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# taz.de -- Kurzgeschichte aus „Hafenlichter. Stories“: Fernsehen
> Peter ist ein wortkarger knurriger Mann, er hat es an der Leber. Obwohl
> ihm die Ärzte nur wenige Wochen gaben, lebt er immer noch. Und eines
> Tages bricht er sein Schweigen.
Bild: Reise über die Köhlbrandbrücke: Nach 22 Jahren fährt Peter dorthin zu…
HAMBURG taz | Peter lebt heute immer noch, auch wenn die Ärzte ihm damals
nur noch ein paar Wochen gaben. Er ist Wassermann wie ich, und er hat eine
Vorliebe für Hans Albers. Hin und wieder besuche ich ihn; ich mache mir
dann einen Kaffee, und er trinkt seinen Weinbrand. Er beschwert sich über
die Pfleger, und jedes Mal fragt er, ob ich meinen neuen Job nicht an den
Nagel hängen will.
„Diese Pieptüten bringen mich noch unter die Erde“, sagt er, schwenkt sein
Glas, lächelt. „Ich brauch hier jemanden, der was vom Leben versteht.“
Ich hatte nie vorgehabt, bei einem ambulanten Pflegedienst zu arbeiten,
aber die Zeiten waren nicht besonders gut. Ich schickte Bewerbungen los,
und ein paar Wochen später kamen sie zurück; schließlich bewarb ich mich
auf alles Mögliche.
Unser Einzugsgebiet beschränkte sich auf St. Pauli, und da ich einer der
wenigen männlichen Pfleger war, bekam ich die Spezialaufträge: Alkoholiker
oder Junkies, die nicht selten jünger waren als ich. Es gab einen
ehemaligen Obdachlosen, der in einer Kellerwohnung lebte, beide Beine waren
amputiert, und er rauchte, als würde ihm die Zeit davonlaufen. Und dann war
da ein Junkie, der seine Nächte in den einschlägigen Kneipen verbrachte und
die Tage nutzte, um sein Mobiliar zu zertrümmern.
Ich hatte täglich zwischen zwölf und fünfzehn Einsätze – Einkäufe
erledigen, Medikamente verabreichen, Verbände wechseln. Für einige
Wohnungen hatte ich Schlüssel, bei anderen musste ich läuten. Mehrere Male
musste ich die Feuerwehr rufen und Türen aufbrechen lassen; zweimal kam ich
zu spät. Ich habe mich oft gefragt, wie diese Beerdigungen abgelaufen
waren, wie die Gräber ausgesehen haben und ob es dort einen Pfarrer gegeben
hatte. Ich bin nicht gläubig, aber trotzdem hätte es mich beruhigt.
Für Peters Wohnung hatte ich einen Schlüssel, und als ich sie zum ersten
Mal betrat, warf er mit einem Bierglas nach mir.
„Schon mal was von ’ner Klingel gehört, du Pappnase?“, sagte er und nahm
einen Schluck aus der Bierflasche.
Die Wohnung war klein und vollgestellt, die Tapeten waren vergilbt. Er saß
vornübergebeugt auf einer Couch, der Fernseher lief, aber der Ton war
abgestellt.
„Was ist los, bist du versteinert? Ich brauch ein neues Glas“, sagte er und
deutete auf die Schrankwand. „Außerdem bist du viel zu spät.“
Der Einsatz bei Peter bestand darin, ihm seine Medikamente zu verabreichen.
Sie waren in einer silbernen Metallkassette eingeschlossen – eine Maßnahme,
die die Patienten daran hindern sollte, alle Tabletten auf einmal zu
nehmen. Ich war täglich bei ihm, meistens nicht länger als fünf Minuten,
und es lief immer ähnlich ab.
Peter hatte nie Besuch, und in seiner Akte waren keine Angehörigen
vermerkt, auch in der Station war nicht viel über ihn bekannt. Um ehrlich
zu sein, es hätte mich nicht interessiert. Der Job war von Anfang an eine
Übergangslösung gewesen; ich war immer noch auf der Suche. Das änderte sich
auch nicht, als er ins Krankenhaus kam. So was gehörte nun mal dazu, und
die Tour änderte sich ohnehin täglich.
Manchmal frage ich mich, was passiert wäre, hätte ich mich für einen
anderen Job entschieden. Im Grunde ist mir bewusst, dass man völlig
austauschbar ist, und trotzdem bin ich mir sicher, dass die Dinge anders
verlaufen wären.
Als Peter aus dem Krankenhaus kam, war er wie ausgewechselt. Wenn ich die
Wohnung betrat, sagte er kein Wort. Er hatte über zehn Kilo abgenommen,
seine Haut war wächsern und sein Blick trüb. Jetzt kümmerte ich mich auch
um die Einkäufe und das Geschirr. Ich kaufte Dosensuppen und andere
Fertiggerichte, aber er verlor immer weiter an Körpergewicht. Das ging fast
zwei Wochen so. Ich begann Kuchen zu besorgen, Joghurt und Schokolade, aber
auch davon wollte er nichts wissen. Ich sagte ihm, dass er essen müsse,
aber er sah mich nicht einmal an.
Außer mir besuchte ihn nur sein Hausarzt, ein untersetzter Mann mit Brille
kurz vor dem Ruhestand. Ich kannte ihn von einem anderen Patienten.
„Die Leber“, sagte er, als ich ihm einmal im Hausflur begegnete. „Völlig
hinüber, ist alles nur noch eine Frage der Zeit.“
Ich hatte damals noch keinen Toten gesehen und rechnete täglich damit. Aber
das war es nicht, was mich beunruhigte. Wovor ich Angst hatte, war, dabei
zu sein, wenn jemand starb. Und trotzdem blieb ich jeden Tag länger bei
Peter, wärmte die Fertiggerichte auf, warf das Essen vom Vortag weg, spülte
das Geschirr, saugte die Wohnung. Während ich herumwuselte, bewegte sich
Peter nicht vom Fleck, er hatte aufgehört, sich zu rasieren und trug immer
denselben blauen Trainingsanzug. Ich glaube, dass er auch die Nächte auf
der Couch verbrachte. Immer wieder wollte ich ein Gespräch mit ihm
anfangen. Ich versuchte es mit dem Wetter, ich versuchte es mit Fußball,
aber es war aussichtslos.
Die Sachen für Peter besorgte ich in einem Walmart. Der Laden war riesig,
und ich kam mir lächerlich vor, wenn ich durch die hell beleuchteten Gänge
lief und Lebensmittel in den Einkaufswagen legte. Mir kam alles irgendwie
lächerlich vor, meine ganze Arbeit.
Es gibt ein Bild aus dieser Zeit, das ich noch heute klar vor Augen habe.
Peter wohnte in einem Altbau, und vor seinem Küchenfenster stand eine
Buche. Es war Herbst, und die Blätter waren knallrot, es sah aus, als
stünde der Baum in Flammen. Jemand hatte Meisenknödel an die Zweige
gehängt, und ich stand oft dort am Fenster und beobachtete, wie die Vögel
zwischen dem Laub hin und her sprangen und ihre kleinen Köpfe bewegten.
Diese Tiere hatten etwas Tröstendes an sich – sie strahlten Leben aus
zwischen all diesen Gestalten.
„Ich bin einfach abgehauen“, sagte er. Ich hörte sein Feuerzeug klicken,
dann atmete er aus.
Ich stand im Flur, ich hatte meine Jacke schon angezogen und wollte gerade
die Wohnung verlassen.
„Ich weiß nicht, warum… Ist ’ne Ewigkeit her. Bin einfach weg.“
Ich ging Richtung Wohnzimmer und blieb in der Tür stehen. Er blickte zum
Fernseher.
„War alles gut. Haus, Job. Sonja war vier. Ein schönes Mädchen, ganz die
Mutter.“ Er zog an seiner Zigarette, dann sah er zu mir, aber er wirkte
abwesend.
„Ich hatte Angst, weiß nicht, wovor, irgendwie…“, er stockte. „Ich war
seitdem nicht mehr dort, aber seit ein paar Tagen habe ich wieder den
Geruch der Felder in der Nase.“
Ich trat in den Raum und setzte mich auf einen Sessel. Er hielt mir seine
Zigarettenschachtel hin, ich nahm eine, und er gab mir Feuer.
„Zweiundzwanzig Jahre“, sagte er, „Scheiße.“
Ich blieb bis zum späten Abend. Er erzählte, und draußen wurde es langsam
dunkel, ein paarmal klingelte das Telefon – aber wir ignorierten es. Zum
ersten Mal, seit ich dort arbeitete, hatte ich das Gefühl, etwas tun zu
können.
Als ich bei Peter ankam, stand er schon vor dem Haus. Er trug eine schwarze
Lederjacke und eine Jeans, er war rasiert und hielt einen kleinen braunen
Lederkoffer in der Hand. Er wirkte wie ein anderer Mensch. Ich kam direkt
neben ihm zum Stehen und kurbelte das Fenster herunter.
„Sie haben einen Wagen bestellt?“, sagte ich, Peter lächelte.
Als wir den Elbtunnel hinter uns gelassen hatten, schaltete ich das Radio
ein; es lief ein Song von Bruce Springsteen. Der Himmel war grau, und es
nieselte, von den Autos, die über die Köhlbrandbrücke fuhren, konnte man
nur die Lichter erkennen. Ich blickte zu Peter, der aus dem Fenster sah,
seine Hände lagen auf seinem Schoß. Ich weiß nicht, warum, aber ich musste
ihn mir in dem Moment als kleines Kind vorstellen.
„Ist ’ne Weile her, dass ich das alles gesehen hab“, sagte er, und dann
sagte er eine ganze Zeit nichts mehr.
Mein alter, klappriger VW schnurrte, die feuchte Autobahn glänzte im
Scheinwerferlicht. Ich wusste nicht, ob der Wagen die Strecke schaffen
würde, aber es war mir egal.
Dies ist eine Geschichte aus Jens Eisels Buch „Hafenlichter. Stories“,
erschienen im September 2014 beim Piper Verlag, 144 Seiten Jens Eisel liest
am 16. Oktober im Hamburger Buchladen Cohen & Dobernigg, Sternstraße 4
30 Sep 2014
## AUTOREN
Jens Eisel
## TAGS
Kurzgeschichte
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