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# taz.de -- Plädoyer: unschuldig
> Rechtfertigung, Allegorie, Bild der wilden Frau. Christa Wolfs „Medea.
> Stimmen“ zieht einen grandiosen Zirkel von der Antike zur Gegenwart  ■
> Von Anke Westphal
Wer in einer Ost- West-Zwischenwelt lebt – hier ein nicht ganz
abgeschlossenes Leben, dort ein angefangenes –, versteht wohl die
Dankbarkeit, die sich einstellt, wenn man auch nur auf den winzigsten
Gedanken trifft, der einem hilft zu sortieren. „Achronie ist nicht das
gleichgültige Nebeneinander, sondern eher ein Ineinander der Epochen nach
dem Modell eines Stativs, eine Flucht sich verjüngender Strukturen. Man
kann sie auseinanderziehen wie eine Ziehharmonika, dann ist es sehr weit
von einem Ende zum anderen, man kann sie aber auch ineinander stülpen wie
die russischen Puppen, dann sind die Wände der Zeiten einander ganz nah.
Die Leute aus dem anderen Jahrhundert hören unser Grammophon plärren, und
wir sehen durch die Zeitwände hindurch, wie sie die Hände heben zum lecker
bereiteten Mahle.“
Das Zitat stammt von der Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Lenk, und
Christa Wolf hat es ihrer neuen Prosaarbeit „Medea. Stimmen“ gewiß nicht
zufällig vorangestellt. Der antiken Sage nach hat die kolchische
Königstochter Medea nicht nur ihr Land verraten, indem sie dem Argonauten
Jason das Goldene Vlies übergab, sie soll auch ihren Bruder und ihre zwei
Söhne getötet und Glauke, die neue Geliebte Jasons, durch ein vergiftetes
Hochzeitskleid umgebracht haben. Bei Christa Wolf ist Medea jedoch –
Sensation! – unschuldig. Wolf macht Medea zur aktuellen Akte, zum Fall
„Medea“, den sie der legendären Grausamkeit entkleidet, indem sie die
Geschichte neu erzählt, und zwar aus der Sicht einer Autorin, die mit dem
Zusammenbruch des Sozialismus selbst den Niedergang eines gelobten Reiches
samt Verrat und Flucht erlebte und die selbst des Verrats beschuldigt
wurde. Man muß also nichts über die Antike und Euripides' Tragödie wissen,
um Christa Wolfs Buch verstehen zu können.
## Mythologie mit Kassiberpotential
Lassen wir uns also „zu den Alten“ herab, wie Wolf schreibt – „oder hol…
sie uns ein?“ Das Absteigen in die Geschichte „an einem langen Seil“, der
psychoanalytische Ansatz von „Medea“, geht geradewegs in einen mitleidenden
und apokalyptischen über, wenn Christa Wolf erzählt, wie es auch gewesen
sein könnte. Denn die Alten sind „fremde Gäste, uns gleich“, was Wolf
ermächtigt und verpflichtet, ihre Geschichte fortzuschreiben. Nun war die
Kulturgeschichte und speziell die griechische Mythologie mit ihrem
gewaltigen politischen Kassiberpotential in der DDR immer ein gern und weit
beackertes Feld, aber daß sie nach all den Jahren wieder benötigt wird, um
den Gang der Dinge zu verorten, wirkt zunächst ein wenig altbacken: Hier
drückt sich wohl jemand vor der direkten Rede, denkt man – und liegt
falsch. Christa Wolf verlagert das Zentrum der historischen Wahrheit ins
Kollektiv, in einen Chor aus verschiedenen Stimmen, die ihre jeweils
abweichende Sicht der Geschehnisse um Medea darlegen, und nicht nur das.
Die Stimmen halten auch als Archetypen menschlichen Verhaltens her. Christa
Wolfs Paraphrase über die Natur des Menschen in den Zeiten der politischen
Intrige ist gut besetzt.
Da haben wir außer Medea noch Jason, willige Manövriermasse auf dem
Schachbrett höher strebender Strategie und Taktik, ein Schlappschwanz ohne
Rückgrat. Akamas ist nicht nur der erste Astronom der Korinther, sondern so
etwas wie eine graue Eminenz, ein Intrigant der Sicherheit, „was er nicht
gern tut, aber es muß ja sein“. Agameda, einst Medeas beste Schülerin,
nimmt zusammen mit dem Dissidenten Presbon den Platz des Verräters ein –
beide paktieren aus Selbsthaß und weil ihre Liebe zu Medea zurückgewiesen
wurde, mit der Macht gegen die durch Wissen, Schönheit und
Unbestechlichkeit noch immer Mächtige. Und dann sind da Glauke und Leukon,
die eine vom Staat zum Zwecke späterer Verwendung in lenkbarer Depression
gehalten und zu ängstlich, ihre Lage zu erkennen oder gar zu ändern; der
andere ein guter Mensch zwar, aber zu schwach, seine Güte tatsächlich zu
leben – und also doch kein guter Mensch. Und dann gibt es natürlich die
„wilde Frau“ Medea, und „wild“ meint schön, aufrecht, eigen, klug. Üb…
– „für die [Korinther] ist eine Frau wild, wenn sie auf ihrem eigenen Kopf
besteht“.
Kommt Ihnen das bekannt vor? Ein wenig unverfroren ist es schon, wie
Christa Wolf den Osten nach Kolchis und den Westen nach Korinth verlagert.
Das korinthische Wesen giert nach Gold, der Wert des Menschen bemißt sich
nach den Abgaben, die er dem Palast entrichtet. Und dann errichten die
Korinther immer diese schreckliche „Distanz“. Nicht weniger kühn ist es,
wie Medea im Umkehrschluß des Mythos als gute Überfrau und Stellverteterin
ins Bild gerückt wird: unerreichbar, exzeptionell, souverän und deswegen
bedrohlich für jedes sich arrangierende Mittelmaß. Wolf stilisiert ihre
Medea zum Produkt und Opfer einer universellen Staatsräson, die man auch
Stasi-Räson oder Sieger-Räson nennen könnte, und das läßt einen nicht
zufällig an eine Reinwäscherin denken, die sich – wie verwirrend – auch
selbst den Pelz naß macht. Medea erinnert sich in Korinth, „der
schimmernden Stadt“, an Kolchis, das glückliche Land, in dem „die Geburt
ein Fest war“. Doch „nichts täuscht sicherer als Glück“, gibt Medea zu
bedenken, während die Kolcher in Korinth kleine Kolonien bilden, in denen
sie beisammensitzen und die verlorene Heimat preisen, „die ihnen
nachträglich in ungetrübtem Glanze erstrahlte“. Wo genau aber, wenn „auch
der im großen Getriebe seine Rolle spielt, der es verhöhnt“, ist Medeas
Rolle, und – um da nicht erst haltzumachen – wessen Geschichte wird hier
eigentlich erzählt?
## Eine Heldin, die immer fehl am Platz ist
Das ist wieder so eine Frage, die tatsächlich ins Uferlose zielt, denn
„Medea. Stimmen“ verhandelt nicht weniger als die Genese der Geschichte aus
vielen Geschichten, ihre Transformation in Heldensagen und das daraus
resultierende Gefühl einer gewissen historischen Vergeblichkeit. „Falls es
noch so etwas wie Tatsachen gibt, nach all den Jahren“, läßt Christa Wolf
ihre Medea bereits zu Anfang des Buches klagen, als Akamas und seine Helfer
die Vernichtung Medeas noch gar nicht losgetreten haben und Medea doch
schon vergeblich um Gerechtigkeit ringt.
Dieses Prinzip der zeitlichen und historischen Synchronizität ist
vielleicht das Beeindruckendste an diesem Buch: Medea ist immer fehl am
Platz, und Christa Wolf zufolge liegt das an den Plätzen. Da ist es doch
auch ganz gleich, ob Medea in Kolchis oder in Korinth lebt – ihr Konflikt
ist immer einer mit der Macht, dem Bösen an sich, und ob man diese Macht
nun besitzt oder nicht – sie macht „aus jedem von uns den, den sie
braucht“.
Medea muß untergehen, als sie entdeckt, daß Korinth auf ein Menschenopfer,
der Glanz auf Lüge gegründet ist. Medea hatte zudem durch ihre
Heilkenntnisse mehr Ansehen in Korinth gewonnen, als korinthischen Ärzten
lieb sein konnte.
Was hier so reduziert klingt, liest sich im Buch als komplexe Darstellung
der Beziehungsnetze in einem Staatsgefüge, das seine Unzulänglichkeiten
durch Ritual und Ideolgie, nämlich Gottesdienst und Feste, transzendieren
muß und – zu seinem großen Mißvergnügen – plötzlich wieder mit ihnen
konfrontiert wird. Die phantastische Überlegenheit der – ost- kolchischen –
Barbarin gegenüber der – west-korinthischen – Zivilisation mag die
(vermutlich west-korinthischen) Leser ärgern, aber Christa Wolfs Buch ist
mehr als eine Rechtfertigung, nämlich ein grandioser Essay über die
Fluchtbewegungen dieses und anderer Jahrhunderte, ein – in der Rede
Agamedas gipfelnder – Aufsatz über Migration und Rassismus, über kulturelle
und noch schwerwiegendere Verluste. „Medea. Stimmen“ zweifelt die
Möglichkeit politischer Lösungen generell an, ohne dies jemals
auszusprechen – Wolf ist schließlich klug. Aber es genügt ja auch, Politik
als universellen Machtmechanismus vorzuführen: In Kolchis wird der Prinz
getötet, in Korinth die Prinzessin, damit der alte König (ob er nun Aietes,
Kreon oder Honecker heißt) den Thron noch eine Weile halten kann.
Die Macht ist also „auf Frevel gegründet“, nicht nur das wird bestraft,
sondern auch die, die den Frevel aufdecken, so wie Medea das Tabu des
korinthischen Menschenopfers an der Königstochter Iphinoe aufdeckt – eine
weitere Variante von Totem und Tabu. Der Fall des Reiches Korinth wird
durch ein Erdbeben an die Oberfläche der Geschichte gebracht, und weil die
armen Toten dieser omenhaften Katastrophe nicht bestattet, sondern unter
die Trümmer gekehrt werden, bricht die Pest über „die schimmernde Stadt“
herein – eine Strafe für mangelnde Vergangenheitsbewältigung, ein Fluch,
der als protestantische Bestrafungstheologie daherkommt.
## Es gibt jetzt nur noch Sieger und Opfer
Die Sicht der Christa Wolf auf das Ergebnis ewig blutiger Evolution und
Revolutionen zu Ausgang des zwanzigsten Jahrhunderts läßt sich kaum
mißverstehen: „Auf dieser Scheibe, die wir Erde nennen, gibt es nichts
anderes mehr, lieber Bruder, als Sieger und Opfer.“ Und doch lugt da hinter
aller Resignation noch immer ein Zipfelchen romantischer Utopie hervor,
wenn die Autorin träumt – „einfach gehen, miteinander, hintereinander“.
Christa Wolf findet im Rauschen der Vergangenheit die Gegenwart wieder, und
diese Gegenwart ist wieder – wer wollte das nicht verstehen – ein „Kein
Ort. Nirgends“. „Wohin mit mir“, fragt die kolchische Emigrantin Medea bei
ihrer Austreibung aus Korinth. „Ist eine Welt zu denken, eine Zeit, in die
ich passen würde. Niemand da, den ich fragen könnte.“ Und auch diese Sätze
haben nicht nur mit Ost und West zu tun, sie könnten genausogut von
Karoline von Günderode oder Marina Zwetajewa stammen oder auch nur von
Funny van Dannen.
So kommt es also, daß „Medea. Stimmen“ vielerlei ist – ein überaus
romantisches Buch, eine übermächtige Anstrengung, in der die Autorin
Geschichte zu bannen sucht. „Medea“ ist natürlich auch die große
Rechtfertigung der Autorin Christa Wolf und ihre Erklärung des Gangs der
Dinge: Seht, so ist es gewesen, ich bezeuge es. Und das alles ist auch noch
spannend zu lesen, und das ist gut so.
Christa Wolf: „Medea. Stimmen“. Roman, Luchterhand-Literaturverlag, geb.,
236 Seiten, 36 DM
9 Mar 1996
## AUTOREN
Anke Westphal
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