| # taz.de -- Hunger als Kriegswaffe | |
| Bild: Nach Appellen von Hilfsorganisationen dauerte es noch Monate, bis die UN … | |
| von Alex de Waal | |
| Das englische Verb „to starve“ bedeutet nicht „verhungern“, sondern | |
| „aushungern“, ist also etwas, was Menschen einander antun. Wie Folter oder | |
| Mord. Massenhaftes, passives Verhungern, etwa als Folge von Dürre, ist | |
| höchst selten geworden; die heutigen Hungerkatastrophen gehen durchweg auf | |
| politische Entscheidungen zurück. | |
| In den letzten 50 Jahren sind Hungersnöte seltener und weniger tödlich | |
| geworden. Noch letztes Jahr war ich mir fast sicher, dass es künftig keine | |
| mehr geben werde. Aber jetzt haben wir das Jahr 2017, in dem wir vier | |
| Hungerkrisen gleichzeitig erleben. Am 11. März warnte der | |
| UN-Nothilfe-Koordinator Stephen O’Brien nach einer Reise durch Jemen, | |
| Südsudan, Somalia und Nigeria, die Welt steuere auf „die größte humanitäre | |
| Krise seit Gründung der Vereinten Nationen“ zu. O’Brien sieht einen | |
| „kritischen Punkt“ erreicht, weil der 70 Jahre währende Trend einer | |
| abnehmenden Zahl von Hungertoten zu Ende ist und sich sogar wieder | |
| umgekehrt hat. | |
| Über die Ursachen der vier – bereits eingetretenen oder drohenden – | |
| Hungersnöte, die er auf seiner Reise ausgemacht hat, macht sich O’Brien | |
| keine Illusionen. Der Hauptfaktor ist in allen vier Fällen ein Krieg, der | |
| Farmen, Viehherden und Märkte zerstört hat, sowie insbesondere die | |
| Entscheidung des Militärs, humanitäre Hilfslieferungen zu blockieren. In | |
| Nigeria haben Dörfer, die in den Krieg zwischen Boko Haram und der Armee | |
| geraten sind, ihre Besitztümer, Einkommensquellen und Nahrungsmittel | |
| verloren. In den Gegenden, aus denen das nigerianische Militär im letzten | |
| Jahr Boko Haram vertrieben hat, sind die Menschen zu Tausenden verhungert. | |
| Während sich der Kampf gegen die Terrormiliz hinzieht, wachsen die Sorgen | |
| der Experten, die das Informationssystem Integrated Food Security Phase | |
| Classification (IPC) mit Daten versorgen. Sie befürchten, dass sie in der | |
| „Hungersaison 2017“ (die ungefähr von Juni bis Oktober dauert) wieder ganze | |
| Volksgruppen auf der IPC-Skala von Stufe 4 („humanitärer Notstand“) auf | |
| Stufe 5 („Hungersnot“) heraufsetzen müssen. Letztes Jahr haben die UNO und | |
| die Hilfsorganisationen das Ausmaß der Krise in Nigeria nicht wahrgenommen. | |
| Dieses Jahr kommen die Warnungen vielleicht noch rechtzeitig. | |
| Im Südsudan kämpfen Regierungssoldaten und Rebellen nicht so sehr | |
| gegeneinander als vielmehr gegen die Zivilbevölkerung. Aus dieser | |
| Krisenregion meldeten Hilfsorganisationen im Sommer 2016 so schwere | |
| Versorgungslücken und so hohe Zahlen von Hungertoten, dass die UN-Kriterien | |
| für die Ausrufung einer Hungersnot erfüllt waren. Vor diesem Schritt | |
| scheuten die UN aber zurück, weil sie die paranoide Regierung des Südsudan | |
| nicht vor den Kopf stoßen wollten, die internationale Hilfsagenturen | |
| verfolgt (mehrere von ihren Mitarbeitern wurden bereits ausgeraubt, | |
| vergewaltigt und ermordet). Im Februar dieses Jahres erklärten Helfer, die | |
| noch die Hungerepidemien der 1980er Jahre im Süden des Sudan erlebt haben, | |
| die Lage für mindestens so schlimm wie damals. Kurz darauf erklärten die UN | |
| Teile des Südsudan offiziell zu Hungerregionen. | |
| Doch die größte Katastrophe droht derzeit im Jemen. Hier erwecken die Fotos | |
| von hungernden Menschen in ausgetrockneten Landschaften einen falschen | |
| Eindruck, denn mit dem Wetter hat diese Katastrophe nichts zu tun. In Jemen | |
| droht mehr als 7 Millionen Menschen der Hungertod. Es ist dort weit | |
| wahrscheinlicher, an Hunger oder Cholera zu sterben, als durch | |
| Militäraktionen. | |
| Die von Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten angeführte | |
| Militärintervention hat die Wirtschaft des Jemen stranguliert. Vor dem | |
| Krieg hat das Land 80 Prozent seiner Nahrungsmittel importiert, vor allem | |
| über den Hafen al-Hudaida am Roten Meer. Der UN-Sicherheitsrat hat auf | |
| Betreiben der Saudis und mit Unterstützung der USA und Großbritanniens ein | |
| Embargo gegen Jemen verhängt, dessen Kontrollen den – vom Embargo | |
| ausgenommenen – Nahrungsmittelimport verzögern. | |
| ## Mörderische Blockade des Jemen | |
| Seit saudische Flugzeuge die Containerdocks von al-Hudaida bombardiert | |
| haben, müssen zudem alle Schiffe auf die alte umständliche Weise entladen | |
| werden. Straßen, Brücken und Markthallen wurden beschädigt oder zerstört, | |
| der Handel ist fast völlig zum Erliegen gekommen. Umgekehrt blockieren die | |
| Huthi-Rebellen die Zufahrtsstraßen zu der im Hochland gelegenen Stadt Taiz. | |
| Nahrungsmittel sind hier die stärkste Kriegswaffe – und Unterernährung die | |
| häufigste Todesursache. | |
| Während die UN und die humanitären Organisationen die Kriegsverbrechen im | |
| Südsudan eindeutig verurteilen, sind sie in ihren Stellungnahmen zu Jemen | |
| deutlich zurückhaltender, als wollten sie Entscheidungen des | |
| Sicherheitsrats nicht offen kritisieren. Obwohl die Hungersnot sich weiter | |
| verschlimmert, verschärfen die britische und die US-Kriegsmarine ihre | |
| Blockade, und im UN-Sicherheitsrat wird lediglich darüber diskutiert, wie | |
| sich das Embargo noch effektiver gestalten ließe. Damit machen sich alle | |
| mitschuldig an der Hungersnot. | |
| Einzig im Süden Somalias ist die bedrohliche Lage zum Teil auf die Dürre | |
| zurückzuführen. Aber auch hier ist für die Hungersnot vor allem der Krieg | |
| zwischen einer Koalition nordostafrikanischer Armeen und der | |
| Al-Shabaab-Miliz verantwortlich. Bis 2016 war Somalia das einzige Land, | |
| das die UN seit der Jahrtausendwende offiziell zur Hungerregion erklärt | |
| haben. Das geschah im Juli 2011. Experten zufolge war es eine vermeidbare | |
| Katastrophe – als Resultat eines „kollektiven Versagens“, bei dem auch die | |
| Unfähigkeit der somalischen Behörden und Korruption eine große Rolle | |
| spielen.[1] | |
| Ein weiterer Faktor war die Einschränkung humanitärer Hilfsaktionen durch | |
| die Vereinigten Staaten, die auf den USA Patriot Act von 2001 zurückgehen. | |
| Das Gesetz kriminalisierte die Unterstützung von Gruppen, die auf der | |
| US-Terrorliste stehen. Das bedeutete, dass jede in einer Hungerregion | |
| engagierte Hilfsorganisation mit einer Klage vor einem US-Gericht rechnen | |
| musste. Wenn zum Beispiel al-Shabaab einen Lkw des Roten Kreuzes entführt, | |
| wäre das IRK dafür verantwortlich. Schon die Androhung strafrechtlicher | |
| Verfolgung stellt eine Rufschädigung dar, die keine Organisation riskieren | |
| wollte. | |
| Im US-Außenministerium und bei USAID suchte man Wege, um diese Vorschrift | |
| im Fall Somalia zu umgehen; das Justizministerium blieb jedoch hart. Erst | |
| nachdem die UN Somalia offiziell zur Hungerregion erklärten, begann ein | |
| Umdenken, und erst nach weiteren neun Monaten legte das Justizministerium | |
| einen Lösungsvorschlag vor. In der Zwischenzeit schickten die USA keine | |
| Nahrungsmittel nach Somalia. Etwa 260 000 Menschen starben, vor allem | |
| Kinder. Die meisten von ihnen hätten überlebt, wenn die Obama-Regierung | |
| begriffen hätte, dass ein Festhalten am Patriot Act zu einer | |
| Hungerkatastrophe führen musste.[2] | |
| Noch fatalere Folgen hatten wahrscheinlich die Maßnahmen zur Kontrolle der | |
| Geldströme. Das Nationaleinkommen Somalias besteht zu rund 30 Prozent aus | |
| Rücküberweisungen der Diaspora. Diese Gelder werden mangels eines normalen | |
| Banksystems über Firmen transferiert, die nach dem Hawala-Prinzip | |
| arbeiten.[3]Die Besitzer dieser Firmen sind an Profit und nicht an | |
| Ideologie interessiert. Aber seit 2001 werden sie von den Agenturen, die | |
| den Antiterrorkrieg führen, als potenzielle Terrorkomplizen angesehen. | |
| Im November 2011 wurde die größte dieser Firmen namens al-Barakaat von den | |
| US-Behörden – zu Unrecht – beschuldigt, Geldtransfers für Terroristen | |
| abgewickelt zu haben, woraufhin ihr Überweisungsgeschäft verboten wurde. | |
| Nach weiteren willkürlichen Beschränkungen waren die US-Banken nicht mehr | |
| bereit, mit diesen Firmen zu kooperieren. | |
| Die diesjährige Hungersnot in Somalia ist auch durch Dürren und Missernten | |
| verursacht. Im benachbarten Äthiopien hingegen führte die viel längere | |
| Dürreperiode von 2016 nicht zu einer Hungerkatastrophe, weil die Regierung | |
| sehr schnell reagierte. Auf dem Höhepunkt der Krise wurden fast 18 | |
| Millionen Menschen von der Regierung und der UN-Nahrungsmittelhilfe | |
| versorgt; das sind mehr Menschen als die von Hunger bedrohte Bevölkerung | |
| aller vier aktuellen Krisenländer. Auch hier zeigte sich: Menschen müssen | |
| nicht verhungern, nur weil der Regen ausbleibt. | |
| Die World Peace Foundation (WPF) hat dokumentarisch alle 61 Fälle erfasst, | |
| in denen seit 1870 mehr als 100 000 Menschen einer Hungersnot oder einer | |
| gezielten Strategie des Aushungerns zum Opfer fielen. Die globale | |
| Gesamtzahl der Toten liegt bei mindestens 105 Millionen, davon entfielen | |
| zwei Drittel auf Asien, etwa 20 Prozent auf Europa und die UdSSR und | |
| weniger als 10 Prozent auf Afrika. | |
| Die Hungerkatastrophen mit den höchsten Opferzahlen gingen auf politische | |
| Entscheidungen zurück. Dazu zählen die Hungersnöte zwischen 1880 und 1900 | |
| in den USA, die Hungersnöte während des Ersten Weltkriegs im Nahen Osten | |
| (darunter der gewollte Hungertod von 1 Million Armeniern), die Hungersnot | |
| im russischen Bürgerkrieg (1918–1922), Stalins „Holodomor“ (Tötung durch | |
| Hunger) in der Ukraine (1932–1934), der „Hungerplan“ des NS-Regimes in der | |
| Sowjetunion, die Hungersnöte des Chinesischen Bürgerkriegs (1927–1949), die | |
| von Japan angeordneten Hungersnöte im Zweiten Weltkrieg. Und natürlich die | |
| größte Hungerkatastrophe überhaupt, die im Zuge von Maos „Großem Sprung | |
| nach vorn“ (1958–1962) mindestens 25 Millionen Todesopfer forderte. | |
| ## Vernichtungsplan aus dem NS-Ernährungsministerium | |
| Offenbar haben diese politischen Hungerkatastrophen in unserem kollektiven | |
| Gedächtnis keinen Platz, und selbst in der Genozidforschung findet das | |
| gezielte Aushungern kaum Beachtung. Das verblüfft schon deshalb, weil sich | |
| Raphael Lemkin, der den Begriff Genozid geprägt hat, ausführlich mit | |
| Ernährungs- und Hungerpolitik befasst hat. Lemkin forschte über die | |
| physische Entkräftung als Instrument des Genozids am Beispiel der | |
| nationalsozialistischen „Rassendiskriminierung mittels Ernährung“.[4]Nach | |
| den Richtlinien der Nazis für die Zuteilung von Kohlehydraten im besetzten | |
| Europa standen „den Deutschen“ 100 Prozent zu, den Polen nur 77 Prozent, | |
| den Griechen 38 Prozent und den Juden 27 Prozent. | |
| Tatsächlich war Hunger für die Nazis das wirksamste Instrument ihrer | |
| Massenmorde. Das „Unternehmen Barbarossa“ basierte auf der Idee, die | |
| fruchtbaren Böden der Ukraine und Südrusslands als „Lebensraum“ für das | |
| deutsche Volk zu erobern. Schließlich war es strategisch enorm wichtig, die | |
| Wehrmacht mit Nahrungsmitteln zu versorgen. | |
| Am 2. Mai 1941, sechs Wochen vor dem Beginn des Angriffskriegs gegen die | |
| Sowjetunion, fand eine Konferenz von Staatssekretären statt, über die es | |
| eine „Aktennotiz“ gibt. Darin heißt es: „1.) Der Krieg ist nur weiter zu | |
| führen, wenn die gesamte Wehrmacht im 3. Kriegsjahr aus Russland ernährt | |
| wird. 2.) Hierbei werden zweifellos zig Millionen Menschen verhungern, wenn | |
| von uns das für uns Notwendige aus dem Lande herausgeholt wird.“ | |
| Diese Überlegungen gehen auf Herbert Backe zurück. Der Staatssekretär im | |
| Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft arbeitete einen | |
| radikalen Plan aus, der den Hungertod der gesamten städtischen Bevölkerung | |
| im europäischen Teil der Sowjetunion – also von 30 Millionen „überflüssi… | |
| Essern“ – einkalkulierte.[5] | |
| Als ersten Schritt sah der Backe-Plan den Hungertod von sowjetischen | |
| Kriegsgefangenen vor, die in riesigen Lagern unter freiem Himmel | |
| zusammengepfercht waren. Von ihnen starben 1,3 Millionen in den ersten vier | |
| Monaten nach der deutschen Invasion, bis zum Ende des Krieges stieg die | |
| Zahl auf mindestens 2,5 Millionen. | |
| Die weiteren Phasen umzusetzen, erwies sich jedoch als unmöglich. Die | |
| Invasoren verfügten nicht über den Verwaltungsapparat, der zehn Jahre zuvor | |
| den unter Stalin organisierten Holodomor ermöglicht hatte. Zwar gab es im | |
| belagerten Leningrad 1 Million Hungertote, und Hunderttausende starben in | |
| Städten wie Kiew und Charkow, wo die Nazis die Lebensmittelversorgung | |
| drastisch reduzierten. Aber die Bauern, die seit 1917 in zwei | |
| Hungerperioden schlaue Überlebenskünste entwickelt hatten, ließen sich | |
| nicht so leicht umbringen. Und weil die deutschen Soldaten auf deren Ernte | |
| angewiesen waren, durften sie weiter produzieren. | |
| Insgesamt wurde der Hungerplan nur zu einem Drittel „erfüllt“. Aber mit 10 | |
| Millionen Toten handelt es sich um ein Verbrechen, das zahlenmäßig mit der | |
| „Endlösung der Judenfrage“ vergleichbar ist. Im Übrigen gehörte der | |
| gewollte Hungertod auch zum Instrumentarium des Holocaust: Im Warschauer | |
| Getto verhungerten 80 000 Juden. Und im Vernichtungslager Auschwitz sind | |
| nach Aussagen des Lagerkommandanten Höss von Mai 1940 bis Dezember 1943 – | |
| neben den direkt ermordeten Opfern – 500 000 Menschen verhungert oder an | |
| hungerbedingten Krankheiten gestorben. | |
| Backe sollte beim Nürnberger Wilhelmstraßen-Prozess[6]zu den Angeklagten | |
| gehören, beging aber vorher Selbstmord. Sein Vorgänger als Ernährungs- und | |
| Landwirtschaftsminister, der „Blut und Boden“-Ideologe Walther Darré, wurde | |
| wegen „Plünderung“ und Mitgliedschaft in einer verbrecherischen | |
| Organisation zu sieben Jahren Haft verurteilt, aber schon bald entlassen. | |
| In dem Prozess wurde das Backe-Protokoll zwar als Beweismittel angeführt, | |
| aber der Hungerplan spielte keine Rolle. Die Alliierten zeigten kein | |
| besonderes Interesse, erzwungene Hungersnöte oder Wirtschaftskriege als | |
| Verbrechen zu definieren. | |
| Tatsächlich enthielt das damals gültige Kriegsvölkerrecht kein Verbot, eine | |
| Stadt oder Region in Verfolgung militärischer Ziele auszuhungern. Deshalb | |
| konnte in Nürnberg Feldmarschall von Leeb, der Kommandeur der Belagerung | |
| von Leningrad, nicht wegen der Hungerblockade verurteilt werden. Damals | |
| hatte die britische Kriegsmarine bereits jahrzehntelange Erfahrungen mit | |
| Seeblockaden. | |
| 1909 hatte das Oberhaus die Ratifizierung der „Londoner | |
| Seerechtsdeklaration“ verweigert. Die britischen Lords empfanden die | |
| Gründung eines internationalen Gerichts, das über die Rechtmäßigkeit des | |
| Abfangens von Schiffen auf hoher See zu befinden hätte, als unvereinbar mit | |
| der britischen Souveränität. Großbritannien organisierte dann im Ersten | |
| Weltkrieg eine Blockade gegen Deutschland, wo bis Kriegsende etwa 750 000 | |
| Menschen an Hunger starben. Das Embargo blieb nach Kriegsende im November | |
| 1918 weitere acht Monate in Kraft, um die Deutschen zur Unterschrift unter | |
| den Versailler Vertrag zu zwingen. | |
| ## Eine Lücke imVölkerrecht | |
| 1942 widersetzte sich Churchill der Forderung, die Seeblockade gegen das | |
| von den Deutschen besetzte Griechenland aufzuheben, die am Ende nur leicht | |
| abgemildert wurde. Aus Protest gründeten britische Bürger daraufhin das | |
| Oxford Committee for Famine Relief, das unter dem Namen Oxfam bis heute | |
| eine der wichtigsten Menschenrechts-NGOs ist. Und 1943 entschied das | |
| Kabinett in London, dass die Ernährung der britischen Bevölkerung wichtiger | |
| sei als der Kampf gegen die Hungersnot in Bengalen – mit der Folge, dass in | |
| Britisch-Indien 3 Millionen Menschen starben. Ein weiteres Beispiel ist der | |
| Abwurf von Seeminen durch die US-Luftwaffe, womit 1945 die japanischen | |
| Häfen blockiert wurden. Die Operation lief unter dem Codenamen | |
| „Starvation“. | |
| Im Statut für den Internationalen Militärgerichtshof von Nürnberg war | |
| Genozid als Straftatbestand nicht enthalten, wohl aber „Verbrechen gegen | |
| die Menschlichkeit“. Nach Artikel 6 fielen darunter auch Anklagepunkte wie | |
| „Ausrottung“ oder „unmenschliche Handlungen“, die im Fall einer gezielt… | |
| Hungerstrategie zweifellos erfüllt sind. Wäre Aushungern in der Charta | |
| explizit genannt worden, hätte das für die Alliierten in Anbetracht ihrer | |
| eigenen Seeblockaden unangenehme Folgen gehabt. | |
| Die Verfolgung von „Hungerstrategien“ wirft tatsächlich enorme rechtliche | |
| Probleme auf. So hat der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige | |
| Jugoslawien (ICTY) gegen den serbischen General Galić, der die Belagerung | |
| von Sarajevo organisiert hat, keine Anklage wegen Aushungerns erhoben. | |
| Begründung: Zwar habe die Bevölkerung Hunger gelitten, aber kein Bewohner | |
| der Stadt sei an Hunger gestorben. Im Fall Äthiopien gelang es nicht, | |
| Anklage gegen das 1991 gestürzte Militärregime zu erheben, das Teile der | |
| eigenen Bevölkerung ausgehungert hatte, weil der Sonderankläger der neuen | |
| Regierung sich auf einen solchen Präzedenzfall nicht einlassen wollte. | |
| Die beste Chance, Aushungern als eigenständiges Delikt zu verfolgen, bot | |
| sich in Kambodscha, wo sich seit 2006 ein Sondertribunal mit den Verbrechen | |
| des Pol-Pot-Regimes befasst. Unter den Roten Khmer sind zwischen 1975 und | |
| 1979 mehr als 1 Million Kambodschaner verhungert. Aber wie schon bei den | |
| Nürnberger Prozessen wurde das Verbrechen des Aushungerns wieder im Rahmen | |
| anderer Anklagepunkte abgehandelt. | |
| 1977 wurde die Genfer Konvention von 1949 durch ein Zusatzprotokoll | |
| ergänzt, das auf Drängen des Internationalen Roten Kreuzes folgende | |
| Bestimmung enthält: „Das Aushungern von Zivilpersonen als Mittel der | |
| Kriegsführung ist verboten“ (Artikel 54, Absatz 1). Dieses Prinzip des | |
| humanitären Völkerrechts ist in seiner Anwendung aber stark eingegrenzt. | |
| Erstens gilt es nur für internationale Konflikte und nicht für | |
| Bürgerkriege. Zweitens sind „Abweichungen“ erlaubt, „wenn eine zwingende | |
| militärische Notwendigkeit dies erfordert“. Die Verpflichtung, | |
| Hilfslieferungen zuzulassen, gilt demnach nicht, wenn eine Blockade von | |
| einer Kriegspartei als „militärische Notwendigkeit“ dargestellt wird.[7] | |
| Bei den Verhandlungen über das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs | |
| (IStGH) schlug Kuba 1998 vor, Blockaden zu verbieten. Der Vorschlag wurde | |
| abgelehnt; just zu dieser Zeit setzten die USA und ihre Verbündeten | |
| umfassende Wirtschaftssanktionen gegen den Irak durch. | |
| Gleichzeitig stieg die Zahl internationaler Hilfsoperationen als Reaktion | |
| auf Hungerkatastrophen seit den 1980er Jahren stark an. Dabei hatten die | |
| Mitarbeiter humanitärer Organisationen eine klare Priorität: Sie wollten | |
| Nahrungsmittel zu den hungernden Menschen bringen. Hätten sie auch noch die | |
| Verbrechen, die zu der Hungersnot geführt hatten, dokumentieren sollen, | |
| wäre das für sie eine Ablenkung, wenn nicht gar ein Hindernis gewesen. | |
| Diesen Zielkonflikt konnte ich 1988 zu Beginn des Bürgerkriegs im Sudan | |
| beobachten. Damals starben tausende Südsudanesen in Lagern für | |
| Binnenflüchtlinge, die von regierungstreuen Milizen kontrolliert wurden. Am | |
| höchsten war die Sterberate in der kleinen Stadt Abyei. Auf meine | |
| Forderung, die für die Hungerblockade verantwortlichen Armeeoffiziere vor | |
| Gericht zu stellen, erklärte ein NGO-Mitarbeiter: „Ich würde mich mit dem | |
| Teufel zusammensetzen, um Nahrungsmittel nach Abyei zu kriegen.“ | |
| Ein Jahr später nahm der damalige Unicef-Exekutivdirektor James Grant eine | |
| Einladung zum Abendessen mit General Fadlallah Burma Nasir an, der die | |
| Aktionen der sudanesischen Milizen koordinierte. Im Anschluss konnte Grant | |
| eine Leben rettende Vereinbarung verkünden. Mit der „Operation Lifeline | |
| Sudan“ schaffte es eine UN-Organisation zum ersten Mal, die Fronten in | |
| einem Bürgerkrieg zu durchbrechen. | |
| Der Sudankonflikt bietet ein weiteres Beispiel für den – zeitweiligen – | |
| Erfolg „apolitischer“ humanitärer Hilfe. 2001 wurde Andrew Natsios von | |
| Präsident George W. Bush an die Spitze der staatlichen Hilfsorganisation | |
| USAID berufen. Seine wichtigste Aktion war die Autorisierung humanitärer | |
| Hilfe für die sudanesische Provinz Darfur im September 2003. Dafür wurde er | |
| von der kurz darauf gegründeten Save Darfur Coalition scharf attackiert, | |
| die auch seine Weigerung kritisierte, die damalige Hungerkatastrophe als | |
| Genozid zu bezeichnen. Dabei hat Natsios in Darfur mehr Menschenleben | |
| gerettet als alle seine Kritiker zusammen. | |
| Dieselbe Bush-Regierung hat andererseits jedoch mit ihrem Antiterrorkrieg | |
| und der Invasion im Irak bewiesen, dass es zu Hungerkatastrophen kommen | |
| kann, wenn ein Staat sich über die Ansprüche eines progressiven | |
| Internationalismus hinwegsetzt. Alle geschilderten aktuellen Hungersnöte | |
| sind auch eine Folge der Bush-Cheney-Doktrin, die die nationale Sicherheit | |
| der USA und den Kampf gegen den Terror für wichtiger erachtet als alles | |
| andere. Nach dieser Doktrin nutzen humanitäre Hilfsprogramme letztlich | |
| immer den Aufständischen oder helfen ihnen, ihre Herrschaft über die | |
| unterworfene Bevölkerung zu legitimieren. | |
| Die Folgen sehen wir derzeit in Nigeria beim Kampf gegen Boko Haram und im | |
| Jemen. Auch Somalia leidet immer noch unter den Folgen der Hungersnot von | |
| 2011, die auf das Dogma des Antiterrorkriegs zurückgeht, das humanitäre | |
| Hilfe verbietet – bis es zu spät ist. | |
| Die in Washington und London herrschenden Vorbehalte gegen humanitäre | |
| Aktionen, die in einer langen Tradition von Wirtschaftskriegen und | |
| Handelsblockaden wurzeln, sind nicht nur moralisch verwerflich, sondern | |
| auch ausgesprochen dumm. Wenn mangels internationaler Hilfe die Hungrigen | |
| nicht ernährt und die Kranken nicht behandelt werden, kommt das nur den | |
| Extremisten zugute. Und die gravierendste Folge von Hungersnöten war noch | |
| stets die Emigration. Das erleben heute die Golfstaaten, die das Ziel von | |
| Millionen Jemeniten sind. | |
| Während die Verfechter humanitärer Operationen ihre moralischen Werte | |
| zunehmend bedroht sehen, sind ihr Wissen und ihre Fähigkeiten heute stärker | |
| gefragt denn je. Deshalb sollten sie die Initiative ergreifen und fordern, | |
| dass Aushungern in die Liste der Verbrechen gegen die Menschlichkeit | |
| aufgenommen wird. | |
| 1 ↑Siehe Daniel Maxwell und Nisar Majid, „Famin in Somalia: Competing | |
| Imperatives, Collective Failures, 2011–12“, London (Hurst) 2016. | |
| 2 ↑Die vage „humanitäre“ Klausel im Patriot Act ist bis heute in Kraft. | |
| Damit unterliegen Hilfsaktionen für Hungernde nach wie vor einem | |
| „Sicherheitscheck“. | |
| 3 ↑Zum Hawala-System siehe: „Das Geld wird schneller“, Le Monde | |
| diplomatique, Januar 2009. | |
| 4 ↑Siehe Lemkins Hauptwerk „Axis Rule in Occupied Europe“, Washington | |
| (Carnegie Endowment for International Peace) 1944. | |
| 5 ↑Wigbert Benz, „Der Hungerplan im ‚Unternehmen Barbarossa‘ 1941“, B… | |
| (WGB) 2011. | |
| 6 ↑Der „Ministries Trial“ gegen Minister und Spitzenbürokraten des | |
| NS-Regimes (November 1947 bis April 1949) war der umfangreichste und | |
| längste der Nürnberger „Nachfolgeprozesse“. Er wurde als | |
| Wilhelmstraßen-Prozess bezeichnet, weil die meisten deutschen Ministerien | |
| in dieser Straße angesiedelt waren. | |
| 7 ↑Zitiert nach der offiziellen deutschsprachigen Fassung der Schweizer | |
| Regierung: www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19770112/index.html. | |
| Aus dem Englischen von Niels Kadritzke | |
| Alex de Waal ist geschäftsführender Direktor der World Peace Foundation. | |
| © London Review of Books, www.lrb.com; für die deutsche Übersetzung Le | |
| Monde diplomatique,Berlin | |
| 10 Aug 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Alex de Waal | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA |