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# taz.de -- Marathon: Wo bleibt Corinna?
> Für die einen sind 42 Kilometer ein Klacks, für andere eine Tortur. Erst
> recht, wenn Schaulustige mit Pappschildern die Läufer verhöhnen.
Bild: Beim Marathon geht alles, da drückt die Ordnungsmacht drei Augen zu.
Zum Marathon gibt sich Berlin einen betont friedlichen Anstrich. Am
Kottbusser Damm, bei Kilometer sechzehn, wacht in orangefarbener Warnweste
ein Polizist vom Typ Wachtmeister Schulze. Den Rücken zur Strecke gewandt,
blicken die Augen einer gütigen Großmutter des Gesetzes wachsam durch runde
Brillengläser. Liebling Kreuzberg in Uniform. Der Marathon ist gut fürs
Image der Stadt und der Bolle-Büttel ist es ebenfalls. Da kann man keine
stiernackigen Cops mit locker sitzenden Colts gebrauchen, die
überdiensteifrig einschreiten, weil hier die Menschen einfach auf der
Fahrbahn laufen.
Das Auto, die heilige Kuh der Hiesigen, fährt heute mal woanders lang.
Glocken klingeln, rhythmisches Klatschen ertönt, vor der Boutique „Mirac“
spielt eine siebzehnköpfige Swing-Band schmissige Weisen. Heute dürfen sie
das, das Ordnungsamt ist weit.
Die Spreemetropole ist locker und aufgeschlossen. Angestöpselt an
Pulsmesser, iPods, EEG und ambulante Herzschrittmacher quält sich das
Fußvolk des Feldes über den Damm. Es ist halb elf. Die echten Sportler sind
längst durch, nun bleiben dem Chronisten, der am heiligen Sonntag bewusst
auch noch den dritten Hahnenschrei verschlief, nur die schillernden
Brosamen.
Aber die sind es ja auch, auf die es ankommt, die machen das Erlebnis
Berlin-Marathon so unvergleichlich. Mit Witzigkeit übertünchen sie gekonnt
die Defizite an Schnelligkeit und Fitness. Bartperücken, aufgeblasene
Flugzeuge, Männerröcke. So mancher hat sich als Biene Maja, Gekreuzigter
oder Weizenbier verkleidet. „Papa, du schaffst das“, steht auf dem
selbstgebastelten Schild, das eine Mittsechzigerin hochhält. Das wünschen
wir dem mutmaßlich Neunzigjährigen natürlich auch.
Selbst das Berliner Wetter zeigt sich, wie so oft zu diesem Anlass, von
seiner besten Seite. Wo man sonst kyrillisch beschriftete Bonbonpapierchen
findet, die ein eisiger Wind aus Irkutsk quer über die Tundra und direkt
bis auf den Kottbusser Damm gefegt hat, streichelt nun ein milder Wind die
geröteten Gesichter der überforderten Teilnehmer. Eine goldene
Spätherbstsonne bittet, fleht, ermahnt sie: Gebt auf, es ist noch viel zu
früh zum Sterben!
Denn in dem Trubel wird gerne mal vergessen, dass es sich bei dem Versuch,
über vierzig Kilometer lang ohne Pause über harten Asphalt zu laufen, um
eine klassische Jackass-Aktion handelt: Die einen zerstören sich auf
spektakuläre Weise selber, die anderen rufen dazu „Hopp, hopp, hopp.“ So
wie jene restalkoholisierten Turnbeutelvergesser, die vorgedruckte
Verhöhnungspappen hochhalten, „Keiner hat gesagt, es wird leicht“, oder,
„Quäl dich“ – der Name der Gemeinten wird nur noch in das dafür vorgese…
Feld eingetragen: „Gesamaus“. Wer den Schaden hat, braucht für den Spott
nicht zu sorgen.
Hermannplatz. „Nordenham grüßt Corinna. 28.09.14“. Es wird Zeit, dass
Corinna kommt. Inzwischen ist es nämlich schon elf Uhr und wir sind erst
bei Kilometer 17? „Kilometer 17? Hallo? Wie geht das denn?“, mag sich der
erzürnte Ex-Abonnent nun fragen. „Waren wir nicht eben noch bei Kilometer
sechzehn?“
Gemach, wir sind natürlich mit dem Rad gefahren. Das geht heute, sogar auf
der Gegenseite des Kottbusser Damms entgegen der normalen Fahrtrichtung.
Heute geht alles, heute drückt die Ordnungsmacht drei Augen zu, heute ist
Karneval, Armageddon, verkaufsoffener Sonntag, Berlin-Marathon. Zwei
besoffene Punker kreuzen heiser lachend das dichte Feld. Erschöpfte weichen
aus. Dit is Berlin, wa? Apropos: Wo ist eigentlich Wachtmeister Schulze,
wenn man ihn braucht? Ach ja, bei Kilometer sechzehn.
Halb zwölf. Die Leute sehen schlimm aus. Es gelingt ihnen nicht mal mehr,
aus dem letzten Loch zu pfeifen – dafür fehlt die Puste. Sie tun mir leid.
Aus fiebrigen Augen glänzt die Furcht vor dem Besenwagen, vor der Schande,
vor enttäuschten eigenen und fremden Erwartungen. Ein Mann lässt sich von
seiner Frau Eisspray geben, sprüht es ausgiebig auf beide Beine und im
Anschluss, wohl zur Erfrischung, noch in den Nacken. Dann hinkt er weiter
und das alles bei Kilometer siebzehn. Wir denken an Stalingrad, Golgatha
und den Hamburger Sportverein.
Vor der Eckkneipe „Brinks“ sitzen Leute und trinken, ob der schwächelnden
Frühsportler die Köpfe schüttelnd, ihr Bier. Eine Tafel verspricht für
jedes Hertha-Tor später am Tag einen Kümmerling aufs Haus. Auch woanders
wird offenbar noch Sport getrieben. Wo bleibt Corinna?
28 Sep 2014
## AUTOREN
Uli Hannemann
## TAGS
Raumsonde
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