# taz.de -- Kolumne Der rote Faden: Der taumelnde Westen | |
> In den Siebzigerjahren trug Osama bin Laden noch eine Schlaghose und | |
> einen türkisen Niki. Heute ist antiwestlich das neue Cool. | |
Bild: Als Jugendlicher trug bin Laden noch Schlaghose und Nikipulli. | |
Seit vielen Jahren schon will mir ein Foto nicht aus den Kopf: Osama bin | |
Laden, damals ein Teenie, mit seiner saudischen Großfamilie auf Urlaub in | |
Schweden. Die Familienmitglieder haben gelbe, blaue und sonstwie knallige | |
Samthosen mit Schlag an, einer trägt ein grünes Sakko, der kleine Osama | |
eine Art türkisen Nickipullover. Allesamt lehnen sie an einen rosa | |
Ami-Schlitten. Irgendwie sehen sie aus wie die Beatles am Cover von der | |
Sgt.-Pepper-Platte. Ein Hippie-Clan. | |
Der spätere Feind Nummer 1 des Westens war damals noch ganz im Bann des | |
westlichen Lifestyles in seiner gewinnendsten Variante, im Bann des Westens | |
als Versprechen auf Modernität, Überwindung von Tradition und | |
Vorgestrigkeit und so weiter. Der Westen war cool. | |
Dabei war der „globale Westen“ damals gerade einmal ein kleiner Fleck auf | |
dem Globus, der kaum mehr umfasste als Westeuropa bis zur Zonengrenze | |
BRD-DDR und Nordamerika. Und viele im Westen wollten gar nicht „zum Westen“ | |
gehören. Für die Linken war „der Westen“ ein prokapitalistischer | |
Kampfbegriff. Mochten sie selber auch extrem westlich in einem kulturellen | |
Sinn sein, in einem politischen Sinne wollten sie es keineswegs sein. | |
Dennoch, es galt, wie das der Autor Sherko Fatah vergangene Woche in der | |
Zeit formulierte: „Der Westen war einfach schick.“ Die bin Ladens trugen | |
ihre Schlaghosen aus San Francisco, in Moskau hörten sie heimlich | |
Westradio, die Brasch-Brüder in Ostberlin sahen aus wie der junge James | |
Dean, und Kabul wollte aussehen wie Paris. | |
## Ende der kulturellen Hegemonie | |
Dann siegte der Westen und Francis Fukuyama verkündete das „Ende der | |
Geschichte“, eine Formel für die schlichte Tatsache, dass der westliche | |
Kapitalismus nun als unbestrittenes, konkurrenzloses System übrig geblieben | |
war. Aber gerade wegen dieser unbestrittenen Dominanz ging es mit der | |
globalen, kulturellen Hegemonie allmählich vorbei. Das System, das gewonnen | |
hatte, wirkte stark und schwach zugleich. Weil es stark ist und dominiert, | |
zog es Ressentiments auf sich, weil es zu schwach ist, um tatsächlich | |
imperial zu dominieren, gibt es Chaos an der Peripherie. | |
Auftritt: Der taumelnde Westen. | |
In einigen Weltgegenden und Milieus ist antiwestlich heute das neue Cool. | |
Für junge Muslime, die irgendwie „anti“ sind, sind Salafismus und Isis hip. | |
Wie viele Tausende haben wohl hier bei uns die schwarze Fahne mit dem | |
Bekenntnis an ihrer Jugendzimmerwand hängen? Prowestlich dagegen ist | |
nirgendwo cool. | |
## Der Sommer der Kriege | |
Gaza, Ukraine, Irak und Syrien. Überall kracht es in diesem „Sommer der | |
Kriege“. Natürlich, da „westlich“ und „antiwestlich“ heute äußerst | |
unpräzise Begriffe sind, kann man darüber streiten, ob es sehr viel Sinn | |
hat, Russlands oder China als „antiwestlich“ zu bezeichnen. „Der Westen“ | |
ist heute fast die ganze Welt, und Russland und Putin sind nicht so | |
fundamental antiwestlich wie es der Klüngel der „eurasischen“ Ideologie | |
gern hätte. Putin und seine Entourage haben Kapitalismus und westlichen | |
Lifestyle schon gern, aber eben ohne Demokratie und ohne Dominanz des | |
„politischen Westens“. Ist „antiwestlich“ wirklich das richtige Attribut | |
für Putin? Auch Chinas KP-Anführer sind verwestlicht und antiwestlich | |
zugleich. Alles sehr kompliziert und unübersichtlich. | |
Mehr als bloß oberflächig fügen sich auch Finanzkrise und deren | |
Folgegeschehen in dieses Bild. Der „alte Westen“ ist ökonomisch | |
angeschlagen und verzweifelt damit beschäftigt, seinen Kapitalismus wieder | |
flott zu kriegen. Das heißt: Die USA und EU-Europa sind vornehmlich mit | |
sich selbst beschäftigt. Gerade trudelt die Eurozone in die dritte | |
Rezession innerhalb von sechs Jahren. | |
## IS-Country | |
Mit den ökonomischen Dauerproblemen bekommt auch das Selbstbild Risse. Das | |
Selbstbewusstsein schrumpft, die Welt, gefährlich groß, wird plötzlich | |
bedrohlich. Zitadellenmentalität nennt man das, glaube ich. Das reißt an | |
der Peripherie Machtvakui auf (ich weiß schon, in der Physik gibt’s keinen | |
Plural für Vakuum, in der Weltpolitik aber leider schon). Klar ist | |
IS-Country nicht Teil einer „Krise des Kapitalismus“ – viel her mit | |
Kapitalismus ist dort ja eben nicht –, aber vielleicht doch ein wenig auch | |
Symptom seiner Krise. Westen, Demokratie, Konsumkapitalismus und Moderne, | |
das war einmal eine – immer knirschende – Vierfaltigkeit, hatte | |
Magnetismus, Verführungskraft, Zukunftskraft, innere Stärke. | |
Heute wissen wir nicht so recht: Westliche Werte – was ist das? | |
Waterboarding? Xenophobie? Oder doch universalistische Menschenrechte, | |
Demokratie, im Zweifel Frieden und Verhandeln statt Krieg? Aber das | |
Vertrauen in deren Universalität haben wir längst verloren. Achselzuckend | |
vertreten wir die Ansicht: Das sind Werte, die die einen haben, die anderen | |
nicht. Ja, er taumelt, der Westen. | |
6 Sep 2014 | |
## AUTOREN | |
Robert Misik | |
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