# taz.de -- Mit dem Fahrrad in Marokko: Wüsten erfahren | |
> Eine Reise durch den Süden Marokkos bedeutet eine Reise durch Gegensätze: | |
> Es geht durch unterschiedliche Klima-, Vegetations- und Zeitzonen. | |
Bild: Die Tour startet in Marrakesch. | |
Nichts. Unendliches Nichts. Stundenlang, kilometerweit. Vorne Nichts, | |
hinten Nichts – nichts als ockerfarbene, karge Steinwüste. Erst in weiter | |
Ferne, rechts und links der Asphaltpiste, lassen rot schimmernde Tafelberge | |
ein Ende dieses Nichts ahnen – oder den Beginn eines neuen. | |
Horizonterweiterung im wahrsten Sinne des Wortes. Medizin für müde Augen. | |
Herausforderung für Erlebnissucher. Spektakulär unspektakuläre Leere. Man | |
muss das mögen. Alle zehn Kilometer eine Kamelfamilie. Hin und wieder ein | |
einzelner Mensch. Hockend in gleißender Sonne am staubigen Straßenrand, | |
eingehüllt in eine Dschellaba, wartend auf irgendwen oder was oder nichts. | |
Heinz, „unseren“ Mann aus der Schweiz mit dem trockenen Humor und dem Mut | |
zu einfachen Fragen, macht das alles irgendwann fassungslos: „Was, | |
verdammt, machen die da in der Wüste?“ Umgekehrt stellen sich diejenigen, | |
die uns vom Straßenrand aus beobachten, mit Sicherheit dieselbe Frage. | |
„Was, verdammt, machen die da in der Wüste?“ | |
„Die da“, das sind wir: Eine zusammengewürfelte Gruppe von 16 Urlaubern. | |
Neun Frauen und sieben Männer wie von einem anderen Stern, ausgestattet mit | |
grellen Trikots und bunten Helmen, um sich den Süden Marokkos mit seinen | |
Wüsten, Schluchten und Oasen mit dem Rad erfahrbar zu machen. Fahrrad und | |
Marokko – das hat streng genommen nichts Exotisches. | |
Das Stahlross mit Lenker und Pedalen gehört durchaus ins Straßenbild. Nur: | |
Wer hier Rad fährt, tut es, weil er kein Auto hat, keinen Esel und auch | |
kein Kamel. Und er trägt beim Radeln keinen Helm, sondern allenfalls Turban | |
und Kopftuch. Er hat auch keine wetterfeste Packtasche auf dem Rad, sondern | |
Bündel mit Viehfutter, Schulranzen oder Kisten mit Hühnern. Und schon gar | |
nicht würde er freiwillig durch die Mittagshitze strampeln. | |
Wir aber haben dafür sogar bezahlt: Zwei Wochen per Rad durch Südmarokko, | |
in Tagesetappen zwischen 30 und 80 Kilometern, komfortabel „embedded“ und | |
über große Entfernungen getragen von zwei Minibussen. Eskortiert von einem | |
„Besenwagen“, der jederzeit diejenigen aufpickt, die mit schlappen Waden | |
oder Durchfallattacken „Ich kann nicht mehr“ stöhnen. | |
Über 400 Fahrrad- und 1.800 Buskilometer führt uns die Reise durchs Land – | |
und es wird eine Reise voller Gegensätze, die uns jeden Tag neu durch | |
andere Klima-, Vegetations- und Zeitzonen führt. Die Tour startet in | |
Marrakesch, Marokkos südlicher Metropole, die außerhalb ihrer Altstadt, der | |
verwinkelt-quirligen Medina, längst zur modernen Großstadt gewachsen ist – | |
mit Luxusappartements, europäischen Modeketten und Parkraumbewirtschaftung. | |
Knapp eine Woche später werden wir am südlichsten Punkt unserer Reise, in | |
Rissani, dem Tor zur Sahara, auf ein anderes Mobilitätssystem treffen: Im | |
überdimensionierten Verkehrskreisel des Ortes drehen Eselskarren ihre | |
Runden und der größte Parkplatz ist der für Mulis. Und während auf | |
Marrakeschs Prachtboulevard Arztpraxen in großen Lettern ihre Dienste für | |
künstliche Befruchtung anbieten, ducken sich auf dem steinigen Plateau des | |
Mittleren Atlas die Frauen schamhaft in ihre fast fensterlosen Lehmhäuser | |
zurück, wenn wir vorbeiradeln. | |
## Das letzte Schnee | |
Hier, in 2.000 Metern Höhe scheint die Zeit stehen geblieben. Ein paar | |
Schafe und ein paar Hühner sichern kaum das Überleben in dieser kargen, | |
harten Landschaft. Im Winter sinken die Temperaturen unter die | |
Minus-20-Grad-Marke. Wir radeln an den letzten Schneeresten vorbei, auf gut | |
asphaltierter Straße durch bitterste Armut. In den wenigen Dörfern, die wir | |
passieren, umringen uns die Schulkinder wie einen Wanderzirkus. | |
„Allez-Allez!“ – ihre Anfeuerungsrufe und ihre in die Höhe gereckten Dau… | |
werden uns die ganze Radtour über begleiten. Kaum ein entgegenkommender | |
Autofahrer, der uns nicht aufmunternd anblinkt. Mancherorts radeln wir | |
durch ein Spalier wie das Spitzenfeld der Tour de France. „Bonjour, | |
Bonjour“ reckt uns die Dorfjugend die Hände entgegen zum Abklatschen im | |
Vorbeifahren. Einige machen sich einen Spaß daraus, uns dabei etwas | |
Klebriges in die Hand zu drücken. | |
Und einmal gibt es auch das: Inmitten der Armut des Atlasgebirges | |
versperren kleine Jungs mit ausgebreiteten Armen und lauten „Stylo, | |
stylo!“-Rufen die Straße. Wer ihrer Forderung nach Kugelschreibern nicht | |
nachkommt, muss sich mit kräftigen Pedaltritten vor Kieselsteinwürfen | |
schützen. | |
Manchmal ist es gut, in Sichtweite des Vordermanns oder der Vorderfrau zu | |
radeln. Das ist nicht immer einfach. Denn schon bald zieht sich unsere | |
Radlergruppe – zur einen Hälfte immerhin um die 60 und drüber – wie | |
Kaugummi auseinander: im Spitzenfeld wird der drahtige Winnie aus Franken | |
das imaginäre gelbe Trikot nie mehr abgeben, gefolgt von Hermann, der tief | |
gebeugt über den Lenker gegen Wind und Steigungen anstrampelt. | |
## „Queen of the road“ | |
Im Mittelfeld fährt Irmi im feschen Radlerdress, weiter hinten sind Inge | |
und Helga, die sich mit ihren 63 Jahren bravourös schlagen. Und irgendwo | |
dazwischen wuseln unsere beiden „Welpen“, die 17-jährige Lea und ihr drei | |
Jahre älterer Bruder Lovis, die auf dieser Tour das vielleicht letzte Mal | |
Familienurlaub mit ihren Eltern machen. | |
„Queen of the road“ aber ist die 59-jährige Maria, die schwergängig aber | |
beständig in die Pedale tritt und am Zielpunkt immer noch weiterfahren | |
möchte – selbst als uns am fünften Tag ein veritabler Wüstensturm von der | |
Piste fegt. Schon bei der Fahrt durch die malerische Schlucht des | |
Flüsschens Ziz peitscht uns der Wind mit Stärke sechs bis sieben entgegen. | |
Die ersten flüchten in den Begleitbus, die zweiten haut es wenig später vom | |
Rad, die dritten halten durch, bis sich der Himmel jäh verdunkelt und die | |
nahe Sahara uns gelben Staub entgegenwirbelt, der sich zwischen Augenlider | |
und Zähne frisst. | |
Am nächsten Tag zeigt sich die Wüste mit rosig-weichem Sonnenaufgang wieder | |
von ihrer prächtigsten Seite. Mit dem allmorgendlichen „Yallah!“ – Auf | |
geht’s! startet unsere Gruppe auf die Piste. Nur selten hört man in diesen | |
zwei Wochen ein „Hab keinen Bock mehr“ oder „Warum tun wir uns das nur | |
an?“. Eher vernimmt man leises Seufzen „Ist das schön hier“ – dann etw… | |
wenn wir durch bizarre Gesteinsformationen und grandiose Canyons radeln. | |
Oder wenn sich in brütender Hitze rechterhand der Wüste die | |
schneebepuderten 4.000er-Gipfel des Hohen Atlas ins Blickfeld schieben wie | |
eine großartige Theaterkulisse. | |
## Himmlische Oasen | |
Geseufzt aber wird vor allem, wenn aus steiniger, fast menschenleerer Weite | |
plötzlich ein quietschgrüner Fleck auftaucht, der beim Heranradeln zu einer | |
Oase wird, die sich kilometerlang am Fluss entlangschlängelt, mit braunen | |
Lehmhäusern, die wie Schwalbennester am Fels kleben. Saftig-grüne Rechtecke | |
mit jungem Getreide, mit dunkelrotem Mohn, üppigem Gemüse, Dattelpalmen und | |
duftenden Kräutern, mühsam per Hand beackert, wecken dann plötzlich | |
Urfantasien von paradiesischen Landschaften. | |
Wer hier langradelt, gerät in einen Strudel von Eindrücken und Gerüchen. | |
Duftschwaden von Feigen, Orangen und natürlich von grüner Minze, dem | |
Grundstoff für Marokkos zuckrig-heißes Nationalgetränk, ziehen in die Nase. | |
Sie mischen sich mit dem Geruchscocktail von Marktständen, Asphalt, | |
überfahrenen Hunden, duftenden Fleischspießen und brennendem Plastikmüll, | |
der – wo immer wir uns Menschenansiedlungen nähern – die Landschaft mit | |
hellblauen oder weißen Flecken übersät. Einfach anhalten können, gucken, | |
riechen, schmecken, Bilder tanken – auch in Marokko erweist sich die | |
langsame Fortbewegungsart ohne Motor und Blechdach als Luxus. | |
## Unfallfrei und nur eine Reifenpanne | |
Eine einzige Reifenpanne, kein Unfall, kein Sturz – keine ganz | |
selbstverständliche Bilanz am Ende unserer Tour angesichts kilometerlanger | |
rasanter Abfahrten und heimtückischer Schlaglöcher. Nach zwei Wochen voll | |
widersprüchlicher Eindrücke und gestrammter Waden ist unsere Gruppe sich | |
einig: Sofern man einen Kleinbus im Gepäck hat für lange, öde Strecken, ist | |
das Rad ziemlich perfekt, um Südmarokko zu erfahren. | |
„Anders hätten wir nie so viel gesehen“, schwärmt Petra, die weitgereiste | |
Bankfrau. „Wir waren“, meint Hermann der Vielradler, „auf diese Weise | |
einfach dicht an den Menschen dran.“ Dicht dran – das schon, aber nahe | |
gekommen sind wir dem Land und seinen Menschen auch mit Tempo 20 nicht | |
wirklich. Um mehr als nur Impressionen aufzunehmen, hätten wir vielleicht | |
umsatteln müssen – auf Wanderschuhe oder auf Kamele. | |
Aber weder das eine noch das andere möchte man wirklich. Und so nehmen wir | |
es als bestätigendes Omen, dass wir auf der Rückfahrt zum Flughafen ein in | |
Marokko noch rares Verkehrsschild entdecken: Ein weißes Fahrrad auf blauem | |
Grund. | |
Diese Recherchereise wurde unterstützt von Winkinger Reisen. | |
27 Sep 2014 | |
## AUTOREN | |
Vera Gaserow | |
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