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# taz.de -- Die Erfindung der Menschenrechte
> Vom Kampfbegriff zum Universalwerkzeug von François Jullien
Der Westen dringt auf die Einhaltung der Menschenrechte, erklärt sie für
allgemeingültig und meint deshalb auch, sie anderen aufdrängen zu dürfen.
Dabei tritt völlig in den Hintergrund, dass diese Rechte in einer
besonderen historischen Situation entstanden sind. Man pocht darauf, dass
alle Völker sich ausnahmslos und uneingeschränkt zu ihnen bekennen sollten,
und muss doch konstatieren, dass sie vielerorts ignoriert oder infrage
gestellt werden.
Wie nahezu chaotisch es zuging, als die universellen Menschenrechte
formuliert wurden, ist gut dokumentiert: Die berühmte Erklärung der
Menschen- und Bürgerrechte der französischen Nationalversammlung vom 26.
August 1789 etwa hatte vielfältige und zum Teil sogar unvereinbare
Vorläufer. Sie war Gegenstand endloser Verhandlungen und Kompromisse und
ist letztlich eine Zusammenstellung von Fragmenten unterschiedlichster
Herkunft – ein Begriff von hier, ein Satz von da, so wurden ihre Artikel
immer wieder von Neuem aufgenommen, zerlegt, umgeschrieben.[1]Ihre
Verfasser selbst hielten sie für „unfertig“ und äußerten sich entspreche…
„Wir haben vermutlich den denkbar schlechtesten Entwurf angenommen“[2],
klagt einer von ihnen am Abend der Verabschiedung. Inzwischen jedoch ist
jeder Bezug auf diesen Ursprung getilgt. Und aus Angst vor schärferen
Kontroversen wird aus dem Menschenrechtsdiskurs alles ausgeklammert, was
nach konkreten Interessenlagen aussieht. Mit dem Ergebnis, dass dieser mit
heißer Nadel verfasste Text, der bei allem Enthusiasmus stellenweise auch
unaufrichtige Töne enthält, zunehmend abstrakt und auch sakrosankt geworden
ist. Er kommt daher wie eine unbefleckte Empfängnis. Als wäre er in voller
Rüstung den Häuptern in der Verfassunggebenden Nationalversammlung
entsprungen. Er umgibt sich mit einer mythischen Aura – immerhin waltete
bei seiner Verkündigung der „Allerhöchste mit seiner schützenden Hand“ �…
und erhebt Anspruch auf universelle Geltung. Aber ist dieser Anspruch nicht
die einzige Möglichkeit, eine bedrohliche Heterogenität zusammenzuhalten –
indem er diese einfach ignoriert?
Der Siegeszug der Erklärung der Menschenrechte ist verblüffend. Nachdem
alle Spuren von Kontingenz verwischt sind, präsentiert sie sich heute – und
zwar zu Recht – in den Dimensionen des Idealen und Notwendigen. Ja, die
Erklärung von 1789 begründete eine neue Tradition, die in allen
französischen Verfassungen wieder aufgegriffen wurde, ganz zu schweigen von
der durch die Vereinten Nationen 1948 verkündeten Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte.
Als es um die Formulierung der Präambel der französischen Verfassung von
1946 ging, sehnte sich mancher sogar nach der Kürze, Erhabenheit und
Einfachheit „unseres großen Textes von 1789“, während man „in dem Text …
1946 spürt, dass die einzelnen Artikel unterschiedlicher Herkunft sind und
in verschiedenen Sprachen erdacht und hinterher übersetzt worden sind“.[3]
Eine solche Erklärung, die ständig umgeschrieben werden musste, kann die
beanspruchte Universalität jedoch nicht als etwas Gegebenes behaupten,
sondern sie höchstens als eine regulative Idee auffassen. Wir sollten uns
also immer wieder vergegenwärtigen, dass es sich bei den Menschenrechten im
Kontext der europäischen Ideengeschichte um eine zufällige und sonderbare
Erfindung handelt. Die Idee der Menschenrechte hat sich erst in der Moderne
durchgesetzt. Und sie ist unübersehbar das Ergebnis einer doppelten, genuin
westlichen Abstraktion sowohl der Vorstellung von „Rechten“ als auch der
vom „Menschen“.
Die so verstandenen Rechte begünstigen das passive Recht – und damit den
Anspruch des Subjekts auf Nichtentfremdung – als wesentliche Quelle der
Freiheit, sodass die „Pflicht“ immer nur in Abhängigkeit vom „Recht“
aufgefasst werden kann. Der Mensch wird dabei losgelöst von seinen
animalischen und kosmischen Lebenszusammenhängen betrachtet, während seine
soziale und politische Dimension sich ohnehin als nachträgliches Konstrukt
erweist. Nur als Individuum wird der „Mensch“ verabsolutiert, da ja
Vereinigungen und Verbände lediglich den Zweck verfolgen sollen, seine
„natürlichen und unantastbaren Menschenrechte“ (so Artikel 2 der Erklärung
von 1789) zu bewahren.
Der allgemeine Geltungsanspruch ließ sich folglich nur um den Preis der
Abstraktion, Loslösung und Verabsolutierung erheben. Doch mit diesen drei
zusammenhängenden Operationen zerfällt nun eben das, was wir als Verbindung
zwischen dem Menschen und seiner Umwelt – und somit als das Gegenteil von
Entfremdung bezeichnen.
Bezeichnenderweise kommt die Familie als minimale Stufe der Integration,
nämlich der Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft, in den
Erklärungen von 1789 und 1793 nicht vor. Sie tritt erst 1795 in einer Form
in Erscheinung, die – erstaunlich genug – an die „fünf Beziehungen“ des
Konfuzianismus erinnert: „Keiner ist guter Bürger, wenn er nicht guter
Sohn, guter Vater, guter Bruder, guter Freund, guter Gatte ist.“ In der
Allgemeinen Erklärung von 1948 bleibt der Bezug auf „alle Mitglieder der
menschlichen Familie“ metaphorisch vage, eine rhetorische Anspielung ohne
wirkliche Erklärungskraft.
Der Verzicht auf jegliche religiöse (der „Allerhöchste“ spielt in der
Erklärung von 1789 nur eine Zuschauerrolle) und soziale Dimension, die zum
Prinzip erhobene Gleichheit und die Loslösung des Menschen von der „Natur“
bedeutet jedoch, dass das Konzept der Menschenrechte aus dem Spektrum des
Menschlichen eine Auswahl trifft und Partei ergreift. Für die Optionen, auf
die es sich festlegt, gibt es keine Rechtfertigung, jedenfalls keine
letztgültige.
Tatsächlich stehen sich hier zwei kulturelle Logiken gegenüber: die der
Emanzipation (durch den universellen Geltungsanspruch der Menschenrechte)
und die der Integration (ins familiäre, korporative, ethnische, kosmische
Herkunftsmilieu). Damit steht die Frage im Raum, ob diese beiden Logiken
auch in Zukunft unvereinbar nebeneinander stehen müssen.
## Freiheitspathos versus Harmonie
Zum besseren Verständnis hilft es vielleicht, zu erklären, warum das
Konzept der Menschenrechte im Denken des klassischen Indien keine
Entsprechung hat, oder andersherum formuliert, warum das indische Denken
sich gegenüber den Menschenrechten als ziemlich indifferent erweist. Es ist
bekannt – und sei es auch nur vage –, dass es in Indien den
„Einzelmenschen“ nicht gibt. Das betrifft das Verhältnis zu den anderen
Lebewesen: Die Grenze zwischen Mensch und Tier verschwimmt, sobald man an
die Wiedergeburt des einen in der Gestalt des anderen glaubt und auch
Tieren die Fähigkeit des Verstehens und Erkennens zuspricht. Und es gilt
auch für das Verhältnis des Menschen zur Welt: Diese wird nicht als
natürliche Ordnung gedacht, von der der Mensch abfallen oder sich lösen
könnte. Und schließlich auch nicht im Verhältnis zur Gruppe: Diese ist in
ihrem hierarchischen Aufbau die religiös begründete, primäre Realität. Dem
Individuum kommt nur eine untergeordnete Stellung zu, die sich auf die
irreduzible Psychophysiologie desjenigen beschränkt, der Schmerz oder Lust
empfindet.
In Indien ist der „Mensch“ so wenig eine für sich bestehende Größe, dass
sein Leben und sein Tod in ihrer Bestimmung, sich endlos zu wiederholen,
aufgehen und ansonsten ohne Bedeutung sind. Man findet hier folglich weder
ein Prinzip der persönlichen Autonomie noch eines der politischen
Selbstverfassung, von denen sich Menschenrechte ableiten ließen. Wo das
letzte Wort des europäischen Denkens Freiheit lautet, verschreibt sich der
Ferne Osten vielmehr der „Harmonie“ – und insofern besteht über den
Buddhismus tatsächlich eine Verbindung zwischen Indien und China.
Zweifellos bildet eher der „Westen“ eine Ausnahme, indem er mit der
Loslösung des Menschen jenen Bruch einführt, der zum Quell der Emanzipation
wird.
So erweist sich der Entfaltungsspielraum der Menschenrechte trotz ihres
universellen Anspruchs als beschränkt. Wo die Perspektive der Transzendenz
vorherrscht und in die Errichtung einer jenseitigen Welt mündet, werden
diese Rechte von einer Ordnung aufgesaugt, die sie kosmisch oder
theologisch übersteigt. Wo hingegen die Perspektive der Immanenz überwiegt,
sind die Menschenrechte nicht imstande, sich vom spontanen Lauf der Welt zu
lösen und den Machtverhältnissen zu entwinden.
Der Islam zählt offensichtlich zur ersten Kategorie. Der Koran und die von
ihm ausgehende Tradition definieren ein Gesetz göttlichen Ursprungs, das
„seine letzte Bestimmung in der Regelung der menschlichen Verhältnisse“
findet.[4]Die Angst vor dem Jüngsten Gericht, ein Kernelement des
islamischen Glaubens, lässt den Menschenrechten keinen eigenen
Entfaltungsraum und verurteilt sie zur Bedeutungslosigkeit.
China gehört in die zweite Kategorie. Das zeigt sich bereits an der
chinesischen Übersetzung des Wortes „Menschenrechte“: Ren („Mensch“)-q…
Während „quan“ wörtlich Waage oder Abwiegen bedeutet, dient das Wort
andererseits auch zur Bezeichnung der „Macht“ – zumal der politischen
(quan-li) – sowie dessen, was wir unter einer „Gelegenheit“ oder einem
„Notbehelf“ (quan-bian, quan-mou) verstehen: das, was durch seine
Abweichung und seinen Widerstand gegen starre Regeln (jing) verhindert,
dass eine Situation ausweglos wird, und dafür sorgt, dass sich die Logik
eines begonnenen Prozesses weiterentwickeln kann. Dass diese beiden
Bedeutungen in jenem Ausdruck zusammentreffen, der für das Wort „Recht“ in
„Menschenrechten“ steht, macht deutlich, welche Verdrehungen hier
erforderlich waren – wenngleich dieser fremde Pfropf im modernen China gut
gedeiht: Als sie im Frühjahr 1989 die Menschenrechte einklagten, wussten
die Studenten auf dem Tiananmen-Platz genauso gut wie die Menschen im
Westen, was gemeint war.
## Ideologische Kategorien des Fortschritts
Womöglich beziehen die Menschenrechte ihren universalen Geltungsanspruch ja
aus dem Umstand, dass sich der westliche Lebensstil, so wie er aus der
Entwicklung von Wissenschaft und Kapitalismus hervorgegangen ist,
inzwischen dem gesamten Rest der Welt aufdrängt und dass wir uns keiner
anderen sozialen oder politischen Ideologie mehr verschreiben wollen oder
können als einer, die sich im Einklang mit diesen Transformationen
befindet. Oder verdankt sich diese Legitimität nicht doch eher dem
tatsächlichen historischen Fortschritt, den das Denken und die Entwicklung
der Wissenschaft in Europa Anfang des 17. Jahrhunderts absolviert hat?
Abgesehen davon, dass eine solche Rechtfertigung, zumindest implizit, einen
Angriff auf alle anderen Kulturen bedeuten würde, muss sie sich auch den
Vorwurf des stumpfen Ethnozentrismus gefallen lassen: Denn wie anders als
innerhalb von ideologisch festgelegten Kategorien will man einen derartigen
Fortschritt je messen?
Dieser Einwand zeigt, dass jede ideologische Rechtfertigung der
Allgemeingültigkeit der Menschenrechte ein auswegloses Unterfangen ist.
Statt ihr Konzept zu verwässern und sie durch Abschwächungen
kulturübergreifend akzeptabel zu gestalten, sollte man den umgekehrten Weg
gehen: nämlich auf ihre Wirkung als Konzept bauen, wodurch sie an
Operativität und Radikalität zugleich gewinnen würden. Denn auf der einen
Seite ist es allein die den Menschenrechten zugrunde liegende Abstraktion,
die sie aus ihrem ursprünglichen Kontext herauslöst und für andere Kulturen
vermittelbar macht. Mit anderen Worten: Über die Menschenrechte wird heute
nicht bloß deshalb debattiert, weil der Westen sie in dem Moment
verkündete, als er den Gipfel seiner Macht erreicht hatte und sie für seine
imperialistischen Methoden nutzen konnte, sondern auch, weil ihr abstrakter
Charakter sie isolierbar und damit intellektuell handhabbar, leichthin
identifizierbar und übermittelbar macht: zu einem privilegierten Gegenstand
– oder Werkzeug – der Kommunikation. Die „Harmonie“ beispielsweise lie�…
sich kaum zu einem derartigen international und interkulturell
verhandelbaren Streitobjekt machen.[5]
Auf der anderen Seite bedeutet gerade ihre konzeptuelle Radikalität –
sozusagen ihr nackter Kern –, dass sich die Menschenrechte des Menschlichen
auf seiner elementarsten Ebene annehmen, der der Existenz, die unter einer
einzigen Bedingung gefasst wird: als Mensch geboren zu sein. So gesehen
geht es weniger um das Individuum als um den schieren Umstand, dass Belange
des Menschen berührt sind. Wobei „des Menschen“ hier nicht als Genitivus
possessivus (im Sinne dessen, was Besitz des Menschen ist), sondern als
Genitivus partitivus zu verstehen ist: Sobald der Mensch betroffen ist,
tritt ein a priori unantastbares Seinmüssen in Erscheinung.
Konnte eine solche Radikalität aber nur anhand der Menschenrechte und nur
innerhalb des europäischen Denkrahmens entwickelt werden? Nehmen wir das
chinesische Beispiel, in dem jemand plötzlich sieht, dass ein Kind gleich
in einen Brunnen fallen wird, und erschrocken nach ihm greift, um es
festzuhalten (und zwar nicht, weil er in einer besonderen Beziehung zu den
Eltern des Kindes stünde oder weil er sich verdient machen will oder einen
Vorwurf fürchtet): Dieser Griff, diese Bewegung unterläuft uns, sie ist
eine reine Reaktion; wir können sie nicht sein lassen. Für den chinesischen
Philosophen Menzius[6]„ist kein Mensch, wer nicht ein solches
Mitleidsbewusstsein hat“. Wer seinen Arm nicht nach dem Kind ausstreckt,
ist „kein Mensch“.
Statt von einer ideologisch bestimmten und damit einseitigen Definition des
Menschen auszugehen, bringt Menzius das ins Spiel – und zwar tut auch er es
im Modus des Negativen, eines Versagens, das unerträglich wäre –, was als
spontane Reaktion der „Menschlichkeit“ universelle Geltung beanspruchen
darf. Es handelt sich hierbei also nicht um etwas, das „verallgemeinerbar“
wäre, weil es eine wahre Aussage ist; universalisierbar ist vielmehr, dass
sich der Impuls, das Kind nicht in den Brunnen fallen zu lassen, nicht
unterdrücken lässt. Und dieser Aufschrei, den man ausstößt (dieser Arm, den
man ausstreckt), wenn man ein Kind in einen Brunnen fallen sieht, ist auch
ohne jegliche Interpretation oder kulturelle Vermittlung ersichtlich, es
ist ein – „basaler“ – Aufschrei des menschlichen Gemeinsinns. Mit ander…
Worten: Die Unterschiedlichkeit der Kulturen und den Umstand in Rechnung zu
stellen, dass diese uns zwingt, das Ungedachte in unserem eigenen Denken
aufzuspüren, bedeutet nicht, dass wir den Anspruch auf das Gemeinsame
aufgeben müssten.
Das Verallgemeinerungspotenzial der Menschenrechte hängt viel stärker an
dieser zweiten Eigenschaft. Denn ihre negative Dimension, also wogegen sie
sich richten, ist unendlich viel größer als ihre positive Dimension – die
Frage, was sie sicherstellen sollen. So umstritten ihr positiver Gehalt
ist, mitsamt seinem Kult des Individuums und seinen
gesellschaftsvertraglichen Beziehungen, seiner Konstruktion des „privaten
Glücks“ als letztem Zweck und so weiter, so wenig die Menschenrechte also
beanspruchen können, eine verbindliche Lebenslehre darzustellen, so sehr
eignen sie sich umgekehrt jedoch als ein unvergleichliches Instrument, um
nein zu sagen und zu protestieren: um eine Grenze des Untragbaren zu
markieren und sie zum Ausgangspunkt des Widerstands zu machen.
Als ein Werkzeug, das immer wieder anders zusammengesetzt werden kann und
zugleich kulturübergreifend ist – sobald es einen aus dem konkreten Kontext
herauslösbaren, „entblößten“ Protest allein im Namen des Geborenseins
erlaubt –, benennen die Menschenrechte genau dieses „im Namen von etwas“
als die letzte Zuflucht, die ohne sie namenlos und folglich ohne
Interventionsmöglichkeiten und Widerstandspotenzial bliebe. Diese negative,
Widerstand ermöglichende Funktion hebt sie nun aber über die positive
Dimension ihres Begriffs hinaus und trifft mit der grundsätzlichsten
Bestimmung von Universalität zusammen: nämlich der, in jede abschließende,
selbstzufriedene Totalität eine Bresche zu schlagen und neuer Hoffnung
Nahrung zu geben.
## Das Unbedingte als Bündnispartner
Wer immer sich wo auch immer auf die Menschenrechte beruft, ist nicht
deswegen schon ein Anhänger westlicher Ideologien (sofern er sie überhaupt
kennt). Sondern er beruft sich auf sie als das letzte, von Hand zu Hand
gehende und für jeden künftigen Kampf bereitstehende Argument oder
Instrument, weniger um eine neuartige Opposition zu schmieden – die sich
doch wieder dem Verdacht aussetzt, gemeinsame Sache mit dem Partner-Gegner
zu machen –, als vielmehr um sich in einer radikalen Weise zu verweigern.
Während Opposition immer auf den jeweiligen Kontext ausgerichtet und daher
vielgestaltig ist, kündigt Verweigerung in einer einzigartigen Geste
zunächst die Solidarität mit dem auf, was sie ablehnt. Schlagartig öffnet
sie die Perspektive auf das Unbedingte, indem sie nackt hervortreten lässt,
was ich oben als den äußersten Begriff des menschlichen Gemeinsinns
angeführt habe. Folglich können die Menschenrechte gerade in ihrer
negativen Dimension diese Universalität der Verweigerung exemplarisch zum
Ausdruck bringen.
Dies erfordert allerdings, dass wir unsere gewohnten Begriffe ein wenig
„verzerren“. Wir sollten nicht länger in arroganter Weise auf der
Allgemeingültigkeit der Menschenrechte pochen und ihre kulturelle Prägung
außer Acht lassen (womit sie freilich dem Untergang geweiht wären). Aber
wir sollten uns auch nicht in den Schmollwinkel der beleidigten Theorie
zurückziehen und auf diese Waffe des Widerstands und Protests verzichten,
die an jedem Fleck unseres Planeten zum Einsatz kommen kann (weshalb es für
die Menschenrechte bis heute kein Äquivalent und keinen möglichen Ersatz
gibt). Besser wäre es, wenn wir Mehrdeutigkeiten zuließen – und mit dem
Begriff der Universalisierung zwei Dinge zum Ausdruck brächten, nämlich
dass erstens Universalität etwas ist, das einem ständigen
Veränderungsprozess unterliegt, und dass es sich dabei zweitens nicht um
eine passive Eigenschaft handelt, sondern um einen Wegbereiter, ein
Vermittlungsinstrument.
Dann wären die allgemeinen Menschenrechte nicht länger dem (theoretischen)
Wissen zuzuordnen, sondern dem Bereich des (praktischen) Handelns: Man
beruft sich auf sie, um eine gegebene Situation direkt zu beeinflussen.
Zudem würden nicht mehr Wahrheitsfragen ihren Geltungsbereich definieren,
sondern konkrete Hilfsangebote. Das Universelle, das darin zum Vorschein
kommt, erhebt nicht irgendeinen Anspruch, sondern bewirkt etwas, und sein
Wert bemisst sich an der Stärke des erzielten Effekts. Die prinzipielle
Frage, ob die Menschenrechte universalisierbar, ob sie als wahre Aussage
auf alle Kulturen der Welt anwendbar sind, könnte man dann getrost mit Nein
beantworten. Denn es kommt vielmehr auf den verallgemeinerbaren Effekt an.
Dieser dient als das Unbedingte, in dessen Namen ein Kampf a priori gerecht
und Widerstand legitim ist.
11 Apr 2008
## AUTOREN
François Jullien
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