# taz.de -- Roma-Frauen gegen Stigmatisierung: „Man muss uns die Chance geben… | |
> Die Ressentiments gegen Sinti und Roma sind einer aktuellen Umfrage | |
> zufolge sehr groß. Gegen dieses Stigma wehren sich Hamburger | |
> Roma-Frauenl. | |
Bild: Anfang der 90er teilten sich im Hamburger Karoviertel bis zu 15 Roma eine… | |
HAMBURG taz | 10 Uhr, Unterricht: Acht Frauen sitzen um den Tisch herum und | |
beugen sich über die Übungsblätter. Kleine Zeichnungen von Gegenständen | |
sind darauf abgebildet, daneben stehen einzelne Silben. „Eine Silbe ist zu | |
viel“, erklärt die Pädagogin Regina Bakar. „Die restlichen bilden das Wor… | |
das den Gegenstand daneben beschreibt.“ Die Schülerinnen müssen diese | |
überschüssige Silbe bestimmen und mit den übrigen das gesuchte Wort | |
zusammensetzen. | |
Die Frauen sitzen nicht in einer Schule. Sie sitzen in der Beratungsstelle | |
Karola im Hamburger Karolinenviertel. Karola wurde vor 30 Jahren als | |
internationaler Treffpunkt für Frauen und Mädchen gegründet und heute | |
kommen jedes Jahr gut 50 Roma-Frauen in die Einrichtung. Sie lassen sich | |
hier etwa beim Umgang mit Behörden beraten oder sie kommen wie die Frauen | |
in Bakars Kurs mehrmals die Woche, um lesen und schreiben zu lernen. | |
Während Bakar noch die Übung erklärt, hat Melissa* bereits die Hälfte des | |
Übungsblattes ausgefüllt. „Was soll denn die Nummer 10 darstellen?“, fragt | |
sie in die Runde. Die Frauen um sie herum reagieren nicht, sie sind mit dem | |
Ausfüllen der Blätter beschäftigt. | |
## Nachholen, was sie als Kinder verpasst haben | |
Melissa kommt seit fünf Monaten viermal in der Woche in die Beratungsstelle | |
Karola. Neben der Lernwerkstatt für Lesen und Schreiben besucht sie einen | |
Grundkurs, in dem sie Rechnen lernt. Melissa Eltern sind während des | |
Jugoslawienkriegs nach Deutschland geflüchtet, da war sie noch ein kleines | |
Kind. Sie ist in Hamburg aufgewachsen, hat aber nie eine Schule besucht. | |
„Meine Eltern haben es mir freigestellt, ob ich gehen will oder nicht“, | |
sagt sie. Sie ging nicht. Nun will sie mit 31 Jahren nachholen, was sie als | |
Kind verpasst hat. | |
Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren drei Söhnen in einer | |
Zwei-Zimmer-Wohnung in Hamburg-Horn. Die Kinder schlafen zusammen in einem | |
Zimmer, die Eltern auf dem Klappsofa im Wohnzimmer. Seit Jahren ist die | |
Familie auf der Suche nach einer größeren Wohnung – bisher ohne Erfolg. | |
Solche Lebensgeschichten können viele Roma-Frauen bei Karola erzählen. Sie | |
sind in den 1980er-Jahren als Gastarbeiterinnen hergekommen oder in den | |
1990er-Jahren vor dem Krieg auf dem Balkan nach Deutschland geflohen. Viele | |
von ihnen wurden in ihrer Heimat diskriminiert oder verfolgt – und aus | |
diesen Erfahrungen rührt ein großes Misstrauen gegenüber staatlichen | |
Institutionen wie der Schule. | |
Als die Beratungsstelle Karola in den 1990er-Jahren gegründet wurde, war | |
das Misstrauen zwischen den deutschen Bewohnern des Karolinenviertels und | |
den Roma-Flüchtlingen, die bei Verwandten im Karolinenviertel untergekommen | |
waren, groß. „Große soziale Spannungen“ hätten das Viertel damals vor ei… | |
„harte Zerreißprobe“ gestellt, beschreibt es der Verein heute rückblicken… | |
Aber es sei mittlerweile gelungen, das Vertrauen vieler Roma-Familien zu | |
gewinnen. | |
Es gibt keine offiziellen Zahlen darüber, wie viele Roma in Deutschland | |
Analphabeten sind. Eine repräsentative Studie der Organisation Romnokher | |
von 2011 über die Bildungssituation von Sinti und Roma kommt aber zu dem | |
Schluss, dass 18 Prozent der 26- bis 50-Jährigen nie zur Schule gegangen | |
sind. 44 Prozent besuchten zwar eine Schule, haben aber keinen Abschluss | |
gemacht. | |
Bei der jüngeren Generation ist das Bildungsniveau höher: Neun Prozent der | |
bis 25-Jährigen haben keine Schule besucht. Trotzdem bleiben Hürden | |
bestehen – und je schlechter die Bildung der Eltern, desto schwerer haben | |
es ihre Kinder in der Schule. „Wenn ich meinem jüngsten Sohn nicht bei den | |
Hausaufgaben helfen kann, so hilft ihm der Ältere“, sagt Melissa. | |
## Immer auf Hilfe angewiesen | |
11.30 Uhr, Rauchpause. Auf der Bank draußen neben dem Eingang sitzt | |
Adriana*. Sie kommt seit acht Monaten zu Karola, um lesen und schreiben zu | |
lernen, Verwandte haben ihr den Treffpunkt empfohlen. „Ich kann einen Text | |
zwar langsam lesen“, sagt sie, „wenn ich schreibe, verwechsle ich aber oft | |
die Buchstaben oder schreibe ein Wort falsch, weil es anders ausgesprochen | |
wird.“ Die heute 35-Jährige wurde von ihren Eltern nicht zur Schule | |
geschickt. Aus Angst, Adriana könnte dort Kontakt mit Jungs haben und einen | |
Fehler machen, wie sie sagt. | |
„Wenn ich auf dem Amt ein Formular ausfüllen muss, dann bitte ich jemanden | |
auf dem Flur, mir zu helfen“, sagt Adriana. Sie sucht seit fünf Jahren eine | |
Arbeit. Bisher erfolglos. „Wenn ich sage, dass ich Analphabetin bin, lautet | |
die Antwort im besten Fall ’Wir rufen Sie zurück‘“, erzählt sie. „Dan… | |
ich bereits, dass es wieder nichts wird.“ | |
Vom Gehalt ihres Mannes, der als Lieferant arbeitet, bezahlt die Familie | |
die Miete. Für alles andere muss Adrianas Sozialhilfe reichen. Doch oft | |
reicht es eben nicht. „Wenn das Amt einen Fehler beim Auszahlen macht, kann | |
es sein, dass ich meinen Kindern tagelang kein Frühstück kaufen kann“, sagt | |
sie. In so einer Situation sei es auch schon vorgekommen, dass sie beim | |
Supermarkt eine Packung Salami gestohlen habe. „Was soll ich machen, wenn | |
meine Kinder nichts zu essen haben?“ Das Vorurteil, Roma wolltlen überhaupt | |
nicht arbeiten, macht sie wütend. „Das stimmt so nicht“, sagt sie. „Wir | |
wollen arbeiten. Aber man muss uns doch auch die Chance dazu geben.“ | |
Vorurteile und Misstrauen sitzen immer noch tief und zwar gegenseitig – von | |
Deutschen gegenüber Roma und umgekehrt. „Wenn ich sage, dass ich Zigeunerin | |
bin, zucken die meisten Leute erst mal zurück“, sagt Adriana. „Dann sind | |
sie meist positiv überrascht, dass ich so gut Deutsch spreche.“ Oft | |
verschweigt sie einfach, eine Rom zu sein. | |
## Vorurteile bleiben | |
In einer jüngst publizierten Umfrage der Universität Leipzig sagten über | |
die Hälfte der Befragten, sie glaubten, Sinti und Roma neigten zu | |
Kriminalität. 55 Prozent gaben zudem an, ein Problem damit zu haben, wenn | |
Sinti und Roma in ihrer Gegend wohnten. Die Medienberichte über | |
Armutszuwanderung aus Rumänien und Bulgarien gießen außerdem immer weiter | |
Öl ins Feuer der alten Vorurteile. | |
„Die Zeitungen schreiben entweder nur von Armutszuwanderung“, sagt Regina | |
Bakar von der Beratungsstelle Karola, „oder sie sehen die Roma als Opfer, | |
die hilflos ihrem Schicksal ausgeliefert sind.“ Für die Pädagogin liegt die | |
Wirklichkeit irgendwo dazwischen. Viele Roma gingen ganz normal zur Arbeit, | |
ihre Kinder gehen zur Schule oder machen eine Ausbildung. „Bei meiner | |
Arbeit in der Beratungsstelle habe ich aber überwiegend mit Frauen zu tun, | |
die soziale Leistungen beziehen. Und natürlich gibt es auch unter den Roma | |
Leute, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten“, sagt sie | |
Die überwiegende Zahl der Roma, die keine Schule besucht haben, bereut dies | |
später. „Manchmal bin ich heute noch wütend auf meine Mutter, dass sie mich | |
nicht zur Schule lassen wollte“, sagt Adriana. Dass ihre Kinder zur Schule | |
gehen sollen, ist für sie keine Frage. Bildung sei das Wichtigste und das | |
erzähle sie ihren Kindern auch ständig. sagt sie. „Ich will, dass meine | |
Kinder einmal ein besseres Leben führen können als ich.“ | |
* Namen geändert | |
14 Jul 2014 | |
## AUTOREN | |
Meret Michel | |
## TAGS | |
Roma | |
Integration | |
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