# taz.de -- Die Namenlosen von Wehnen | |
> ■ In der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen wurden während der Nazi-Zeit | |
> 1.500 Patienten ermordet / Jetzt soll ein Mahnmal für die Opfer errichtet | |
> werden | |
Für Erwin Borchers war der Tischlersohn Werner Zeuch ein unangenehmer | |
Störenfried in seiner Klasse. „Zeuch flötet während des Unterrichts, fängt | |
Streit mit seinen Banknachbarn an und wird jähzornig, wenn er aus dem | |
Schlaf geweckt wird“, notierte sich der Lehrer. Außerdem stellte Borchers | |
eine ausgeprägte Leseschwäche bei dem Elfjährigen fest. Da alle Ermahnungen | |
nicht fruchteten, war der Fall für den Klassenlehrer klar: der Junge war | |
schwachsinnig und musste dringend in die ärztliche Untersuchung. | |
Am 20. Februar 1926 erstattete Stadtarzt Dr. Volkenrath dem Schulvorstand | |
Bericht. Damit begann der Leidensweg des schmächtigen Knaben. Bei Werner | |
liege eine „hochgradige psychopathische Constitution vor“ lautete | |
Volkenraths Diagnose. Es sei zu empfehlen, den Jungen in eine Anstalt zu | |
überweisen. Werner Zeuch wurde der Heil- und Pflegeanstalt zu Wehnen | |
übergeben. | |
Doch die Anstalt war nicht auf die Aufnahme von Minderjährigen vorbereitet. | |
Daher brachte man ihn noch im gleichen Jahr in das Gertrudenheim nach | |
Oldenburg. Erst 1934 kehrte er nach Wehnen zurück. Hier starb Zeuch 1944 an | |
den Folgen einer Nieren- und Darmtuberkulose. | |
„Für mich zählt Werner zu den Opfern der Nazi-Euthanasie“, erklärt der | |
Oldenburger Historiker Ingo Harms. Drei Jahre lang betrieb er für seine | |
Dissertation intensives Quellenstudium im Archiv des heutigen | |
Landeskrankenhauses Wehnen. Seine Ergebnisse fasste Harms in dem 1998 | |
veröffentlichten Buch „Wat möt wie hier smachten ...“ (“Was müssen wir… | |
schmachten ...“) zusammen. „Von den ungefähr 2.800 verzeichneten | |
Todesfällen aus dieser Zeit sind 1.500 Patienten Euthanasie-Aktionen zum | |
Opfer gefallen“, schätzt Harms. | |
Das Buch rüttelte die Erinnerungen derjenigen wach, die in Wehnen während | |
der Nazi-Zeit ihre Angehörigen verloren hatten. Auch Werner Zeuch, ein | |
gleichnamiger Cousin des Patienten, erinnerte sich daran, wie er mit seinem | |
Vater Anfang der 40er Jahre den Cousin in Wehnen besucht hatte. „Vor der | |
Anstalt war ein Schlagbaum und wir mussten eine halbe Stunde alle möglichen | |
Kontrollen passieren, bis wir Werner sehen durften. Er bat meinen Vater | |
jedes Mal, ihn mitzunehmen. Aber das war doch nicht möglich.“ | |
Erst Mitte Januar rief Zeuch bei Ingo Harms an und überraschte den | |
Historiker mit den genauen Geburts- und Sterbedaten, die er im Familienbuch | |
gefunden hatte. „Ingo Harms war der Name Zeuch schon mal untergekommen. | |
Zehn Minuten später rief er zurück und sagte, dass er Werner in seinen | |
Unterlagen gefunden habe und die Akte für mich fotokopieren könne.“ | |
So einfach war es in den Jahren zuvor für Angehörige nicht gewesen, | |
Einsicht in die Akten von Wehnen zu bekommen. Die Anstaltsleitung | |
blockierte alle Anfragen mit dem Hinweis auf Datenschutz. Nach Harms | |
Dissertation wurden die Akten jedoch ins Niedersächsische Staatsarchiv | |
überführt. Ein Großteil von ihnen ist noch unbearbeitet. | |
„Alle Einzelschicksale sollten dokumentiert werden“, gibt Harms zu | |
Bedenken, „genauso wie es in Auschwitz oder anderen Gedenkstätten auch | |
geschehen ist.“ Es gibt eindeutige Hinweise darauf, ob ein Patient eines | |
natürlichen Todes starb oder einer Euthanasie-Aktion zum Opfer fiel. | |
Wichtigstes Dokument ist ein Meldebogen, der von der Euthanasie-Zentrale in | |
der Tiergartenstraße 4 in Berlin erhoben wurde. Dieser Meldebogen fand sich | |
auch in der Akte von Werner Zeuch. Der Patient war in Wehnen zu | |
Feldarbeiten abgestellt worden, aber im Laufe der Jahre immer weniger dazu | |
in der Lage, die geforderte Arbeitskraft zu erbringen. Damit wurde er als | |
nutzloser Esser in den Augen der Nazis überflüssig und allmählich | |
ausgehungert. Auch ausländische Zwangsarbeiter kamen nach Wehnen, wenn sie | |
Erschöpfung zeigten oder die Arbeit verweigerten. | |
Harms schildert das unmenschliche Verfahren. „Der Meldebogen ging im | |
Original nach Berlin. Dort wurde das Todesurteil von sogenannten | |
T4-Gutachtern verhängt. Der Patient wurde ausgesondert und auf Hungerration | |
gesetzt. Durch die Unterernährung geschwächt, holte er sich | |
höchstwahrscheinlich die Tuberkulose.“ | |
Im Dezember 1999 gründeten die Angehörigen der Opfer eine | |
Arbeitsgemeinschaft. „Der Schmerz sitzt immer noch tief. Das haben die | |
ersten Treffen gezeigt. Bei den Gesprächen fließen immer wieder Tränen“, | |
berichtet Edda Minssen, eine der Betroffenen. Eines der Hauptanliegen der | |
Arbeitsgemeinschaft ist die Errichtung einer Gedenkstätte im | |
Landeskrankenhaus Wehnen. Die Leidenswege der Opfer sollen dokumentiert und | |
die Täter namhaft gemacht werden. | |
Nach Gesprächen mit der niedersächsischen Sozialministerin Heide Merck im | |
Dezember 1999 wurde jetzt das erste Geld für die Errichtung eines Mahnmals | |
zugesagt. Wie hoch die Summe sein wird, ist momentan allerdings noch | |
vollkommen unklar. „Zunächst muss der niedersächsische Landtag darüber | |
diskutieren. Das heißt, die Gedenkstätte kommt vielleicht erst im nächsten | |
Jahr“, sagt Minssen. | |
Die Täter von Wehnen können nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden. | |
Abgesehen von einem der Hauptverantwortlichen, Chefarzt Dr. Carl Petri, der | |
1948 Selbstmord beging, lebten die meisten von ihnen Jahrzehnte als | |
unbescholtene Bürger. „Ich habe versucht, einen der Ärzte, die meine | |
Großmutter auf dem Gewissen haben, wegen Mordes anzuzeigen“, erklärt die | |
Sprecherin der Initiative, Afra Cassens-Mews, „doch die Staatsanwaltschaft | |
Oldenburg teilte mir mit, dass der Betroffene am 6. September 1997 in | |
Soltau verstorben ist.“ | |
Abgesehen von derartigen Mitteilungen, kam bis jetzt von offizieller Seite | |
wenig Resonanz. Weder die zuständige Gemeinde Bad Zwischenahn, noch die | |
Stadt Oldenburg oder der Landkreis Ammerland haben sich bislang in | |
irgendeiner Form zu den Euthanasie-Aktionen von Wehnen geäußert. Ein Trost | |
immerhin: Sozialministerin Merck hat für die Dokumentation der Gräueltaten | |
die Einrichtung einer ABM-Stelle in Aussicht gestellt. Jens Fliege | |
21 Feb 2000 | |
## AUTOREN | |
Jens Fliege | |
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