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# taz.de -- Mehr Menschlichkeit für Schwerkranke: Formulare im Angesicht des T…
> Die Bürokratie, die zermürbend langsam arbeitet, sollte Schwerkranken
> erspart bleiben. Ein Plädoyer für eine neue Verwaltungsethik.
Bild: Die Verwaltungen stehen zeitlich weniger unter Druck als Sie mit Ihrer le…
Jedem kann das passieren: Sie werden im Krankenhaus untersucht, weil Sie
Sprach- und Gleichgewichtsstörungen haben. Bis dahin fühlten Sie sich im
Prinzip kerngesund und fit. Nach zwei Stunden Routineuntersuchung des
Oberkörpers und Kopfes in einem MRT-Gerät eröffnet der Oberarzt Ihnen, dass
Sie eine sehr aggressive Form von Lungenkrebs haben, der sich bereits
ausgebreitet hat. Neben dem Tumor in der Lunge befinden sich Metastasen in
der Leber und drei Tumore im Hirn von beträchtlicher Größe.
Um keine Zeit zu verlieren, wird seitens des Krankenhauses unverzüglich ein
Therapieplan entwickelt. Unbehandelt schätzen die Ärzte die verbleibende
Lebenszeit auf maximal drei Monate. Vieles wird Ihnen nun durch den Kopf
gehen. Was wird bloß aus den Kindern, die noch in diesem Jahr eingeschult
werden?
Aber verschwenden Sie nicht allzu viel Zeit mit Trübsal. Bevor Sie in
Tränen ausbrechen, sollten Sie zuerst Ihre Arbeitsunfähigkeit der
Krankenkasse und Ihrem Arbeitgeber melden. Sonst ist Ihr Konto rasch leer.
Achten Sie peinlich genau darauf, dass die
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, die Sie der Krankenkasse vorlegen,
lückenlos sind. Der Sozialdienst des Krankenhauses stellt den Erstkontakt
zur Krankenkasse her, so dass Ihnen zumindest schon mal die Formulare
zugeschickt werden.
## Formulare, Formulare
Um Formulare wird es im Weiteren ständig gehen. Beantragen Sie rasch eine
Pflegestufe bei der Krankenkasse. Dann wird Sie jemand vom MDK, dem
Medizinischen Dienst der Krankenversicherungen, besuchen und begutachten.
Sie müssen allerdings den Termin organisieren.
Genau wie den Antrag auf einen Schwerbehindertenausweis. Für den waren in
Nordrhein-Westfalen bis zu deren Auflösung die Versorgungsämter zuständig,
jetzt ist es eine städtische Dienststelle, in Köln mit dem Sachgebiet
„Feststellungsverfahren nach Schwerbehindertenrecht“. Auch hierfür gibt es
Formulare, die mit einem Passbild in genau definierter Größe
vervollständigt werden müssen, das selbstverständlich ganz aktuell zu sein
hat. Haben Sie solche Passbilder etwa nicht stets griffbereit?
Vergessen Sie nicht, einen Antrag für eine Haushaltshilfe bei der
Krankenkasse zu stellen. Machen Sie sich auf einige Verzögerung gefasst,
wenn Sie und Ihr Ehepartner bei unterschiedlichen Kassen versichert sind
und sich keine von beiden zuständig fühlt.
Planen Sie locker eine Woche und mehr ein, bis Sie diese bürokratischen
Prozesse angeschoben haben. Bei einer eingeleiteten stationären
Krebsbehandlung mit Chemo- und Strahlentherapie eine sportliche
Herausforderung. Achtung: Erwarten Sie bitte nicht, dass Verwaltungen
ähnlich hoch getaktet reagieren, wie sich Veränderungen für Ihre Familie
und Sie stündlich einstellen.
## Die Verwaltungen stehen zeitlich weniger unter Druck
Sie müssen ausreichend Zeit einräumen für Prüfungen, Bewertungen und
Entscheidungen. Schließlich begehren Sie Hilfen und nicht umgekehrt. Dass
Ihre Sanduhr dabei leerläuft, liegt in der unglücklichen Verteilung von
„einem tragischem Schicksal“ – so nennen es die Ärzte – auf Ihrer Seit…
Verwaltungen, die möglichst rechtskonform handeln wollen. Und dabei
zeitlich weniger unter Druck stehen als Sie mit Ihrer lebensbedrohlichen
Diagnose.
Trösten Sie sich damit, dass Sie schon 50 geworden sind und sich bislang
bester Gesundheit erfreuen konnten. Den besorgten Blicken der Familie
begegnen Sie am besten optimistisch und sagen, dass Hilfen ja gewährt
werden. Und dann ziehen Sie sich zurück, um weitere Formulare auszufüllen.
Können bürokratische Abläufe in schwierigen Lebenslagen nicht vereinfacht
werden? Der Arzt, der zuvor von seiner Schweigepflicht entbunden wurde,
könnte bei lebensbedrohlichen Erkrankungen einfach den ICD-Code, den
Diagnoseschlüssel, übermitteln.
Die Nachricht, dass bei dem krankenversicherten Patienten C34.9, eine
bösartige Neubildung in der Lunge, und C79.3, sekundäre bösartige
Neubildungen im Gehirn, diagnostiziert sind, sollte den Verwaltungsapparat
doch in Gang bringen, um dem zahlenden Mitglied der Kasse sofort alle
möglichen Hilfen vorzuschlagen: die Übernahme der Fahrtkosten bei
ambulanten Behandlungen, Krankengeld, die richtige Pflegestufe oder eine
Betreuung der Kinder durch den psychosozialen Dienst des Jugendamtes.
## Wochen verstreichen
Es könnte so einfach sein: Der Patient erteilt sein Okay für die Angebote,
die er wahrnehmen will, und die Krankenkasse leitet dann routiniert die
nötigen Schritte eigenständig ein.
Die Praxis sieht ganz anders aus: Selbst wenn es gelungen ist, einen Antrag
für eine Haushaltshilfe auszufüllen, ist das keine Gewähr, dass die
Krankenkasse reagiert. Erst nach diversen Anrufen ist zu erfahren, dass
weitere Unterlagen wie Arztbriefe fehlen. Statt das umgehend mitzuteilen,
damit sie rasch nachgereicht werden können, lässt die Kasse Wochen
verstreichen. Wie praktisch: In solchen Aussitz- und Schweigezeiten
entstehen keine Kosten für die Krankenversicherung.
Sobald das erste Geld geflossen ist, warten weitere Formulare.
Multiple-Choice-Fragebögen wünschen Kreuzchen an der richtigen Stelle, die
ersichtlich machen sollen, wer was wann und bei wem an finanzieller
Unterstützung beantragt hat oder ob schon Geld überwiesen wurde. Was würden
sich die Verwaltungen der Krankenkassen, Kommunen und Rentenversicherungen
vergeben, wenn sie ihre Hilfsangebote synchronisieren und im Krisenfall
leicht abrufbar machten? Eigentlich kann eine solche Vernetzung kein
Problem sein.
Vieles spricht für eine neue Verwaltungsethik, für Menschlichkeit bei
bürokratischen Vorgängen im Angesicht des Todes. Denn es sind Steuergelder
und Krankenkassenbeiträge, die diese Verwaltungen finanzieren. Sie könnten
Empathie zeigen, statt Patienten zu kontrollieren und ihnen zu misstrauen.
Denn so stellt sich das Gefühl ein, sie fühlten sich von Betrügern
umzingelt – eine fast phobische Verallgemeinerung. Eine einfache Meldung
der Diagnose unter Verzicht auf seitenweise Formulare – das würde
Betroffene und ihre Familien ungemein entlasten.
Die Bürokratie, die zermürbend langsam ihre Vorgänge abarbeitet, sollte
Schwerkranken erspart bleiben. Ihre knapp bemessene Lebenszeit sollte ihnen
nicht von Verwaltungsvorschriften genommen werden.
17 May 2014
## AUTOREN
Wolfgang Jorzik
## TAGS
Bürokratie
Krebs
Ärzte
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