# taz.de -- Armut in Berlin: „Wir brauchen mehr Empörung“ | |
> Seit zehn Jahren gibt es bei „Laib und Seele“ Lebensmittel für Bedürfti… | |
> zu günstigen Preisen. „Tafel“-Gründerin Sabine Werth zieht eine Bilanz. | |
Bild: Anstehen für gespendetes Brot: Auch das ist Alltag in Berlin. | |
taz: Frau Werth, vor zehn Jahren etablierte die Tafel zusammen mit Kirchen | |
und dem RBB ein Netz von Ausgabestellen, in denen Bedürftige Lebensmittel | |
bekommen. Die Tafel ist eine säkulare Einrichtung. Wie kam es zu dieser | |
Zusammenarbeit? | |
Sabine Werth: Vor gut zehn Jahren sagte ich in einem Interview im | |
Kulturradio, dass Berlin einfach zu groß sei, um die gesamte Bevölkerung zu | |
erreichen. Die Leute mussten schwarz fahren, um zu den teilweise weit | |
entfernten Ausgabestellen zu gelangen. Nach der Sendung sprach mich | |
Friederike Sittler an, die Leitung der Redaktion ’Kirche und Religion‘. Sie | |
hat gute Kontakte zur Kirche. Zusammen gewannen wir immer mehr | |
Kirchengemeinden für die Zusammenarbeit. Pfarrer, Kirchenmitarbeiter und | |
zahlreiche Ehrenamtliche vor Ort sammeln seither Lebensmittelspenden und | |
geben sie einmal pro Woche an Bedürftige aus. Heute haben wir 45 | |
Ausgabestellen über die ganze Stadt verteilt. | |
Wie funktioniert die Essensausgabe genau? | |
Fertiges Essen haben wir nicht, wir sind keine Suppenküche! Bei „Laib und | |
Seele“ gibt es Lebensmittel, aus denen man sich zu Hause selbst etwas | |
zubereiten kann. Das ist uns wichtig: Wir wollen, dass die Menschen das | |
Essen zu Hause erleben, also einen ganz normalen Alltag leben können. Laib | |
und Seele verteilt keine Almosen: Je nach Ausgabestelle zahlen die Kunden | |
ein bis zwei Euro. Die Grundversorgung muss Aufgabe des Staates bleiben. | |
Unser Angebot ist nur eine zusätzliche Unterstützung. | |
Wie viele Berliner nehmen das Angebot von Laib und Seele in Anspruch? | |
Seit ein paar Jahren etwa 48.000 Menschen. Die Zahl bleibt recht konstant, | |
aber die Zusammensetzung der Gruppe verändert sich: Es kommen immer mehr | |
Asylbewerber. Und Senioren. Die Menschen, die jetzt ins Rentenalter kommen, | |
nehmen Hilfe eher in Anspruch als noch vor ein paar Jahren. Auch in | |
vermeintlich wohlhabenden Bezirken: In Charlottenburg-Wilmersdorf bräuchte | |
es dringend noch eine weitere Ausgabestelle. Da sind wir auf der Suche nach | |
einer passenden Kirchengemeinde. | |
Wieso arbeiten Sie nur mit Kirchen zusammen? Ist das für einige Menschen | |
nicht eine zusätzliche Hemmschwelle? | |
Anfangs haben wir auch versucht, die Lebensmittelausgabe in sozialen | |
Einrichtungen zu etablieren. Das hat aber nicht geklappt. Die Kirchen | |
bieten einfach eine verlässliche Infrastruktur. Wir achten allerdings | |
darauf, dass vor Ort nicht missioniert wird. Das Angebot muss für alle | |
offen sein. Neben den Lebensmitteln gibt es auch Beratung und Hilfe. Die | |
leisten viele ehemalige Bedürftige, die jetzt als Ehrenamtliche andere | |
betreuen. | |
Ein Erfolg. Trotzdem wird der Tafel vorgeworfen, Armut nur zu zementieren. | |
Wie stehen Sie dazu? | |
Glauben Sie mir: Ich bin auch zwiegespalten, was unser Jubiläum angeht. Es | |
gibt jetzt schon die zweite Generation Bedürftiger: Die kamen früher mit | |
den Eltern, jetzt haben sie ihren eigenen Haushalt. Das ist deprimierend. | |
Eigentlich sollte unsere Gesellschaft irgendwann so verfasst sein, dass wir | |
keine Lebensmittelspenden mehr brauchen. Aber die Hilfsangebote als Erstes | |
abzuschaffen, um den Leidensdruck zu erhöhen, ist meiner Meinung nach der | |
falsche Weg. Wir bräuchten mehr öffentliche, politische Empörung über | |
Armut. Aber da sehe ich wenig Bewegung. | |
Zum 10-jährigen Jubiläum fordern Sie die Berliner zum Lebensmittelspenden | |
auf: Heute und morgen von 10 bis 14 Uhr in den örtlichen Ausgabestellen. | |
Auch Prominente wie Wolfgang Thierse kommen – mit Schrippen? | |
Ich hoffe, Herr Thierse lässt die Backwaren zu Hause. Wir sammeln nur | |
Haltbares wie Kaffee, Reis oder Konserven. Mal sehen, ob wieder so eine | |
skurrile Spende dabei ist wie 1995: da bekamen wir Milchpulver aus einem | |
original Care-Paket von 1945. Es war zwar noch lange haltbar, aber wir | |
haben es dann doch dem Museum gegeben. Originell war auch die | |
Hummercremesuppe – mit Ablaufdatum von 1976! Wenn jemand aber noch | |
Plätzchen vom Fest übrig hat: Die nehmen wir gerne. | |
3 Jan 2015 | |
## AUTOREN | |
Nina Apin | |
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