# taz.de -- Risse im Regime | |
> In Iran setzt die Führung auf harte Repression. Bei einem Teil der | |
> Geistlichkeit stößt das auf Widerstand | |
von Stéphane A. Dudoignon | |
In seinem Essay „Über die Tyrannei“[1]erklärte Joseph Brodsky, warum ein | |
alter Despot besser sei als ein junger. Die Zeit, die dieser „mit der | |
Betrachtung, sagen wir: seines Metabolismus verbringt, ist von den | |
Staatsangelegenheiten gestohlene Zeit“, schrieb der Petersburger Dichter | |
und Essayist im Jahr 1980. Gilt das womöglich auch für Ali Chamenei, der | |
mit bald 85 Jahren seit 1989 als Oberster Führer der Islamischen Republik | |
Iran fungiert? | |
Es sah fast so aus, denn als nach dem Tod von Jina Mahsa Amini am 16. | |
September 2022 im Gefängnis der Sittenpolizei (Gascht-e Erschad) überall in | |
Iran Proteste aufflammten, wirkte Chamenei zunächst wie erstarrt.[2]In den | |
ersten Wochen war er angesichts der Ereignisse offenbar völlig überfordert. | |
Dann, am 26. Oktober, begann die Polizei mit scharfer Munition auf die | |
Demonstrant:innen zu schießen. | |
Auch an den heiligen Stätten des Landes kam es zu Gewaltausbrüchen. Das | |
Attentat gegen die schiitische Pilgerstätte Schah-Tscheragh in Schiraz | |
wurde offiziell dem Islamischen Staat (IS) zugeschrieben. Ein Teil der | |
Protestierenden sah darin aber auch den Versuch, ihre Bewegung zu | |
diskreditieren und Angst zu schüren. Andere religiöse Führer schrieben | |
Chamenei nicht zu Unrecht eine direkte Verantwortung für die Repressionen | |
zu. Einige warfen ihm vor, das Vorbild des Propheten Mohammed zu verraten, | |
indem er in großem Umfang tödliche Gewalt gegen eine muslimische | |
Bevölkerung befehle.[3]Andere verlangten sogar, den Obersten Führer vor | |
Gericht zu stellen. | |
Das hatte es in der Geschichte der Islamischen Republik noch nie gegeben. | |
Zu den schärfsten Kritikern gehörte Abdolhamid Ismaeelzahi, ein | |
sunnitischer Imam aus Zahedan, in der südlichen Region Sistan und | |
Belutschistan. Mit Entsetzen äußerte er sich zum „Schwarzen Freitag“, dem | |
30. September, an dem in Zahedan 91 friedliche Demonstrant:innen (nach | |
offiziellen Quellen 35) getötet worden waren.[4] | |
Die Risse innerhalb des Klerus sind nicht neu. In Iran verfügen die | |
Institutionen der schiitischen Mehrheit und der sunnitischen Minderheit, | |
die sich oft auf mächtige religiöse Stiftungen stützen, über eine Vielzahl | |
von Ressourcen, die einen relativen Pluralismus ermöglichen. Neu ist | |
hingegen die Furcht bei einem Teil des Klerus, dass die überall im Land | |
stattfindenden Proteste außer Kontrolle geraten könnten. | |
Die religiöse Elite reagierte also mit einer gewissen, für sie nicht | |
ungewöhnlichen Uneinigkeit. Aber wie ist die Reaktion von Seiten der Armee | |
und den Ordnungskräften zu bewerten, vor allem der Revolutionsgarden, die | |
für die soziale und politische Kontrolle der Bevölkerung zuständig sind, | |
und ihren Hilfsmilizen, den Basidsch? | |
Überraschend war hier die Mischung aus extremer Gewalt, wie in Zahedan, und | |
Gewährenlassen. Viele Beobachter stellten fest, dass die Unterdrückung | |
einerseits militarisiert wurde (vielerorts wurde mit Kriegswaffen auf | |
Demonstrierende geschossen), andererseits zahlreiche Protestzüge und | |
Besetzungen trotz ihrer Unterwanderung durch Zivilagenten nicht gestoppt | |
wurden. Bei den Gedenkfeierlichkeiten am 40. Tag nach dem Tod von Mahsa | |
Amini zum Beispiel wichen die Ordnungshüter vor der unbewaffneten Menge | |
zurück.[5] | |
Für diesen scheinbaren Widerspruch gibt es mehrere Erklärungen. Zunächst | |
sind die großen lokalen Unterschiede zu nennen, wie die Revolutionsgarden | |
operieren und neue Mitglieder rekrutieren. In Friedenszeiten dienen die | |
Rekruten oft in Einheiten, die an ihrem Herkunftsort stationiert sind. Eine | |
Ausnahme bilden die Verbände an den Landesgrenzen und in der Hauptstadt, wo | |
auch Gardisten aus anderen Landesteilen Dienst tun. | |
Der Vorteil der regionalen Verankerung ist der Korpsgeist, der besonders in | |
Krisenzeiten hilfreich ist, wie im Krieg gegen den Irak 1980–1988 oder im | |
syrischen Bürgerkrieg, in den Iran seit 2012 eingreift. Seit dem | |
Erdrutschsieg der Hardliner bei den Kommunalwahlen 2003 gewannen die | |
Revolutionsgarden aufgrund dieser lokalen Netzwerke auch wachsenden | |
Einfluss in Politik und Wirtschaft sowie im lokalen Vereinsleben. | |
Sportklubs etwa wurden zum zentralen Faktor ihrer lokalen Verwurzelung. | |
## Ideologische Radikalisierung der Revolutionsgarden | |
Die engen Verbindung in die lokale Bevölkerung hemmen die Einheiten | |
andererseits, sich an der Unterdrückung von Protesten zu beteiligen. Das | |
wurde Mitte September deutlich, als Teile der Truppe in den sozialen | |
Netzwerken ihren Unmut äußerten und sich im Einsatz gegen Demonstrierende | |
deutlich zurückhielten. Auch in der Welt des Sports wuchs die Unterstützung | |
für die Proteste – das Bild der iranischen Fußballer, die vor ihrem ersten | |
WM-Spiel in Katar die Hymne nicht mitsingen, ging um die Welt. | |
All dies wurde vom Regime natürlich registriert. Dass inzwischen auch | |
Hubschrauber eingesetzt werden, zeigt, dass das Regime das Ausmaß der | |
Proteste anerkannt hat – und es ist ein Zeichen dafür, dass man an der | |
Zuverlässigkeit einiger Garnisonen zweifelt. Zusätzlich wurden | |
hochgerüstete Sonderkommandos der Garde, Polizeikräfte und das Militär | |
eingesetzt, wie etwa die Fallschirmjäger der 65. Luftlandetruppe. Letztere | |
sind seit Frühjahr 2016 an der Seite der Revolutionsgarden auch in Syrien | |
im Einsatz.[6] | |
Ali Chamenei und seine Getreuen haben nicht vergessen, dass der Sturz der | |
Monarchie 1979 auch dadurch möglich wurde, dass die Polizei überlief und | |
die Soldaten mit ihrem geringen Sold unzufrieden waren. Sie wissen auch, | |
wie unbeliebt das Regime bei einem wachsenden Teil Bevölkerung ist. Deshalb | |
werden die Spezialeinheiten gehätschelt und die Rekruten nur aus | |
regimeloyalen Kreisen ausgewählt. | |
Diese Spezialeinheiten werden mutmaßlich von ausländischen Milizen | |
unterstützt. So werden die libanesische Hisbollah und die irakischen Haschd | |
al-Schaabi (Volksmobilmachungseinheiten) beschuldigt, gegen iranische | |
Demonstrant:innen vorzugehen. Die Nähe zwischen den Revolutionsgarden | |
und diesen arabischen Milizen ist kein Geheimnis. Zeinab Soleimani, die | |
Tochter des berühmten Garde-Kommandeurs Qasem Soleimani, der im Januar 2020 | |
von einer US-Drohne getötet wurde, soll 2 Millionen Dollar für Libanesinnen | |
gespendet haben, die einen Hisbollah-Kämpfer heiraten und den Nachwuchs der | |
Miliz sichern. | |
Die Revolutionsgarden und ihre Ableger schließen die Reihen und beziehen | |
sich wieder stärker auf ihr ideologisches Fundament, ein Gemisch aus | |
Hypernationalismus und dem Kult um Imam Hussein.[7]Deshalb befürchtet das | |
religiöse schiitische Establishment, der Übereifer dieser Milizen, die sich | |
nicht um das fragile lokale Gleichgewicht kümmern, könnte den Einfluss des | |
Klerus schwächen oder sogar zu seiner völligen Ablehnung im Volk führen. | |
Ende Oktober brachte ein beträchtlicher Teil des Staatsapparats der | |
Islamischen Republik seine Sorge zum Ausdruck: Nachdem durch die Wahl des | |
erzkonservativen Präsidenten Ebrahim Raisi 2021 die „Reformer“ | |
vollständig von der Macht ausgeschlossen seien, fehle ein | |
„Sicherheitsventil“ zwischen der Bevölkerung auf der einen und dem Obersten | |
Führer und seinen Garden auf der anderen Seite. | |
Die Angst vor den Konsequenzen einer ungezügelten Gewaltanwendung durch die | |
Sicherheitskräfte ist sogar in den Medien zu spüren, die den | |
Revolutionsgarden nahestehen. Zu ihnen gehört die Agentur Tabnak, die vom | |
ehemaligen Garde-Kommandeur Mohsen Rezai gegründet wurde. Tabnak prangert | |
allerdings die Gewalt der lokalen Gendarmen an, was einer Ablenkung von den | |
durch die Revolutionsgarden und die Basidsch verübten Massaker | |
gleichkommt. | |
Tabnak ruft auch zum Dialog und zu einer Neugestaltung des Führungssystems | |
der Islamischen Republik auf. Neben solchen Reformappellen gibt es aber | |
noch weitergehende Initiativen, etwa jene, die Baba Negahdari, der Direktor | |
des Wissenschaftszentrums im Parlament, am 31. Oktober angestoßen hat, oder | |
die der Nationalen Union der Anwälte vom 1. November.[8] | |
Zahlreiche lokale Moscheen schließen sich den Aufständischen an, indem sie | |
jeweils am 40. Tag nach dem Tod eines Opfers der Repression der | |
Verstorbenen gedenken. Dabei mischt sich in die schiitischen Trauerrituale | |
immer wieder der Ruf „Tod dem Diktator“. | |
Teil dieser Rituale ist es, sich auf die Brust zu schlagen. Mit dieser | |
Geste drücken schiitische Gläubige bei den Aschura-Prozessionen ihre Reue | |
aus, Imam Hussein bei der Schlacht von Kerbala im Jahr 680 seinen Mörder | |
überlassen zu haben. In Iran erinnern sich heute viele daran, welche Rolle | |
diese Trauerzeremonien in der Revolution von 1979 gespielt haben, wenn | |
getöteter Demonstrant:innen gedacht wurde. | |
Es ist alles andere als sicher, dass Beruhigungsmaßnahmen wie die Absetzung | |
lokaler Polizeichefs etwa in Zahedan, die Aufhebung der | |
Geschlechtertrennung in Uni-Mensen und auch die am 4. Dezember verkündete | |
Auflösung der Sittenpolizei die gewünschte Wirkung erzielen werden. | |
Fürs Regime wurde es regelrecht peinlich, als Fotos des Revolutionswächters | |
und Transportministers Rostam Qasemi auftauchten. Diese zeigen ihn mit | |
seiner Freundin, die bei einer Malaysiareise 2011 kein Kopftuch trug. | |
Qasemi ist mittlerweile als Minister zurückgetreten – offiziell aus | |
gesundheitlichen Gründen. | |
Es ist diese Mischung aus Arroganz und Zynismus, die darauf hindeutet, dass | |
die iranische Führung im Moment vor allem versucht, Zeit zu gewinnen. Sie | |
stützt sich auf ihre Spezialkräfte und auf ausländische Milizen und | |
ignoriert die Vorwürfe aus einem Teil des Klerus. Sie baut ihre Allianzen | |
mit Russland und China aus, ist tief in die Kriege in Syrien und in der | |
Ukraine verwickelt und sieht offenbar nur noch die Flucht nach vorn. | |
Deshalb ist sie zu allem bereit. | |
„Die durchschnittliche Dauer einer Tyrannei beträgt fünfzehn, höchstens | |
zwanzig Jahre. Werden es mehr, gerät sie unausweichlich zu einem Monster“, | |
warnte Brodsky aufgrund seiner Erfahrung mit der sowjetischen | |
Gerontokratie. Irans erster Revolutionsführer Ruhollah Chomeini – im | |
Vergleich zu Chamenei ein Kurzzeitdiktator – legte den Grundstein für eine | |
solche Entwicklung, indem er kurz vor seinem Tod 1989 die Theorie von der | |
„absoluten“ Herrschaft des Rechtsgelehrten (Velayat-e Faqih) in die | |
Verfassung implementierte. | |
Der Zerfall der aus der Chomeini-Zeit ererbten Macht, die Abhängigkeit des | |
Regimes von transnationalen Milizen und die ideologische Wiederaufrüstung | |
der Revolutionsgarden: All dies fördert einen Überbietungswettkampf, der | |
immer mehr von entfesselter Gewalt geprägt ist. Diese Entwicklung stellt | |
inzwischen – sogar aus Sicht der staatlichen Medien – eine existenzielle | |
Bedrohung für das Land dar. | |
1↑ In: „Flucht aus Byzanz“, München (Hanser) 1988. | |
2↑ Siehe Mitra Keyvan, [1][„Iran – die Mauer aus Angst ist gefallen“], | |
LMd,November 2022. | |
3↑ Rede vom 24. Oktober 2022 (auf Farsi), verfügbar auf Khabar online. | |
4↑ Rede vom 12. Oktober 2022, Radio Farda (auf Farsi). | |
5↑ Siehe die stundengenaue Chronik (auf Farsi) auf dem [2][Youtube-Kanal | |
Koocheh] (Die Straße). | |
6↑ Siehe den [3][Blog] von Juri Ljamin, russischer Berater der iranischen | |
Armee, 8. Juli 2018 (auf Russisch). | |
7↑ Siehe Saeid Golkar, [4][„Taking back the neighborhood: the IRGC | |
provincial guard’s mission to re-Islamize Iran“], Washington Institute for | |
Near East Policy, 18. Juni 2020. | |
8↑ Berichtet von [5][Tabnak] und [6][Khabar online]. | |
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz | |
Stéphane A. Dudoignon ist Forschungsleiter am CNRS/GSRL und Autor von „Les | |
Gardiens de la révolution islamique d’Iran: sociologie politique d’une | |
milice d’État“, CNRS Éditions, 2022. | |
8 Dec 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://monde-diplomatique.de/artikel/!5878442 | |
[2] https://www.youtube.com/@KoochehChannel | |
[3] https://imp-navigator.livejournal.com/743624.html | |
[4] https://www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/taking-back-neighborhoo… | |
[5] http://www.tabnak.ir/ | |
[6] https://www.khabaronline.ir/ | |
## AUTOREN | |
Stéphane A. Dudoignon | |
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