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# taz.de -- Istanbuler Viertel vor dem Abriss: Villen statt Roma
> Sie wohnen seit über tausend Jahren in ihrem Viertel: Die Roma von
> Istanbul. Nun soll die Siedlung abgerissen werden - und Platz machen für
> die Villen der Oberschicht.
Bild: Istanbul will moderner werden - auch auf Kosten der Sinti und Roma.
Das Viertel hat entschieden bessere Tage gesehen. Einst stattliche alte
Holzhäuser sind vom Zahn der Zeit zernagt, manche werden nur noch durch
Stützbalken am Nachbarhaus gehalten, aus anderen starren leere
Fensterhöhlen. Durch die verwinkelten Gassen von Sulukule pfeift der Wind,
es regnet und ist kühl. Was im Sommer noch pittoresk erscheinen mag, ist
jetzt, an einem lausigen Vorfrühlingstag, nur noch trist. So wie das Wetter
ist auch die Stimmung der Bewohner des traditionsreichsten Istanbuler
Roma-Viertels. Die Männer im Café - Frauen sind nicht zu sehen - sind
schlecht gelaunt, teilweise regelrecht verbittert.
Einer von ihnen ist Hasan, 48 Jahre alt. Wie die meisten Roma in Sulukule
ist Hasan Musiker. Gemeinsam mit zwei Freunden spielt er in einer
Zigeunerband Klarinette, abends in Kumkapi, dem Tavernenviertel unten am
Marmarameer. Mit den paar Lira, die er dort verdient, kommt er nicht weit,
schließlich muss er eine Frau und fünf Kinder durchbringen. "Das wird von
Tag zu Tag schwieriger", sagt er. Aber hat er eine Alternative? "Die Musik
ist unser Leben, das war in unserer Familie schon immer so." Auch für seine
Kinder wird das so sein, alle lernen sie Geige oder Klarinette. "Schule ist
nicht so wichtig", erklärt Hasan, "wenn sie nur gute Musiker werden."
Hasan erinnert sich noch lebhaft an seine guten Zeiten als Musiker. Damals,
vor zwanzig Jahren, als Sulukule selbst noch ein Musikzentrum war, als er
nicht nach Kumkapi oder Beyoglu fahren musste, um dort durch die Kneipen zu
tingeln. Als die Leute noch selbst nach Sulukule kamen, wenn sie Musik
hören wollten. Berühmte Musiker - Hasan zählt aus dem Stand gleich etliche
auf - sind hier groß geworden, Sulukules Musikhäuser, davon ist nicht nur
Hasan überzeugt, waren die besten der Stadt.
Doch das ist Geschichte, und jetzt soll auch Sulukule verschwinden. Die
Istanbuler Stadtverwaltung will den "innerstädtischen Slum", wie sie sagt,
sanieren. Die Gegend sei ein Schandfleck. Dabei hat Sulukule eine lange
Geschichte. Seit über tausend Jahren leben in dem Viertel Roma.
Doch derlei ficht Bezirksbürgermeister Mustafa Demir nicht an. "Kultur ist
ja gut und schön", sagte er, "aber wir können die Kinder doch nicht länger
in diesem Dreck aufwachsen lassen." Demir gehört zu den aufstrebenden
Politikern der regierenden AKP von Ministerpräsident Tayyip Erdogan, die
aus Istanbul endlich eine saubere Stadt machen wollen und dabei jede Menge
Geld in die Taschen ihrer Klientelen leiten. Sulukule ist ein gutes
Beispiel für diese Politik, die auch an etlichen anderen Stellen Istanbuls,
vorzugsweise im lukrativen Innenstadtbereich, durchgesetzt wird. Mit dem
Schlagwort von der sauberen Stadt und unter Verweis auf die Gefahr, die die
marode Bausubstanz im Fall eines Erdbebens darstellt, macht sich die AKP
seit einigen Jahren daran, Istanbul nach ihrem Bild zu formen. Unterstützt
wird sie von Mandatsträgern wie Erdogan, der früher Oberbürgermeister von
Istanbul war, über den jetzigen Oberbürgermeister Kadir Topbas bis hin zu
den Bezirkschefs, die meist ebenfalls der AKP angehören. Zigeuner stören da
nur.
"Sulukule", sagt Adrian Marsh, "ist einer der ältesten Orte weltweit, an
denen Roma sesshaft wurden." Der Rom aus England lebt seit Jahren in der
Türkei, er arbeitet hier an seiner Doktorarbeit über die Geschichte der
Roma in Anatolien. Bereits vor gut tausend Jahren, sagt er, zur Zeit des
byzantinischen Kaiserreichs, hätten Roma als die Entertainer des
Mittelalters im Schatten der großen Stadtmauer von Konstantinopel ihre
Zelte aufgeschlagen. Sie spielten vor römischen Kaisern genauso wie später
am Hofe des Sultans. Roma erzählen einander, selbst Atatürk hätte in den
Dreißigerjahren noch Sulukule besucht und sich dort prächtig unterhalten.
Über Jahrhunderte, sagt Marsh, war Sulukule ein Treffpunkt für Roma aus
Anatolien und vom Balkan.
Heute haben die Roma das Pech, in einer besonders attraktiven Gegend
Istanbuls zu leben. Der Stadtteil Fatih, zu dem Sulukule wie der größte
Teil der historischen Halbinsel gehört, hat sich seit den Siebzigerjahren
zum bevorzugten Wohngebiet der frommen Muslime entwickelt. Nirgendwo sonst
in Istanbul ist der schwarze Schleier bei den Frauen so präsent. Parallel
zu dieser Entwicklung stieg der soziale Druck auf Sulukule. Anfang der
Neunzigerjahre wurden die Musikhäuser, in denen die Roma-Künstler zu "Wein,
Weib und Gesang" ihre Musik machten, als unmoralisch geschlossen. Was der
AKP nach ihrer Wahl 1994 im europäischen Amüsierviertel Beyoglu nicht
gelang, setzte sie in Sulukule schon damals durch.
Jetzt soll Sulukule ganz verschwinden. An seiner Stelle sollen Stadtvillen
entstehen, die den Bedürfnissen der neuen islamischen Oberschicht
entsprechen. Oberbürgermeister Topbas will die gesamte historische
Altstadt, in der noch viele, wenn auch meist heruntergekommene
traditionelle Holzhäuser stehen, durchsanieren und durch Neubauten
ersetzen. "Neo-Osmanisches Disneyland" nennen das Kritiker wie der linke
Stadtplaner Korhan Gümüs. Erst kürzlich informierten die Kritiker der
Stadtplanung darüber, die Unesco habe damit gedroht, Istanbul von der
Weltkulturerbe-Liste zu streichen, wenn bei der Sanierung nicht darauf
geachtet werde, die sozialen Strukturen zu erhalten.
Nun heißt es zwar offiziell, die jetzigen Hausbesitzer in Sulukule könnten
ja mit einem entsprechenden Kredit später ein neues Haus statt ihres alten
erwerben. Doch jeder in Sulukule weiß, dass das weder realistisch noch
erwünscht ist. Für ein Hundert-Quadratmeter-Grundstück werden den Besitzern
zwar 25.000 Euro Entschädigung angeboten. Das Geld kommt aber auf ein
Sperrkonto und soll erst nach fünf Jahren, wenn juristisch alles geklärt
ist, ausgezahlt werden.
Baufirmen, vorzugsweise solche mit guten Kontakten zur AKP, bieten den
Besitzern deshalb statt der 25.000 Euro in fünf Jahren 30.000 sofort an.
Auf diese Weise haben einschlägige Baufirmen bereits große Teile Sulukules
aufgekauft. Nach der Sanierung werden sie ein Vielfaches an den
Grundstücken verdienen. Einziges Problem sind momentan nur noch die
jetzigen Bewohner der Häuser.
Die sind meist Mieter. Hasan zahlt für die Hütte, in der er mit seiner
Familie lebt, 65 Lira, das sind 40 Euro. Für dieses Geld würde er in
Istanbul schwerlich eine neue Bleibe finden. Die Stadtverwaltung bietet den
Roma zwar Ersatzquartiere an, aber die liegen in einem vierzig Kilometer
entfernten Vorort, außerdem sollen sie dort 300 Lira Miete zahlen. Hinzu
kommt, dass sie von der dortigen Bevölkerung abgelehnt werden, die Leute
wollen keine Zigeuner in der Nachbarschaft haben.
Also bleibt Hasan hier. Genau wie alle anderen, die im Nachbarschaftscafé
versammelt sind. Cihas, der mit am Tisch sitzt, ist schon vor Jahren aus
einem anderen, kleineren Romaviertel umgesiedelt worden. Sein Haus wurde
für den Bau einer Schnellstraße plattgemacht. Dort, wo er jetzt lebt, fühlt
er sich überhaupt nicht wohl. Fast jeden Tag kommt er nach Sulukule, um
sich hier mit seinen Leuten zu treffen. Mit Unterstützung mehrerer
Nichtregierungsorganisationen versuchen nun alle gemeinsam, die Vernichtung
von Sulukule doch noch abzuwenden.
Sie haben ein vierzig Tage dauerndes Festival veranstaltet, sie sind zur
Menschenrechtskommission des türkischen Parlaments nach Ankara gefahren,
die Grünen-Fraktion des Europaparlaments hat sogar einige ihrer Aktivisten
zu einer Veranstaltung nach Brüssel eingeladen. Genützt hat es nichts.
Einer, der überall dabei war, ist der 58-jährige Mehmet Arsi Halag. Der
Mann mit dem imposanten weißen Bart hat vor langer Zeit gemeinsam mit
Tayyip Erdogan die Schulbank gedrückt. Als er nicht mehr weiterwusste, hat
er Erdogan einen Brief geschrieben. Eine Antwort kam nicht. Stattdessen
wurden Tatsachen geschaffen. Vor einigen Wochen rückten im Morgengrauen zum
ersten Mal die Bulldozer an. Zehn Häuser einer Roma-Sippe, die nicht zu
Hause war, wurden plattgemacht. Aus Versehen, wie die Stadtverwaltung
später behauptete. Doch solche Versehen haben System. Immer wieder werden
einzelne Häuser gezielt unbewohnbar gemacht, um die Leute nach und nach zu
vertreiben.
Doch Mehmet, Hasan, Cihas und ihre Nachbarn lassen sich nicht
einschüchtern. "Wenn sie unsere Häuser zerstören, werden wir auf den
Trümmern Zelte aufschlagen", kündigt Hasan an. "Die müssen uns hier schon
mit Gewalt wegschaffen."
12 Mar 2008
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
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