# taz.de -- Selbstjustiz in Baden-Württemberg: Bluttat unterm Ahornbaum | |
> Ein mutmaßlicher Vergewaltiger wird von Familienangehörigen des Opfers in | |
> eine Falle gelockt und erstochen. Ein Lynchmord? | |
Bild: Zwischen Feierabendverkehr auf Schiene und Straße: der Tatort mit Markie… | |
MÜLLHEIM taz | Im verdorrten Gras sind mit weißer Sprühfarbe die | |
Blutflecken eingekreist, fünf Flecken unter einem Ahornbaum. Jeder | |
Autofahrer, der aus Freiburg kommt und an der Autobahnausfahrt | |
Müllheim/Neuenburg von der Autobahn A 5 abfährt, blickt genau auf diesen | |
Pendlerparkplatz. Der 17-jährige A. aus dem Städtchen Müllheim im Kreis | |
Breisgau-Hochschwarzwald gibt zu, hier am vergangenen Mittwoch einen | |
27-jähriger Mann mit 23 Messerstichen getötet zu haben. Offenbar eine | |
Vergeltung: Eine Woche zuvor hat der 27-Jährige mit großer | |
Wahrscheinlichkeit A.s Schwester vergewaltigt. | |
Die Tat liegt jetzt 48 Stunden zurück. Es ist Freitagabend, viel Verkehr. | |
Alle paar Minuten fahren Autos auf den Parkplatz, der zwischen einer | |
vielbefahrenen Straße mit Radweg und Bahngleisen liegt. Sie kommen wegen | |
der Tat. Aus einem schwarzen Mercedes steigen zwei Kriminalpolizisten. „Wir | |
wollten uns die Topografie des Ortes noch mal ansehen“, sagen sie. | |
Eine Neuenburgerin ist zufällig in der Gegend und hält an. „Dass hier so | |
was passiert!“ Zwei Jungs steigen von ihrer Crossmaschine, rufen: „Wir | |
kennen den 17-Jährigen und die Schwester.“ Ein Ehepaar mit Hund, Eis und | |
zwei Kindern fahren im Van vor. Einer sagt: „Schau, da haben sie ihn | |
abgestochen.“ | |
Sie kommen, um den Tatort vor der Haustür zu sehen statt nur im Fernsehen. | |
Der Fall fühlt sich für die meisten Leute weit weg an, wie aus einer | |
anderen Welt, in der Ehre mehr gilt als Paragrafen und Rechtsstaat. Der | |
Fall von Selbstjustiz macht seit Donnerstag die Runde. Die Menschen in der | |
Region sind überrascht, aber nicht betroffen. Insgeheim spüren manche von | |
ihnen einen gewissen Thrill, sogar Faszination. Vor allem im Internet wird | |
bewundert, wie einer als mutiger Rächer der Schwester hat Gerechtigkeit | |
walten lassen. | |
## "Selbstjustiz ist ein Tabu" | |
„Selbstjustiz ist in unserer Rechtsordnung ein absolutes Tabu“, entgegnet | |
der leitende Oberstaatsanwalt. Dem Jugendlichen drohen bei einer | |
Verurteilung wegen Mordes bis zu 10 Jahre Haft, bei besonderer Schwere der | |
Schuld sogar 15 Jahre. | |
Den Anfang nahm das Drama am 12. Juni, als ein Mann in Müllheim eine | |
26-jährige Frau auf einem Feldweg vergewaltigte. Nach Angaben der Polizei | |
habe die 26-Jährige den Täter als einen ehemaligen Mitschüler | |
identifiziert. Noch am selben Tag zeigte sie ihn an. Die Spurenlage muss | |
recht eindeutig gewesen sein, sofort ergeht Haftbefehl. „Große Wut“ habe | |
die Tat in der Familie der Vergewaltigten ausgelöst, vor allem beim | |
17-jährigen Bruder A. | |
In Müllheim erzählt man, A. habe gleich angekündigt, er werde den Mann | |
finden und bestrafen. Die Polizei will davon nichts gewusst haben. Sie | |
fahndete derweil nicht öffentlich nach dem Täter, aus Angst, er könnte | |
sonst abtauchen. Er soll keine Wohnung gehabt, sondern bei Bekannten in | |
Frankreich gelebt haben. Wegen Diebstahls war er vorbestraft, war schon | |
mehrfach im Knast und galt als gewalttätig. | |
## Ergebnislose Fahndung | |
Eine ganze Woche ging ins Land, die Fahndung brachte keinen Erfolg. Doch am | |
Mittwoch meldete sich der Flüchtige bei einem 21-jährigen Müllheimer und | |
fragt, ob er Haschisch für ihn habe. Der 21-Jährige gab sofort seinem | |
Kumpel A. Bescheid. | |
Nach Informationen der Staatsanwaltschaft wurde der mutmaßliche | |
Vergewaltiger auf Geheiß von A. auf den Pendlerparkplatz gelockt, um den | |
Drogendeal abzuwickeln. Beim Treffen am Mittwochabend warteten auf ihn der | |
Kontaktmann, A. und auch der Vater der vergewaltigten Frau. Ein 18-Jähriger | |
soll auch noch dabei gewesen sein oder sich zumindest in der Nähe | |
aufgehalten haben. | |
Aus einem vorbeifahrenden Zug hat eine Reisegruppe die Auseinandersetzung | |
gesehen und die Polizei gerufen. Auch Passanten baten einen Radfahrer | |
darum, einen Notruf abzusetzen. Wenig später versuchten Rettungskräfte, den | |
27-Jährigen zu reanimieren. Doch einige der 23 Messerstiche hatten Herz und | |
Lunge verletzt. Der Mann starb am Pendlerparkplatz. Die Täter waren | |
geflüchtet. | |
## "Total erschüttert" | |
Doch der 21-jährige Kontaktmann beichtete zu Hause seinen Eltern umgehend | |
die Tat. Diese informierten die Polizei. „Total erschüttert“ sei der junge | |
Mann gewesen, berichtet die Polizei später. Noch am Abend wurden der | |
21-Jährige, sein Freund A. und dessen Vater festgenommen. Seitdem sitzen | |
sie in U-Haft. | |
Alle Beteiligten sagen zur Tat aus, widersprechen sich aber nach | |
Polizeiangaben deutlich. Nach Angaben der Ermittler hat A. bereits | |
eingeräumt, auf den 27-Jährigen „mehrfach eingestochen zu haben“. Die | |
Staatsanwaltschaft geht nicht davon aus, dass der Streit eskaliert ist, | |
sondern dass die Tat geplant war. Das Tatmesser wurde bisher nicht | |
gefunden. Den drei Männern wird gemeinschaftlicher Mord vorgeworfen. Beim | |
vierten Mann wisse man nicht, inwiefern er „von den Tötungsabsichten der | |
anderen Beteiligten wusste“, teilt die Staatsanwaltschaft mit. | |
Viele Fragen sind noch völlig offen. Sollte der mutmaßliche Vergewaltiger | |
nur verprügelt und dann der Polizei übergeben werden? Oder gab es einen | |
Plan? Wenn ja, was wussten Vater und Freunde davon? Warum war der Vater | |
überhaupt mit dabei? Und warum traf man sich dann auf einem gut sichtbaren | |
Platz? Dass die bislang unbescholtene Familie die Tat gemeinsam geplant und | |
den 17-Jährigen vorgeschickt habe, weil er als Jugendlicher die geringste | |
Strafe zu erwarten hat – dafür gebe es keinen Hinweis, teilt die | |
Staatsanwaltschaft mit. | |
## Bekenntnisse auf Facebook | |
Die vergewaltigte Schwester lobte inzwischen ihren Bruder auf Facebook. | |
Noch am Tatabend schrieb sie: „Ich liebe dich A. du bist der beste bruder | |
den man sich wünschen kann“. Am Sonntag aktualisiert sie ihr Profilbild. Es | |
ist eine Collage aus einem Bild von sich – sie hat lockiges schwarzes Haar | |
und dünne Augenbrauen, ist dezent geschminkt – und von A. Am Sonntagabend | |
ist ihre Seite nicht mehr abrufbar. | |
In Müllheim sitzen auf dem Hof zwischen Realschule und Gymnasium sieben | |
Jungs im Schatten großer Bäume. Sie trinken Eistee, andere Durstlöscher, | |
rauchen und produzieren Spuckeflecken vor sich auf dem Boden. Die Jungs | |
kennen A. „Ich weiß jetzt nicht, welche Schuhgröße er hat, aber wir kennen | |
ihn“, sagt einer, den sie „Chef“ nennen. Er zeigt ein Facebook-Bild von A. | |
auf seinem Smartphone. Der Bildschirm ist gesplittert. A. sei eher klein | |
und kompakt, kein aufgeblasener Kraftprotz oder so. Ein ruhiger Typ, nicht | |
aggressiv. | |
Ob A. in Neuenburg gewohnt hat, wo die Tat passiert ist, oder doch bei der | |
Schwester in Müllheim? Darüber sind sich die Jungs uneins. „Komische | |
Familie, jeder hat woanders gewohnt“, sagt einer. Der Vater, ein Libanese, | |
lebt nach Angaben der Polizei nicht in der Region Müllheim. A. ist demnach | |
in Deutschland geboren und hat die deutsche Staatsbürgerschaft. Die Jungs | |
erzählen, er habe bis Sommer 2013 für ein Jahr bei seinen Eltern im Libanon | |
gelebt, sei dann aber wieder nach Müllheim zurückgekommen. | |
## Spötteln über die Polizei | |
Hier auf dem Schulhof wird nicht viel diskutiert. Was die Bluttat angeht, | |
sind sie einer Meinung. „Er hat das Richtige gemacht. Ich geb ihm die Hand, | |
wenn er rauskommt“, sagt der „Chef“. Schuld an allem sei die Polizei. „… | |
die was unternehmen, brauchen sie eine Genehmigung für dies, eine | |
Genehmigung für das. Wahrscheinlich brauchen sie noch eine Genehmigung, um | |
ihm Handschellen anzulegen.“ | |
Vor allem auf Facebook wird ausgiebig kommentiert. Ein DJ aus der Region | |
mit über 3.600 Facebook-Freunden hat eine Diskussion angestoßen. Der Nutzer | |
„VP Andy“ bekommt sieben Likes für seinen Kommentar: „bei so einer | |
regierung, bzw justiz hilft nur selbstjustiz!!!!! die sind viel zu sehr mit | |
raubkopierern und falschparkern beschäftigt! das war endlich mal ein | |
zeichen …“ | |
Aber auch kritische Töne sind zu lesen. Eine „Sabrina“ schreibt, dass das | |
Mädchen ihre Familie jetzt wohl dringend brauchen würde, aber Vater und | |
Bruder der Vergewaltigten sitzen nun selbstverschuldet im Knast. „Eine | |
ganze Familie wurde nicht nur durch die Tat dieses Mannes zerstört, sondern | |
auch durch diese Selbstjustiz.“ | |
## "Bei denen" aus dem Libanon | |
In Müllheim sind die Leute zurückhaltend. Am Samstagmorgen kauft man auf | |
der großen Hauptstraße ein, wo am Mittwoch Vater und Bruder festgenommen | |
worden sein sollen. Ein älteres Ehepaar sitzt mit der Zeitung auf einer | |
Bank. „In einer Kleinstadt ist es nicht die Regel, dass ein Mord passiert. | |
Es war das erste Thema, als wir vorhin Bekannte getroffen haben“, sagt die | |
Frau. | |
Ihr Mann hat von der libanesischen Herkunft der Familie gelesen und spricht | |
von „Ehrenmord“. Er mutmaßt: „Ehrgefühl spielt bei denen eine andere Ro… | |
Selbstjustiz ist für die nicht so unmöglich wie für uns.“ Betroffenheit | |
empfinden sie nicht unbedingt. | |
Anders sei das damals gewesen, als vor sieben Jahren ein 13-jähriges | |
Mädchen überfallen und ermordet worden ist. Eltern hätten die Kinder nur | |
noch privat zur Schule gefahren, aus Angst. Außerdem sei das Mädchen ja | |
„eine Hiesige“ gewesen. | |
## Eine Frage der Ehre? | |
Ein „Ehrenmord“? Keinesfalls, sagt Dietrich Oberwittler vom | |
Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in | |
Freiburg. Bei diesem Phänomen komme es zur Tötung innerhalb der Familie, um | |
eine empfundene Ehrverletzung wettzumachen. „Hätte die Familie das | |
Vergewaltigungsopfer umgebracht, wäre das der klassische Ehrenmord.“ Die | |
Tat von Müllheim sei „extrem selten“, sagt Oberwittler. | |
Die Bürgermeisterin von Müllheim schweigt. Der katholische Pfarrer spricht | |
von einer „mindestens zweiseitigen menschlichen Tragödie“ und will weiter | |
nichts sagen. | |
Drei Tage nach der Tat sind die Kreide und das getrocknete Blut noch zu | |
sehen. Kein Regen hat die Spuren fortgespült. Unzählige Heuschrecken hüpfen | |
durch das Gras. Doch es gibt jetzt weniger Schaulustige. Wieder kommen die | |
beiden Jungs, die die Familie kennen, auf ihrer Crossmaschine angefahren. | |
„Wie die ganzen Missgeburten hier herüberschauen“, schimpft einer über die | |
Autofahrer. Wortlos gehen sie zum Ahornbaum. | |
24 Jun 2014 | |
## AUTOREN | |
Lena Müssigmann | |
## TAGS | |
Mord | |
Selbstjustiz | |
Baden-Württemberg | |
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