# taz.de -- GSO: Gute Schule ist machbar | |
> Lange hatte die Bremer Gesamtschule Ost ein Schmuddelkind-Image. Heute | |
> gilt sie als Vorzeigeschule und hat viele Preise gewonnen. Wie hat sie | |
> das geschafft? | |
Bild: Sing deine Medodie des Lebens - die Deutsche Kammerphilharmonie holt die … | |
Eine Gruppe von jugendlichen Schülern sitzt in dem weitläufigen Flur des | |
Schulgebäudes, einige reden. Es sieht so aus wie in vielen Schulen, doch | |
keiner simst und chattet, niemand starrt abwesend auf sein Smartphone. Wir | |
schreiben 2015 – wie kann das sein? Auf der Jungs-Toilette finden sich | |
keine Graffitis – wie kann das sein? Beim 40-jährigen Schuljubiläum spielen | |
Musiker der Deutschen Kammerphilharmonie – auf einem Zwischenstopp zwischen | |
den Salzburger Festspielen, dem japanischen Yokohama und New York. Niemand | |
fand das ungewöhnlich. Wie kann das sein? | |
Die „Gesamtschule Ost“ (GSO), das zeigt schon ihr Name, in Bremen ist ein | |
Kind der sozialdemokratischen Bildungspolitik der 1970er-Jahre. Heute | |
werden Schulen auch in Bremen nach „Alexander-von-Humboldt“ oder | |
„Albert-Einstein“ benannt, damals war man sachlich schlicht: „Gesamtschul… | |
war das Programm und „Ost“ der Brennpunkt-Stadtteil im Bremer Osten mit | |
Hochhäusern und einem Migrantenanteil von beinahe 40 Prozent. Menschen aus | |
88 Nationen leben hier und für über 60 Prozent der Kinder gehört Hartz IV | |
zur täglichen Realität. | |
Die GSO wurde bald zum Schmuddelkind sozialdemokratischer Schulpolitik – | |
gut gemeint und schlecht gemacht. Sozialdemokraten, die anfangs große | |
Hoffnungen in dieses Schulmodell gesetzt hatten und auch aus anderen | |
gutbürgerlichen Stadtteilen ihre Kinder hierher schickten, meldeten sie ab. | |
Nach dem ersten Pisa-Schock für Bremen erklärte der damals in Bremen | |
regierende Bürgermeister Henning Scherf, selbst zeitweise Bildungssenator, | |
die Ergebnisse seien auch eine Quittung für die Fehler sozialdemokratischer | |
Schulpolitik. Es gab Diskussionen, die Schule zu schließen. „Auf dem | |
Tiefpunkt wurden nicht einmal die Kinder hier aus dem Stadtteil in diese | |
Schule geschickt“, erinnert sich Franz Jentschke. Er hat den Tiefpunkt | |
miterlebt, seit 1975 ist er als Lehrer dabei. | |
Und er hat den Weg nach oben geprägt: Seit 1990 ist Jentschke Schulleiter. | |
Die Liste der Zeichen öffentlicher Anerkennung für Jentschke und „seine“ | |
GSO ist lang: Schüler dieser Schule haben den Hildegard-Hamm-Brücher-Preis | |
für demokratisches Handeln erhalten. Im Juli 2014 hat der Bundespräsident | |
Schülerinnen und Schüler der GSO zusammen mit Musikern der Deutschen | |
Kammerphilharmonie im Schloss Bellevue empfangen. Die | |
Heraeus-Bildungsstiftung ist auf den Schulleiter Jentschke aufmerksam | |
geworden und hat ihn in ihren Beirat und in die Jury des deutschen | |
Schulpreises berufen. Und die Kammerphilharmonie wurde Echo-Preisträger für | |
ihr Projekt „Zukunftslabor“ – eine Kooperation zwischen den | |
Weltklasse-Musikern und den Schülern des Brennpunkt-Stadtteils an dieser | |
Schule. „Melodie des Lebens“ heißt das Projekt, das die klassischen Musiker | |
mit den SchülerInnen jedes Jahr organisieren – eine Show, in der | |
Jugendliche, die sich am Anfang oft für vollkommen unmusikalisch halten, | |
nach vorn gehen und vor vollem Saal die „Melodie ihres Lebens“ singen, die | |
sie vorher zusammen mit dem bekannten Musiker und Songtexter Mark Scheibe | |
erarbeitet haben. „Die Shows sind Kult“, sagt Gunther Schwiddessen, Geiger | |
bei der Kammerphilharmonie. Tradition hat inzwischen auch die | |
„Stadtteiloper“, an der mehrere Hundert Schüler beteiligt sind. „Solche | |
Auftritte stärken das Selbstbewusstsein der Kinder ungeheuer, das merkt man | |
im Schulalltag“, sagt Musiklehrer Thomas Röhrs. | |
## Der steinige Weg nach oben | |
Wie macht man das, eine Schule aus einer Schmuddelecke nach oben zu | |
bringen? Schulleiter Jentschke fallen auf diese Frage Sätze ein wie: „Die | |
Schüler wollen sich doch wohl fühlen.“ Dazu gehört auch, dass man ohne | |
Ekelgefühle auf die Toilette gehen kann. Die Schule muss dieses | |
„Wohlfühlen“ ermöglichen, muss Angebote machen, die herausführen aus dem | |
Teufelskreis von Frust und Aggression und Versagen. „Eine friedfertige und | |
gute Stimmung zieht die Menschen wie ein Magnet an“, sagt Jentschke. | |
Musiklehrer Röhrs sagt, er sei von einer Privatschule an die GSO gekommen | |
und „sehr überrascht“ über die freundliche Kultur des Umgangs gewesen. | |
Viele der Lehrer engagieren sich weit über ihr Stundenkontingent hinaus. | |
Das ist normal, schließlich ist der Schulleiter rund um die Uhr für die | |
Schule da. Wenn am Wochenende was im Stadtteil los ist – Beirat, | |
Stadtteilgruppen, Feste, Umzüge – Jenschke geht hin. Einmal beklagte sich | |
eine Geschäftsfrau eines Lädchens an der Ecke, dass sie sich von | |
Jugendlichen belästigt fühlte. Jentschke ging in der großen Pause hin und | |
stellte sich hinter den Vorhang. Das sprach sich herum wie ein Lauffeuer. | |
Zu den Geheimnissen des Erfolges gehört aber mehr. Zum Beispiel, | |
anspruchsvolle Ziele zu setzen: „Ich habe mich nie duzen lassen von den | |
Schülern“, sagt Rosemarie Steinbacher. 17 Jahre lang war sie Lehrerin an | |
der GSO und hat dafür gestritten, dass die Schule ihr Niveau nicht allzu | |
sehr senkt bei dem Bemühen, Kinder aus schwierigen Familien „abzuholen“. In | |
den Fortbildungen an der Schule hat der Gehirnforscher Gerhard Roth neue, | |
neurologische Gründe für eine alte pädagogische Weisheit gebracht: | |
Erfolgreich können Lehrer nur dann sein, wenn die Schüler vor ihnen Respekt | |
haben. | |
Aber Schule ist nicht nur Mathematik, Deutsch und Englisch. Insbesondere | |
wenn man die Schüler bei ihren Talenten packen will, wenn man bildungsferne | |
Jugendliche aus dem „Null Bock“-Teufelskreis herausholen will, dann ist | |
Schule auch Musik, Kunst, Theater, Sport. Das sind die Bereiche, in denen | |
eine Schule für Jugendliche ein „Gesicht“ bekommen kann. | |
Als der Fußballbund Anfang der 1990er-Jahre bekannt gab, dass er für seine | |
Talentschmiede Kooperationsschulen suchte, hat die GSO sich beworben. Aber | |
der Schulleiter hatte kein SPD-Parteibuch, den Zuschlag erhielt eine andere | |
Schule in Bremen. | |
Irgendwann später brachte ein Lehrer einen Zeitungsartikel über | |
Musikschulen mit, ein Beispiel aus der Schweiz. Die Idee fiel auf | |
fruchtbaren Boden: Die GSO gründete ihre erste Musikklasse. Musik als | |
zusätzliches Hauptfach in einem Migranten-Stadtteil? Schulleiter Jentschke | |
erinnert sich: „Wir haben gesagt: Die Schulbehörde fragen wir lieber nicht, | |
wir machen das einfach. Die Lehrerstunden dafür hätte ich ja sowieso nicht | |
bekommen. Ich musste also anderen Fächern etwas wegnehmen.“ Erst gab es | |
kritische und skeptische Stimmen, dann aber zeigte sich: Diese Klassen | |
hatten ein anderes Lernklima, das Musik-Profil strahlte aus auf die anderen | |
Fächer. Das Muster des Musizierens – vorn steht der Dirigent und man kann | |
nur etwas erreichen, wenn man gemeinsam dafür arbeitet – schienen die | |
Schüler zu übertragen auf den anderen Unterricht. | |
Andere Fachlehrer wollten nun auch „Profile“, zuerst sagten Kunst- und | |
Theater-Lehrer „Ich auch“. Inzwischen gibt es nur noch Profil-Klassen an | |
der GSO, auch „Sprachen“ ist eines der Profile. Und „Naturwissenschaften | |
mit Sport“. Diese überraschende Kombination ist gewollt: Wenn die Schule | |
nur Sport anbieten würde, dann würden die Fußball spielenden Jungs | |
dominieren. Das wäre zu wenig. | |
Die GSO würde gern zwei Musikklassen pro Jahrgang anbieten. Das aber | |
scheitert an der Schulbehörde. Die GSO ist beliebt, sie hat mehr | |
Anmeldungen als Plätze, und das bedeutet: Wenn sich ein Schüler anmeldet, | |
der in der Grundschulzeit schon Geigenunterricht hatte, dann ist das | |
Musik-Profil kein Argument – im Zweifelsfall wird ausgelost, wer an diese | |
Schule darf. So arbeitet die Schulverwaltung. | |
Es sind viele kleine Bausteine, die eine gute Schule ausmachen. Zum | |
Beispiel setzt die Gesamtschule den fächerübergreifenden Unterricht in den | |
Naturwissenschaften in den neunten und zehnten Klassen fort. Im Lehrplan | |
findet sich das nicht, die Lehrer werden dafür auch nicht ausgebildet. Aber | |
es ist sinnvoll, um diese Fächer auch in diesen Jahrgangsstufen | |
„problemorientiert“ unterrichten zu können. Also wird es gemacht. Die | |
Lehrer erhalten schulinterne Fortbildungen, die nur an der GSO stattfinden. | |
Es ist allerdings nicht so, dass die Bremer Schulpolitik überhaupt nichts | |
gelernt hätte. In den 1970er-Jahren gab es den fatalen Beschluss, die | |
Schulen „horizontal“ zu gliedern. Nicht nur die Schulzentren der | |
„Mittelstufe“ sollten Haupt-, Real- und Gymnasial-Schüler mal kooperativ, | |
mal integriert zusammenfassen, in der gymnasialen Oberstufe sollten die | |
Schüler mit den Berufsschülern zusammenkommen. Die Folge: Bremer | |
Gesamtschulen führten nicht zum Abitur. Die GSO war durch eine | |
undurchlässige Wand von einer „gymnasialen Oberstufe“ getrennt, wenige | |
Meter Luftlinie, keine offene Tür in der Mauer. | |
Der Bildungssenatorin Renate Jürgens-Pieper (SPD) ist es zu verdanken, dass | |
diese unsinnige Struktur radikal abgeschafft wurde – die benachbarte | |
Oberstufe kam 2008 per Verfügung unter das Dach der Gesamtschule. | |
Oberstufenschüler sind für ein lebendiges Schulleben unverzichtbar. Sie | |
stellen den mittleren Jahrgängen vor Augen, wohin es gehen könnte. Das | |
Vorbild der Oberstufenschüler ist entscheidend für Musik- und | |
Theaterprojekte. | |
## Der Deal mit der Fläche | |
Trotzdem, wenn die Gesamtschule Ost sich auf die Schulbehörde verlassen | |
hätte, wäre wenig passiert. Auch die Kooperation mit der Deutschen | |
Kammerphilharmonie unter ihrem Dirigenten Paavo Järvi gäbe es nicht. | |
Typisch ist die Geschichte, wie es dazu gekommen ist. Die Schulbehörde | |
hatte herausgefunden, dass die GSO über 1.000 Quadratmeter „zu viel“ Fläc… | |
verfügte nach irgendwelchen Richtzahlen. Es gab mehrere Ideen. Die Aula | |
sollte abgerissen werden. Die Schule wehrte sich mit dem Argument: Das | |
Musik-Profil braucht die Aula täglich. Dann kam irgendwann die | |
Immobilienfirma der Schulbehörde mit der Idee, einen Teil des | |
Gebäudekomplexes einfach zu vermieten. „Ich wurde in die Behörde bestellt | |
und man sagte mir: Wir haben einen Untermieter“, erinnert sich Schulleiter | |
Jentschke. Da saß dann Albert Schmitt, der Geschäftsführer der | |
Kammerphilharmonie. Die suchten gerade neue Probenräume. Man hatte sie | |
beruhigt mit der Prognose, dass die Schule das sowieso strikt ablehnen | |
würde. Jentschke reagierte wie erwartet eigenwillig, nur anders: „Ich habe | |
sofort gesagt: Das ist eine sensationelle Idee. Etwas Besseres kann uns | |
nicht passieren. Das Gespräch war in fünf Minuten zu Ende.“ | |
Albert Schmidt musste seinen Musikern erklären, wo die Walliser Straße in | |
Bremen-Ost ist. Die ungleichen Partner lernten sich schnell kennen – und | |
schätzen: Das soziale Engagement in der Schule gehört inzwischen zum Image | |
des Weltklasse-Orchesters. Und es macht auch den Musikern Spaß, wenn sie in | |
dem Projekt „Melodie des Lebens“ eine Schülerin begleiten, die in einem | |
Lied das zerrüttete Verhältnis zu ihrem Vater besingt oder den jugendlichen | |
Rapper Sinan, der erst den Satz „Ich kann nicht singen“ herausstieß und | |
sich dann doch davon überzeugen ließ, daraus einen Song zu machen. | |
Einer der Lehrer an der Gesamtschule Ost ist Nachbar des Bremer | |
Gehirnforschers Gerhard Roth. Auch das ist so ein Zufall, der zu einer | |
Chance entwickelt wurde. Der Gehirnforscher und Philosoph hat das Buch | |
„Bildung braucht Persönlichkeit“ geschrieben, in dem er erklärt, was | |
Psychologen und Biologen inzwischen über die Bedingungen nachhaltigen | |
Lernen wissen (siehe Interview rechts). Aus dem Zufall der Nachbarschaft | |
wurde eine Arbeitsbeziehung: Roth kommt regelmäßig an die Schule, macht | |
Lehrerfortbildungen, begleitet ein kleines Stück Schulreform, in dem seine | |
Vorschläge auf ihre Praxistauglichkeit erprobt werden sollen. Das ist | |
mühsame Arbeit. „Wenn ich vor Lehrern einen Vortrag halte, wie ich das | |
öfter tue, sagen hinterher die meisten: Das klingt ja überzeugend“, sagt | |
Roth, „aber es ändert sich nichts.“ | |
Roths Konzept: keinen 45-Minuten-Takt, stattdessen den ganzen Tag ein | |
Themengebiet, fächerübergreifend, methodenübergreifend. In allen fünften | |
Klassen gibt es das an der Gesamtschule Ost „Roth-Tage“, so nennen die | |
Schüler diese Projekt-Tage. | |
Das klingt banal, ist aber kompliziert. Der ganze Stundenplan muss danach | |
aufgebaut werden, Lehrerteams müssen gebildet werden, Vorbereitungszeit | |
eingeräumt werden. Hat die Behörde das genehmigt? „Warum? Ich verantworte | |
das“, antwortet Jentschke. Aber interessiert sich die Schulbehörde nicht | |
wenigstens dafür, was da an der Gesamtschule Bremen gemacht wird? Jentschke | |
leise: „Nö.“ | |
## Stoff fürs Langzeitgedächtnis | |
Der Impuls, den die Schule dem Gehirnforscher verdankt, zieht Kreise. | |
Jentschke erklärt das so: Normalerweise lernen SchülerInnen für die nächste | |
Klassenarbeit. Tests bestätigen, wie wenig davon ein halbes Jahr später | |
noch hängen geblieben ist. Der Erziehungswissenschaftler Reinhard Kahl, den | |
Jentschke inzwischen auch zu den „Freunden“ seiner Schule zählt, nennt das | |
polemisch „Bulimie-Lernen“. | |
In einer normalen Unterrichtsstunde von 45 Minuten findet im Durchschnitt | |
maximal zehn Minuten effektives Lernen statt. Damit sich in den Köpfen | |
etwas festsetzt, müssen die Schüler emotional dabei sein. Und | |
Lehrpersönlichkeiten müssen das Thema mit Empathie den Schülern | |
nahebringen. Und konsequent wiederholen – nach drei Stunden, nach drei | |
Wochen, nach drei Monaten. „Erst dann hat es eine Chance, im | |
Langzeitgedächtnis einen festen Platz zu bekommen“, sagt Jentschke. „Wenn | |
ich mich als Lehrer dahinstelle und sage: Das sind die binomischen Formeln, | |
die sind wichtig, dann rauscht das an den Schülern vorbei.“ | |
An den „Roth-Tagen“ versuchen die Lehrer eben, das anders zu machen. Und | |
wie finden die Kollegen das so, Herr Jentschke? „Meine Lehrer sind | |
begeistert.“ | |
24 Jan 2015 | |
## AUTOREN | |
Klaus Wolschner | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |