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# taz.de -- Architektur: Treppe runter, Treppe rauf
> Vertikal gestapelte Kieze könnten eine Lösung für den Platzmangel in der
> Innenstadt sein. Zwei Studenten der Beuth Hochschule haben dafür ein
> Modell entwickelt.
Bild: So könnte vertikal-urbanes Leben in Mitte aussehen.
Um sieben Uhr verlässt die Familie die Wohnung. Kurzer Zwischenstopp beim
Bäcker, dann wird das Schulkind in die Schule gebracht, eine Viertelstunde
später das Geschwisterkind in den Kindergarten. Um 8.30 Uhr sind Mama und
Papa im Büro, um 17.30 Uhr gehen Teile der Familie in den Supermarkt, ein
Elternteil darf danach zum Sport. Während des ganzen Tages hat die Familie
mehrere Aufzüge und Treppen benutzt, draußen gespielt und noch kurz die
selbst angebauten Zucchini gegossen. Da die Familie in einem „vertikalen
Kiez“ wohnt, musste niemand auch nur ein einziges Mal das Gebäude
verlassen.
Die Musterfamilie haben sich Thomas Nurna und Vasilios Tsitiridis
ausgedacht, um ihr Konzept einer „vertikalen Urbanität“ zu illustrieren.
Die beiden Architekten haben ihre Masterarbeit an der Beuth Hochschule für
Technik bunten Klötzen gewidmet, die, ineinanderverkeilt und
übereinandergestapelt, ganze Stadtteile ergeben: vertikale Kieze. In die
Höhe stapeln, mit diesem Rezept könnte sich die zunehmende Platzknappheit
in der Berliner Innenstadt lösen lassen, finden Nurna und Tsitiridis. Auf
ihren Computeranimationen sieht das dann so aus: Viele, nach allen Seiten
auskragende, mit Urban-gardening-Flächen begrünte Würfelwolkenkratzer ragen
hoch in den Himmel. Dazwischen fliegen futuristische Autos durch die Luft,
der Fernsehturm wirkt in diesem kühnen Szenario altmodisch. Alles nur
Science-Fiction, die überhitzte Fantasie zweier Architekturstudenten – oder
ein realisierbares Baukonzept?
Beim Treffen wirken Nurna und Tsitiridis recht bodenständig. Die 31- und
27-jährigen Jungarchitekten tragen unhippe Frisuren und legere Kleidung,
von ihrer Masterarbeit sprechen sie eher zurückhaltend – ganz so, als
wundere es sie, dass es ihre vertikalen Visionen bereits ins Fachblatt
baumeister geschafft haben. Es ist ihre Professorin Susanne Junker,
Betreuerin der Masterarbeit, die voller Begeisterung gestikuliert und auf
einem iPad herumdrückt, um die Genialität der stapelbaren Lebenswelten zu
demonstrieren.
Mit herkömmlichen Hochhäusern hätten diese wenig zu tun, betont Junker: Die
an ein Stahlskelett gehängten Module seien günstig im Bau, könnten beliebig
verändert werden und den verschiedensten Nutzungen gleichzeitig dienen.
Arbeiten, Wohnen, Lernen und Spielen für alle, unter einem Dach – „das
kommt der Kreuzberger Mischung sehr viel näher als der nichtöffentlichen
Investorenarchitektur, mit der man Hochhäuser gemeinhin assoziiert“.
Man wolle eine Umgebung schaffen, die niemanden ausschließe, sagt
Tsitiridis und klickt ein Bild mit dem Längsschnitt eines Schachtelturms
an: hier ein Park neben einem Supermarkt, dort eine öffentliche Bibliothek
neben kleinen Büros, ein mehretagiges Familiendomizil mit Garten neben
einer kleinen Rentnerwohnung. „Human, sozial und abwechslungsreich statt
exklusiv und einheitlich“, beschreibt Nurna das Leitbild. Auf die Idee mit
dem Stapeln seien sie gekommen, als in der Stadt die Diskussion über die
Bebauung des Tempelhofer Felds tobte. Zusätzlichen Wohnraum schaffen, ohne
das viele Grün in der Innenstadt anzutasten: So könnte es gehen. Weil die
Beuth-Fachhochschule Wert auf technisches Detail legt, sind die Entwürfe,
bei aller Spacigkeit, durchaus handfest: Statisch solide,
Brandschutzvorgaben und bauliche Leitlinien werden erfüllt. „Es geht“, ruft
die Professorin, „es geht tatsächlich.“ Lediglich das fliegende Auto sei
eine kleine Spinnerei, entliehen aus dem Science-Fiction-Film „Das fünfte
Element“.
Wie ineinandergeschachtelte Container ganz real im Stadtbild wirken,
konnten die Architekten bei einer Exkursion nach Amsterdam begutachten: Das
aus gestapelten Schiffscontainern bestehende Haus „Silodam“ der
holländischen Architektengruppe MVRDV setzt die Idee des vertikalen
Stadtteils bereits um – allerdings im Kleinen. Gewichtigere und höhere
Verwandte sind im hochhausverrückten Hongkong zu finden, wo die
Fahrradspuren über den Fußgängerwegen schweben, ebenso in Mailand, wo ein
Gebilde namens „Il Bosco“ (der Garten) hektarweise Gartenflächen auf den
vielen Betonetagen unterbringt.
Aber in Berlin, wo man Hochhäusern eher skeptisch gegenübersteht? Thomas
Nurna lächelt und sagt: „Man muss den individuellen Nutzen betonen: Jeder
kann über die Gestalt der von ihm genutzten Räume mitbestimmen.
Andererseits findet man Zusammenhalt, etwa in den Gemeinschaftsgärten. Und
die Hochhäuser sind öffentlich zugänglich, für alle.“ Nurna zeigt drei
Simulationen: ein Würfel in der City West, gegenüber vom Bikini-Haus. Einer
am Alexanderplatz. Und einer an der Friedrichstraße. Auch an die Leipziger
Straße würde ein vertikaler Kiez gut passen, sagt die Professorin. Und
entwirft mal so nebenbei eine Lösung für die vielen wertvolle
Innenstadtfläche verschwendenden Discountmärkte mit ihren
Riesenparkplätzen. Warum nicht die öden Würfel abreißen und in Hochhäuser
integrieren? Unter der Erde der Parkplatz, im Erdgeschoss der Markt. Und
oben: mehr Geschäfte, Ärzte, Büros, Wohnungen. Und ganz oben: ein
Dachgarten mit Café. „Berlin ist eine sehr flache Stadt“, sinniert Vasilios
Tsitiridis. „Da kann ein gelegentlicher Perspektivwechsel zur
Horizonterweiterung nicht schaden.“
Horizonterweiterung ist allerdings derzeit nicht angesagt im
städtebaulichen Diskurs der Hauptstadt. Investoren haben sich bisher noch
nicht gemeldet, auch für die üblichen Architektenwettbewerbe scheint die
Idee noch zu kühn zu sein – obwohl sie, darauf legen die beiden Urheber
Wert, auch klein und bescheiden ausfallen könnte, je nach Umfeld und
Portemonnaie des Bauherrn.
Noch liegt die Masterarbeit in der Schublade. Und Tsitiridis und Nurna, die
inzwischen bei einem Architekturbüro angestellt sind, bauen
Gründerzeithäuser um. Bis Berlin endlich reif ist für die Vertikale.
9 Sep 2014
## AUTOREN
Nina Apin
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