Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Wendekinder: Der Osten kann jetzt auch Englisch
> Sie haben ihre Kindheit in der DDR verbracht und wurden in der BRD
> erwachsen. Über diese Erfahrungen wollen sie reden.
Bild: Wendekinder: geboren in der DDR, aufgewachsen in der BRD
Adriana Lettrari ist zehn Jahre alt, als die Mauer fällt. Fortan hört das
Mädchen von ihren Eltern Sätze wie: „Kind, jetzt musst du sehr gut in der
Schule sein, du musst jetzt alles allein schaffen. Wir haben finanziell
nichts, was wir dir mit auf den Weg geben können.“ Die Familie wohnt in
Rostock an der Ostsee, die Mutter leitet dort eine Grundschule und will,
dass aus ihrer Tochter „etwas Vernünftiges“ wird.
René Sadowski lebt zu jener Zeit in Friedrichshain im Osten Berlins, er ist
14 und gerade in der Pubertät. Laut Psychologen für junge Menschen eine
schwierige Zeit, mit zahlreichen inneren Konflikten. Dazu kommen nun äußere
Veränderungen, die das gesamte Leben auf den Kopf stellen. Fast jeden Tag
ist der Jugendliche „drüben“, in Westberlin. Clubs, kreative Leute, die
Techno-Szene, er nimmt mit, was er kriegen kann. René Sadowski sagt: „Eine
Superzeit. Für mich kam der Mauerfall gerade richtig.“
Lettrari und Sadowski wurden auf recht unterschiedliche Weise ins neue
Leben „geschubst“. Und doch verbindet die beiden mehr, als auf den ersten
Blick erkennbar ist: Sie sind sogenannte Wendekinder. Sie haben ihre
Kindheit in der DDR verbracht und sind in der BRD erwachsen geworden. Sie
tragen beide Systeme immer noch in sich, sagen sie. Und sie nennen sich die
dritte Generation Ost.
Dritte Generation Ost. Das klingt wie eine saubere soziologische
Definition. Als seien die heute 30- bis 40-Jährigen aus dem Osten eine
homogene Masse. Doch da sind nicht nur Lettrari und Sadowski, die ihre
Chancen im vereinten Deutschland zu nutzen wussten. Da sind auch jene, die
in Brandenburg abhängen und nichts auf die Reihe kriegen. Die jungen, gut
ausgebildeten Frauen und Männer aus Mecklenburg-Vorpommern oder
Sachsen-Anhalt aber gehen in die Schweiz, nach Kanada und in die USA und
machen dort Karriere. Es gibt welche, die sich als Europäer bezeichnen, und
andere, für die das alles gar keine Rolle spielt. Die dritte Generation Ost
ist ein Phänomen, das sich nicht mit einem Wort beschreiben lässt und
wissenschaftlich bislang kaum erforscht ist.
Das treibt Lettrari und Sadowski um. Das wollen sie ändern, sie wollen
darüber reden. Mit rund 150 weiteren Wendekindern (und ein paar aus dem
Westen) haben sie das am Wochenende in Berlin auch getan. Bereits zum
vierten Mal hat sich das Netzwerk 3. Generation Ost, dem Lettrari und
Sadowski angehören, getroffen. Es ging um Identitäten und Biographien, um
Wirtschaft und Wissenschaft, um Politik und Macht.
Angela Merkel kommt aus Mecklenburg-Vorpommern und wurde, als sie noch
nicht Bundeskanzlerin war, auch schon mal „Zonenwachtel“ genannt. Das
passiert den Wendekindern heute nicht mehr. Selten werden sie gefragt,
woher sie kommen, sie machen im Osten wie im Westen Karriere. Lettrari ist
Verlagskauffrau, Politik- und Kommunikationswissenschaftlerin und arbeitete
im Bundestagsbüro des damaligen Grünen-Abgeordneten Fritz Kuhn. Sadowski
studierte Betriebswirtschaft und Energiepolitik, er lebte in Belgien und in
den Niederlanden.
Die Wendekinder nutzen die Chancen, die ihnen die neue Zeit bietet, zu
hundert Prozent. Sie sprechen mehrere Sprachen, sie kommen in der Welt
herum und haben keine Angst vor der Zukunft. Sie haben ihre Eltern überholt
und wollen sich nun revanchieren und „der Gesellschaft etwas zurückgeben“.
Sie nennen es „Point Zero“, den „Beginn von etwas Neuem“.
Aber wie macht man das? Reden allein reicht nicht. Und es reicht ebenso
wenig, sich immer nur über Ost und West und die „Transformationskompetenz“
der Wendekinder auszutauschen. Da müssen jetzt auch MigrantInnen her, das
Netzwerk will sich öffnen. Die dritte Generation Ost und manche junge
Menschen mit Migrationshintergrund scheinen einiges gemeinsam zu haben:
Bildungshunger, Mobilität, Flexibilität. Sie wollen anerkannt sein und
nicht reduziert werden auf ihre Herkunft. Eine von ihnen ist Esra Kücük,
30, Hamburgerin, türkischer Migrationshintergrund, heute Chefin der Jungen
Islamkonferenz. Beim Treffen in Berlin sagt sie: „MigrantInnen und
Wendekinder tragen hybride Identitäten in sich. Damit können sie eine
entscheidende Rolle als Mittler einnehmen.“ Das klingt gut. Aber
funktioniert das auch?
So wiedervereinigungsunverletzt und so weitsichtig, wie sich die dritte
Generation Ost gern gibt, ist sie nicht in jedem Fall. Wenn ein junger
Soziologe auf dem Treffen in Berlin beklagt, dass viele Westdeutsche immer
noch nicht im Osten waren, zeigt sich darin erneut die große ostdeutsche
Wut gegenüber westdeutscher Ignoranz. Gleichzeitig ist der Osten dem Westen
offensichtlich nicht so egal, wie der immer behauptet. Zumindest nennt der
Spiegel-Autor Georg Diez es „bräsig“, dass schon wieder ein Ostdeutscher
den Deutschen Buchpreis gewonnen hat.
Nun kann man Diez’ Einschätzung als Neid abtun. Man kann es aber auch so
sehen: Da sitzt einer, der im Westen überbehütet aufgewachsen und als
45-Jähriger gut gesattelt ist, in einer Runde Ostdeutscher und MigrantInnen
und macht sich nicht einmal die Mühe, sich kulturell zu öffnen. Er redet
und redet und redet, um dann zu sagen: „Typischer westdeutscher
Ego-Shooter.“ Das sollte (selbst)ironisch sein, gelacht hat aber niemand.
Später nuschelt er noch irgendwas vor sich hin, dann sagt er: „Jaja, die
Westdeutschen, reden immer Englisch.“ Der Satz, den er nicht sagt, wohl
aber denkt, lautet: Im Osten versteht ja sowieso keiner Englisch.
Stimmt. Aber das war vor der Wende. Bräsig heißt ins Englische übersetzt
übrigens sluggish.
26 Oct 2014
## AUTOREN
Simone Schmollack
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.