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# taz.de -- „Die Forschung ist noch ganz am Anfang“
> Gisela Wenzel von der Berliner Geschichtswerkstatt bemängelt, dass viele
> Akten über Zwangsarbeit bis heute nicht ausgewertet wurden. So haben die
> ehemaligen Zwangsarbeiter zwar nun theoretisch einen Anspruch auf
> Entschädigung, können ihn aber praktisch kaum mit Dokumenten belegen
Interview URSULA TRÜPER
taz: Frau Wenzel, die Stiftung zur Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter
ist endlich zustande gekommen. Ist nun alles in Ordnung?
Gisela Wenzel: Noch lange nicht, denn jetzt muss diese Entscheidung konkret
umgesetzt werden. Die Antragsfrist für die Betroffenen ist ja auf acht
Monate begrenzt, das heißt in dieser Zeit müssen die Menschen die
erforderlichen Unterlagen beibringen. Und da taucht ein ganz großes Problem
auf: Viele Anspruchsberechtigte verfügen über diese Unterlagen nicht mehr.
Warum haben denn so viele Betroffene diese Dokumente nicht?
Einer der Gründe ist, dass nach 1945 in Osteuropa, speziell in der
Sowjetunion, das Schicksal der „OstarbeiterInnen“ ein tabuisiertes Thema
war. ZwangsarbeiterInnen galten in ihrer Heimat als Kollaborateure.
Und jetzt sollen sie nach über 50 Jahre des öffentlichen Verschweigens und
Vergessens – auch in Deutschland – Papiere vorweisen, die nicht nur
dokumentieren, dass sie ihre Kindheit und Jugend in einem
Zwangsarbeiterlager, Arbeitserziehungslager oder Konzentrationslager
verbracht haben. Sie sollen sich zudem auch noch an den Namen des
Industrie- oder Handwerksbetriebes erinnern, für den sie damals schuften
mussten.
Das ist eigentlich schon seit Jahren bekannt, doch niemand hat sich bislang
dafür zuständig gefühlt. Weil es keine zentrale staatliche Anlaufstelle
gab, wurden die vielen Hilfegesuche an alle möglichen Stellen gerichtet, in
Berlin in erster Linie an das Landesarchiv, aber auch an den Regierenden
Bürgermeister und auch an die Geschichtswerkstatt.
Noch immer wird zwischen den verschiedenen Berliner Senatsverwaltungen die
Entscheidung, in wessen Verantwortungsbereich die Zuständigkeit fallen
soll, wie eine heiße Kartoffel hin und her geschoben.
Könnten sich die Berliner Behörden bei Ihnen konkrete Hilfe holen?
Auf jeden Fall. In unserem Projekt wurden im Laufe der Jahre für Berlin
circa 800 Firmen ermittelt, die nachweislich Zwangsarbeiter beschäftigten.
Viele der Zwangsarbeiter haben an die deutschen Firmennamen nur noch eine
vage Erinnerung. Sie durften ja keine Kontakte mit Deutschen haben und
hatten daher keine Chance, die deutsche Sprache sprechen und lesen zu
lernen und sich entsprechend zu orientieren. Oft haben sie daher nur eine
phonetische Erinnerung an ihre ehemalige Firma. Da können wir dann bei
Anfragen sagen: Diese Firma hieß nicht Ambibuz oder so ähnlich, sondern
damit ist bestimmt die Firma Ambi Budd Presswerk in Berlin-Johannisthal
gemeint. Dadurch haben die Betroffenen allerdings ihre Unterlagen noch
lange nicht.
Und wie kommen die ehemaligen Zwangsarbeiter an ihre Dokumente?
Das ist in jedem Einzelfall eine mühselige und zeitaufwendige Recherche.
Viele Unterlagen wurden bei Kriegsende ganz bewusst vernichtet, aber noch
mehr sind wahrscheinlich in der Nachkriegszeit verloren gegangen. Da wir
keinen Zugang zu den Betriebsakten haben, können wir häufig nur sagen:
Diese Firma gibt es noch, diese gibt es nicht mehr, und diese ist in dem
und dem Unternehmen aufgegangen. Wir empfehlen dann, die Anfragen noch
einmal an die Betriebe zu richten, auch wenn wir deren Rechtsnachfolge
nicht beweisen können. Die Betriebe, das hat ja die jüngste Diskussion um
die vom American Jewish Committee veröffentlichten Firmenlisten gezeigt,
behaupten allerdings oft, dass sie keine Unterlagen mehr haben.
Gibt es denn kein bundesweites Archiv, das die Unterlagen verwaltet?
Die zentrale Dienststelle, die in erster Linie für die Nachweise von
Zwangsarbeitern zuständig ist, ist der Internationale Suchdienst des Roten
Kreuzes in Bad Arolsen. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass dieses Archiv
große Lücken aufweist und sich für die neueren Erkenntnisse der Forschung
wenig interessiert hat. Und es wird dort sehr langsam gearbeitet. Von den
Betroffenen wissen wir, dass sie fünf bis sechs Jahre auf eine Antwort aus
Arolsen warten mussten!
Könnte das beschleunigt werden?
Es ist zu hoffen, dass durch die Einführung eines elektronischen
Datenverarbeitungssystems und die Aufstockung des Personals Anfragen jetzt
schneller beantwortet werden. Diese zentrale Datenbank hätte man schon vor
zehn Jahren aufbauen und mit den lokalen Initiativen vor Ort vernetzen
müssen. Das ist nicht passiert.
Was ist von dem Argument der Firmen zu halten, es gebe keine Unterlagen
mehr?
Die Firmen machen es sich meiner Ansicht nach zu leicht, wenn sie sagen,
sie haben nichts. Sie verschanzen sich oft hinter der geltenden Rechtslage,
dass Betriebsarchive nicht öffentlich zugänglich sind. Nach dem am 12.
August in Kraft getretenen Stiftungsgesetz sind sie jedoch angehalten, bei
vorhandenen Unterlagen die angeforderten Belege beizubringen. Das ist schon
ein kleiner Fortschritt. Aber das Debakel der Stiftungsinitiative der
deutschen Wirtschaft beim Einsammeln der Entschädigungsgelder hat ja
deutlich vor Augen geführt, wie beschämend klein die Zahl der Unternehmen
ist, die sich aus historischem Verantwortungsbewusstsein diesen Fragen
stellen.
Können öffentliche Archive bei der Suche nach Dokumenten helfen?
Auch hier ist, wenn auch fragmentarisch und verstreut, eine ganze Menge
mehr vorhanden, als immer behauptet wird.
Für die Betriebe, die nach der Teilung Berlins im Osten angesiedelt waren,
liegen interessante Aktenbestände im Landesarchiv. Dazu gehören so namhafte
Betriebe wie AEG, Schering, Osram und Bergmann-Borsig. Das
Personalaktenarchiv der Deutschen Reichsbahn in Pankow zum Beispeil enthält
lange Namenslisten von Zwangsarbeitern.
Sind die Aktenbestände denn überhaupt schon ausgewertet?
Oft wird man an Stellen fündig, wo niemand es vermutet hätte. In Reutlingen
hat man beispielsweise das Archiv der Ausländermeldebehörde durchgeforstet.
Dabei wurde ein kompletter Bestand von Arbeitskarten der Reutlinger
Zwangsarbeiter gefunden.
So müsste man auch systematisch die Archive der Bezirksverwaltungen
durchgehen, die Archive der Gesundheits- und Wirtschaftsämter, der
Arbeitsämter und natürlich der Versicherungen – die Zwangsarbeiter waren ja
alle versichert. Und die Unterlagen der Friedhofsverwaltungen. Ungefähr ein
Viertel der Bombentoten in Berlin waren Ausländer. Die Sterbequote war
unter den Zwangsarbeitern zwar nicht so hoch wie in den KZs, aber sie war
doch sehr hoch, vor allem unter den Ostarbeitern. Viele sind bei
Bombenangriffen ums Leben gekommen, weil sie in den Barackenlagern relativ
ungeschützt waren. Sie hatten nur Splitterschutzgräben und durften nicht in
die offiziellen Luftschutzkeller.
In den Meldeunterlagen der Standesämter ist jede Geburt und jeder Todesfall
von Ausländern verzeichnet. Die sind allerdings der Öffentlichkeit und der
Forschung nicht zugänglich, ein Problem des Datenschutzes.
Wer soll denn dadurch geschützt werden? Die toten Zwangsarbeiter doch wohl
kaum?
Das ist mir auch ein Rätsel. Mit Ausnahmegenehmigung ist die Akteneinsicht
in Einzelfällen möglich und hat, wie im Fall der jüngsten Ausstellung des
Heimatmuseums Berlin-Neukölln, spektakuläre Erkenntnisse zutage gefördert.
Man hat dort eine erstaunlich hohe Geburtenrate unter den
Zwangsarbeiterinnen festgestellt. Was wurde aus diesen Babys? Gab es in
Berlin ähnlich schreckliche Entbindungs-und Säuglingsheime, wie sie uns aus
der Forschung für Braunschweig bekannt sind? Dort starben die meisten
Säuglinge an den Folgen von Unterernährung und Vernachlässigung, nachdem
man sie den Müttern mit Gewalt weggenommen hat.
Die Forschung ist in Berlin eigentlich noch ganz am Anfang. Im kommenden
Jahr plant eine ganze Reihe von Heimatmuseen Ausstellungen zu diesem Thema.
Es ist zu hoffen, dass diese Initiative den Forschungsprozess voranbringt.
Erstaunlich eigentlich, dass in Berlin bisher dazu so wenig gelaufen ist.
Ja, das ist umso erstaunlicher, als es in keiner anderen deutschen Stadt so
viele Zwangsarbeiter gab wie in Berlin. Berlin war das Zentrum der
Rüstungsindustrie des deutschen Reiches. Entlang dem Autobahnring schossen
im Zuge der Aufrüstung die modernsten Flugzeug- und Flugmotorenwerke samt
Zulieferbetriebe wie Pilze aus dem Boden, darunter Daimler-Benz in
Ludwigsfelde-Genshagen, Heinkel in Oranienburg-Germendorf, Bosch in
Kleinmachnow, BMW in Basdorf. Die Belegschaften dieser Betriebe setzten
sich bei Kriegsende vorwiegend aus zivilen ZwangsarbeiterInnen und
KZ-Häftlingen zusammen. Nach dem Krieg wurden diese Betriebe, soweit sie
nicht schon durch Luftangriffe zerstört waren, auf Befehl der Alliierten
demontiert, andere Firmen sind nach der Teilung Deutschlands nach
Westdeutschland gegangen. Deshalb ist dieses Kapitel Berliner
Wirtschaftsgeschichte bis heute nicht aufgearbeitet.
Es gibt kritische Stimmen, die sagen, was der Kohl-Regierung nicht gelungen
ist, wird nun von der rot-grünen Regierung gemacht: der Schlussstrich unter
der NS-Geschichte.
Juristisch ist das ja auch weitgehend so. Jeder, der Zahlungen aus dem
Entschädigungsfonds erhält, muss ja unterschreiben, dass er keine weiteren
Forderungen mehr erheben wird. Das ist natürlich sehr problematisch.
Aber es könnte meiner Meinung nach auch eine Chance sein. Wenn die Firmen
jetzt nicht mehr belangt werden, dann können sie endlich ihre Archive der
Forschung zugänglich machen und ihre NS-Geschichte aufarbeiten. Das gilt
auch für die anderen Bereiche der Gesellschaft, die von der Zwangsarbeit
profitiert haben, etwa die Kirchen.
Mit der Forschung muss eine öffentlich unterstützte Erinnerungsarbeit Hand
in Hand gehen. Die Entrechtung, Verschleppung, Misshandlung und Ausbeutung
von Millionen von Menschen aus den von Deutschland besetzten Ländern war
ein Verbrechen des NS-Regimes, das auch nach einer abschließenden Regelung
der Entschädigungsfrage nicht in Vergessenheit geraten darf.
23 Aug 2000
## AUTOREN
URSULA TRÜPER
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