem Erhalt seiner Folianten selbst erhebliche Mühen.
Der Morhof-Band gehört zu einem Konvolut von 1.500 Drucken des 17.
Jahrhunderts, das die Bibliothek bis Ende des Jahres elektronisch erfasst
haben will. Dann, so sagt der Digitalisierungs-Fahrplan, ist das 18.
Jahrhundert dran. Aber auch in Richtung Vergangenheit ist noch reichlich
Luft: Derzeit bereite er die Digitalisierung von 1.000 altägyptischen
Papyri vor, sagt Ulrich Hagenah, der neben den Hamburgensien auch die
ethnologischen Sammlungen der Bibliothek betreut. Rögener ist derweil auf
Seite 115 von „De Patavinitate“ angekommen. Was immerhin die Hälfte ist.
Seit 1995 surren in der Hamburger Bibliothek die Scanner. Mittlerweile gibt
es Modelle, die den bionischen Zeigefinger zum Umblättern selbst
mitbringen. Aber die kommen nur zurecht, wenn die Bindung nicht zu eng ist.
Außerdem muss die Papierqualität sehr konstant sein. „Andernfalls braucht
man eben doch Menschen mit Fingerspitzen-Gefühl“, sagt Christof. Und mit
Geduld.
Und die Geschwindigkeit? Scan-Roboter sollen 1.500 Seiten pro Stunde
schaffen. Christof hält das jedoch für „einen typischen Hersteller-Wert“.
Die Erfahrung zeige: „Wenn die Geräte stündlich 800 Seiten verarbeiten, ist
das ein guter Schnitt.“ Was Rögener im Übrigen auch hinbekommt – und dabei
bemerkenswert zufrieden wirkt.
„Wir setzen auf Klasse statt Masse“, sagt Christof selbstbewusst. Es gibt
durchaus auch andere Digitalisierungs-Strategien: Die Bayerische
Nationalbibliothek beispielsweise profiliert sich durch die Zusammenarbeit
mit Google. Gemeinsam bemüht man sich um die Erfassung von einer Million
Anthologien des 18. und 19. Jahrhunderts. Allerdings ohne spezifische
Erschließung, sondern zum digitalen Durchblättern. Morhofs „De
Patavinitate“ haben die Münchener übrigens auch gescannt. „Doppelungen
lassen sich leider nicht immer vermeiden“, kommentiert Christof.
Rögeners Kollegin hat nun eine großformatige historische Hamburg-Karte in
den Fingern, sie sitzt an einem Spezialgerät, für das die Bibliothek
100.000 Euro investiert hat. „Digitalisierung ist ein teures und
aufwendiges Geschäft“, sagt Christof. Vom Projekt-Status habe sie sich nun
gelöst und sich als „ein Kerngeschäft des bibliothekarischen Alltags“
etabliert. Diese neuen Schwerpunktsetzungen mitsamt Stellenumwidmungen
zugunsten der Digitalisierung sind für einige Mitarbeiter durchaus
gewöhnungsbedürftig.
Im Raum steht die Frage: Taugen Digitalisate tatsächlich zur dauerhaften
Archivierung? Bei Experten ist das umstritten. Bislang galt Mikroverfilmung
als Mittel der Wahl, Christof setzt auf einen Mix: „Man kann sich nicht
zuverlässig auf ein einziges Verfahren verlassen.“ Deswegen würden in
seinem Haus sowohl Digitalisate ausbelichtet als auch Mikrofilme gescannt.
Neben dem Digitalisierungs-Fahrplan haben die Hamburger einen „Masterplan
Entsäuerung“. Je höher der Holzanteil im Papier, desto verheerender sind
die chemischen Prozesse, die ein alt gewordenes Buch von innen her
zerfressen. Um fit für den Scanner zu sein, muss ein Druck oftmals zuerst
in die Entsäuerung – was pro Werk mit 15 bis 20 Euro zu Buche schlägt.
Jährlich stehen dafür 800.000 Euro zur Verfügung. Eine Größenordnung, wie
sie auch für die Digitalisierung investiert wird.
Doch während die Massenentsäuerung bis ins Erscheinungsjahr 1990 schon
weitgehend abgeschlossen wurde, ist die Welt der Digitalisierung noch
voller Neuland. Das späte 19. und das gesamte 20. Jahrhundert seien sogar
„digitales Niemandsland“, sagt Christof. Das liegt nicht nur an
Kapazitätsgrenzen. Sondern auch am Urheberrecht, das sich erst Anfang des
Jahres gelockert hat. Bis dahin waren „verwaiste“ Werke, deren Verfasser
oder Erben nicht ausfindig gemacht werden können, grundsätzlich von der
Digitalisierung ausgeschlossen. Der Deutsche Bibliotheksverband musste
lange für seine Forderung kämpfen, „auch diese verborgenen Schätze in die
digitale Welt überführen zu dürfen“. Nun dürfen die Bibliotheken – und
müssen sich die dafür erforderlichen Mittel suchen.
Noch sind die Adress- und Fernsprechbücher das unangefochtene Flaggschiff
der Hamburger Elektronik-Offensive. Eine ähnliche Dimension könnte
demnächst jedoch die Digitalisierung von acht historischen Hamburger
Zeitungen bekommen. Fünf Millionen Seiten sollen ins Netz, die ersten 2,5
Millionen noch dieses Jahr, ausgestattet mit komfortablen Suchfunktionen.
Nicht wenige Wissenschaftler warten mit ihren Forschungsprojekten bereits
auf die Freischaltung – und auch hier ist ein ähnlich durchschlagender
Überschneidungs-Effekt wie bei den Adressbüchern zu erwarten: Normalbürger
und Fachleute stürzen sich auf denselben Stoff.
Daher wäre das EU-geförderte Zeitungsprojekt eigentlich ein Fall für
ergänzendes Crowd Funding. Schon für die 465.000 Adressbuch-Seiten haben
die Bibliothekare passende Sponsoren gefunden: Die in Utah/USA sitzende
Genealogical Society – und die Gesellschaft für Erbenermittlung mbH.
## Nächste Folge: Das zähe Ringen der Bremer Stadtbibliothek um die
Sonntags-Öffnung
28 Feb 2014
## AUTOREN
Henning Bleyl
## TAGS
Bibliothek
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