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# taz.de -- Schäubles Gehäuse
> Geschichte und Wirkmachtder ordoliberalen Denkschule
Bild: Laula Fritz, ohne Titel, 1995, Fotografie, San Diego, Kalifornien
von François Denord, Rachel Knaebel, Pierre Rimbert
Wenn noch jemand einen Beleg brauchte, wie gefährlich Volksentscheide für
die Funktionsfähigkeit moderner Demokratien sind, hier ist er erbracht,“
wetterte Roland Nelles auf Spiegel Onlineam 6. Juli 2015 nach dem Ausgang
des griechischen Referendums. Die Schockstarre, die das griechische Nein in
Deutschland auslöste, rührt von dem Frontalzusammenstoß zweier
wirtschaftlicher und politischer Weltanschauungen.
Die eine, die auch der Referendumsidee zugrunde liegt, beruht auf einer
genuin politischen Auffassung von Regieren: Die Stimme des Volkes hat
Vorrang vor den Regeln der Buchhaltung; eine gewählte Regierung kann die
Regeln auch ändern. Der andere Ansatz bindet das Regierungshandeln strikt
an die festgelegten Regeln. Die Politiker können handeln, dürfen aber
diesen Rahmen nicht verlassen, der de facto durch demokratische Verfahren
nicht infrage gestellt werden darf. Eben diese Geisteshaltung verkörpert
Finanzminister Schäuble. Für ihn sind die Regeln göttliche Gesetze, wie
sein Exkollege Varoufakis bemerkt hat.
Diese „deutsche Ideologie“ hat einen Namen: Ordoliberalismus. Wie die
angelsächsischen „Laissez faire“-Verfechter sind auch die Ordoliberalen
strikt dagegen, dass der Staat dem Markt die Hände bindet. Aber anders als
Erstere gehen die Ordoliberalen davon aus, dass sich die gelobte freie
Konkurrenz nicht naturwüchsig entfaltet. Der Staat muss sie vielmehr
organisieren, muss den rechtlichen, technischen, sozialen, moralischen und
kulturellen Rahmen für das Walten des Markts schaffen – und für die
Einhaltung der Regeln sorgen. Foucault hat das Neue am Neoliberalismus
deutscher Prägung gegenüber dem alten Liberalismus des 19. Jahrhundert klar
benannt: „Es soll sich viel mehr um einen Staat unter der Aufsicht des
Marktes handeln als um einen Markt unter Aufsicht des Staates.“[1]
Die Geschichte des liberalen Interventionismus begann vor etwa achtzig
Jahren in der turbulenten Zwischenkriegszeit, und zwar in einer Stadt, auf
die Herr Schäuble im September 2012 ausdrücklich verwiesen hat: „Ich bin in
Freiburg geboren. Da gibt es so etwas wie die Freiburger Schule – das hat
was mit Ordoliberalismus zu tun. Das hat einen Zusammenhang mit Walter
Eucken. Der war zwar kein Finanzmarktexperte, aber von Ordnungspolitik hat
er etwas verstanden.“[2]
Freiburg im Breisgau liegt an den Hängen des Schwarzwalds, unweit des
Straßburger Münsters und auch unweit der Schweizer Bankschließfächer. Auch
in der damals katholisch-konservativen Hochburg blieb die Wirtschaftskrise
von 1929 nicht folgenlos: Aus den Wahlen vom März 1933 ging die NSDAP mit
knapp 36 Prozent der Stimmen als Sieger hervor.
Während die Weimarer Republik unterging, machten sich hier drei
Universitätsgelehrte Gedanken über die Zukunft. Der
Wirtschaftswissenschaftler Walter Eucken wollte seine Disziplin auf
philosophischer Grundlage erneuern; die Juristen Franz Böhm und Hans
Großmann-Doerth befassten sich aus rechtlicher Sicht mit dem heiklen
Problem der Monopole und Kartelle.
Ihre gemeinsame Arbeit mündete in eine eigenartige Synthese: in ein
Forschungsprogramm, das sich um den Begriff der Ordnung dreht: „Ordnung“
verstanden als ökonomisches Grundgesetz und zugleich als Spielregel. Um die
Kartelle zu neutralisieren und den Wettbewerb zu stärken, sei ein starker
Staat gefragt, der aber nicht selbst plant. „Die wirtschaftspolitische
Tätigkeit des Staates“ schreibt Eucken, „sollte auf die Gestaltung der
Ordnungsformen der Wirtschaft gerichtet sein, nicht auf die Lenkung des
Wirtschaftsprozesses.“
Im Gegensatz zum klassischen Wirtschaftsliberalismus englischer Prägung
betrachten die Ordoliberalen den Markt und das Privateigentum nicht als
natürliche Gegebenheiten, sondern als Ergebnis und Form menschlichen
Handelns‚ das eines Ordnungsrahmens bedarf. Deshalb müsse der Staat die
Regeln des Wettbewerbs wahren und notfalls wiederherstellen. Zu einem
marktgerechten Umfeld gehörten gut ausgebildete Arbeitskräfte, Erhaltung
und Ausbau der Infrastruktur, Anreize zum individuellen Sparen, rechtlicher
Schutz des Privateigentums, Vertragsfreiheit sowie stabile Eigentums- und
Patentrechte.
Zudem betont Eucken die herausragende Rolle eines funktionsfähigen
Preissystems. Dafür sorge, schreibt er in seinem wissenschaftlichen
„Testament“, eine Wirtschaftsverfassungspolitik, „die darauf abzielt, die
Marktform der vollständigen Konkurrenz zur Entwicklung zu bringen. Jede
Wirtschaftspolitik scheitert, der dies nicht gelingt. Das ist der
strategische Punkt, von dem aus man das Ganze beherrscht und auf den
deshalb alle Kräfte zu konzentrieren sind.“ Andernfalls führe der Einfluss
von Interessengruppen und der öffentlichen Meinung dazu, das oberste Ziel
der Geldwertstabilität zu verfehlen.
Der Ruf des anfangs kleinen Zirkels der Ordoliberalen drang bald über die
Freiburger Universität hinaus. Die Ökonomen Wilhelm Röpke und Alexander
Rüstow ergänzten den ordoliberalen Ansatz mit historischen und
soziologischen Bezügen, vor allem aber mit einer starken Dosis
konservativen Denkens.[3]Die beiden Gegner des Naziregimes deuteten die
Ende der 1920er Jahre einsetzende Krise nicht als Versagen des
Wirtschaftssystems, sondern als „sekundäre Krise“ der sozialen Ordnung und
der Politik. Die Moderne habe das Proletariat entmenschlicht, einen
Sozialstaat gemästet und kollektivistische Mentalitäten gezüchtet.
Gegenüber dem „Aufstand der Massen“ beschwor Röpke eine „Revolte der
Eliten“. Um den Arbeitern ihre verlorene Würde zurückzugeben, müsse man sie
in vordemokratische, „natürliche“ Gemeinschaften – Familie, Gemeinde,
Kirche – eingliedern und zugleich das Übel der Gleichmacherei ausmerzen.
Der Aufschwung des Ordoliberalismus war Teil einer Bewegung, die sich in
den 1930er Jahren unter dem Namen „Neoliberalismus“ international
ausbreitete. Dabei stellten sich die „Ordo“-Vertreter gegen liberale
„Nostalgiker“ wie Ludwig von Mises und seinen Schüler Friedrich Hayek, die
den überkommenen Laissez-faire-Liberalismus nicht kritisieren und verändern
wollten.
Ende der 1930er Jahre waren die Herolde der Ordopolitik noch Außenseiter.
Im Nazideutschland hatten sie kaum Bündnispartner, wenngleich manche von
ihnen in wirtschaftspolitischen Zirkeln des Regimes mitarbeiteten: Ludwig
Erhard und Alfred Müller-Armack etwa, die seit 1941 als Vertreter
industrienaher Wirtschaftsberatungsinstitute mit dem NS-Staat
zusammenarbeiteten. Aber als Denkschule war der Ordoliberalismus in der
NS-Zeit in den geistigen Untergrund verbannt. Zwei wichtige Vertreter,
Röpke und Rüstow, emigrierten noch 1933, andere gaben ihre Lehrtätigkeit
oder ihren alten Beruf auf, um nicht ihr gesamtes Denken widerrufen zu
müssen.[4]
## Der Erfinder der sozialen Marktwirtschaft
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann der Wiederaufbau, der sich in
der Bundesrepublik, anders als in Frankreich, Italien und Großbritannien,
nach wirtschaftsliberalen und nicht sozialdemokratischen Prinzipien
vollzog. Die einflussreichste Besatzungsmacht USA verhinderte die von der
Mehrheit der Deutschen gewünschte Verstaatlichung von Großunternehmen. Sie
förderte stattdessen eine „offene Wirtschaft“ – offen auch für künftige
Exporte – und erließ dem neuen Bundesgenossen die Hälfte seiner
Außenschulden.
Diese Bedingungen begünstigten von 1948 an den Aufbau eines politischen
Systems, in dem der Ordoliberalismus und die christliche Lehre zur
„sozialen Marktwirtschaft“ fusionierten. Der neue Ausdruck war glücklich
gewählt, wenngleich das Attribut „sozial“ trügt, wie Müller-Armack 1948
klarstellte: „Ihr sozialer Charakter liegt allein schon darin, dass sie in
der Lage ist, eine größere und mannigfaltigere Gütermenge zu Preisen
anzubieten, die der Konsument durch seine Nachfrage entscheidend
mitbestimmt.“[5]
Einige Maßnahmen sollten dennoch die Ungleichheiten mildern, die dem
Wettbewerbsmodell innewohnen: Beibehaltung der Bismarck’schen
Sozialversicherung, Einkommensteuer, sozialer Wohnungsbau, Hilfe für kleine
Unternehmen. Kurzum, das „Soziale“ meint im Grunde die Aufforderung an den
Staat, für die „marktgerechte“ Gesellschaft zu sorgen. Damit wurde
Nachkriegsdeutschland gleichsam zum neoliberalen Freilandversuch.
Der Leiter des Experiments hieß Ludwig Erhard, der während des Kriegs zum
Ordoliberalismus konvertiert war. Nach dem Krieg war er zunächst Direktor
der Verwaltung für Wirtschaft in der Bizone, also der US-amerikanischen und
britischen Besatzungszone. In der Adenauer-Regierung war er von 1949 bis
1963 Wirtschaftsminister, und schließlich von 1963 bis 1966 als Nachfolger
Adenauers selbst Bundeskanzler. Mit der Einführung der D-Mark am 20. Juni
1948 wurden zugleich Strukturreformen eingeleitet, die als Grundlagen des
„Wirtschaftswunders“ gelten und tief im kollektiven Gedächtnis der
Deutschen verankert sind.
Als Vater des Freihandels und der Privatisierungen pflegte Erhard seine
Politik mit einem Fußballspiel zu vergleichen, bei dem „der Schiedsrichter
nicht mitspielen darf, auch der Staat nicht mitzuspielen hat“. Wie beim
Fußball gebe es bestimmte, festgelegte Regeln: „Was ich mit einer
marktwirtschaftlichen Politik anstrebe, das ist ... die für dieses Spiel
geltenden Regeln aufzustellen.“[6]
Den Grundsätzen seines Lehrers Eucken folgend, war Erhard dagegen, dass der
Staat die Folgen von Konjunkturschwächen abfedert, weil er befürchtete,
dass eine staatliche, auf Vollbeschäftigung fixierte Konjunkturpolitik die
Geldwertstabilität bedrohen und die Verantwortung des Einzelnen schwächen
würde.
Ihren größten Triumph erlebte die Ordopolitik 1957, als Erhard zwei
wichtige Vorhaben durchsetzte: die Unabhängigkeit der Bundesbank und das
Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen. Damit wurden Geldwertstabilität und
unbeschränkter Wettbewerb zu Staatszielen erhoben. Damit sind diese beiden
Prinzipien „der regulären demokratischen Abstimmung entzogen“, urteilt
Christophe Strassel, Staatssekretär im französischen Bildungs- und
Forschungsministerium.
## Die Anbetung der schwarzen Null
Natürlich hat der deutsche Wirtschaftsminister diese Politik nicht im
Alleingang betrieben. Seit 1948 umgab sich Erhard mit ordoliberalen
Experten aus der Freiburger Schule, die dem wissenschaftlichen Beirat der
Bizone angehörten: Franz Böhm, Walter Eucken, Alfred Müller-Armack. Den
erstaunlichsten Durchbruch schaffte der Ordoliberalismus jedoch im
parlamentarischen Raum. Mit dem Begriff „soziale Marktwirtschaft“ und dem
Slogan „Wohlstand für alle“ bot er der noch jungen CDU die Gelegenheit, den
Sozialdemokraten ihr ureigenes Terrain streitig zu machen.[7]
Der Sirenengesang des „Sozialen“ im CDU-Motto rief einige SPD-Vordenker auf
den Plan. 1955 propagierte Karl Schiller in seiner Schrift „Sozialismus und
Wettbewerb“ das Leitbild: „So viel Wettbewerb wie möglich, so viel Planung
wie nötig.“ Diese Formel übernahm die SPD 1959 ins Godesberger Programm,
mit dem sie endgültig ihren Frieden mit Privateigentum und Marktwirtschaft
machte.
Dieser Anpassungskurs wäre schier undenkbar, hätte sich nicht zuvor der
Ordoliberalismus in der deutschen Gesellschaft eindeutig durchgesetzt: als
praktizierte „soziale Marktwirtschaft“, als Mixtur aus Eucken und Bismarck,
also Marktregeln Freiburger Machart und Sozialversicherung.
Erst Erhards Sturz von 1966 kündigte eine wirkliche „soziale“ Wende an, die
sich 1969 mit der Regierung des Sozialdemokraten Willy Brandt vollzog. Zu
den ordoliberalen und Bismarck’schen Einflüssen trat nun eine
keynesianische Perspektive hinzu: mittelfristige Finanzplanung, höhere
Löhne, Ausbau der Mitbestimmung, öffentliche Investitionen in Bildung und
Gesundheit. Die Bundesrepublik der 1970er Jahre bastelte sich ein „Modell
Deutschland“, das sich weiterhin zur sozialen Marktwirtschaft bekannte, ihr
aber eine kräftige Dosis klassischer Staatsinterventionen verpasste.
Mit dem Regierungswechsel von 1982 gelang es Helmut Kohl, diese
wirtschaftspolitische Zwischenzeit zu beenden. Die Waage senkte sich wieder
in Richtung der haushaltspolitischen „schwarzen Null“, obgleich in den
1990er Jahren die Kosten der deutschen Vereinigung die Rückkehr zu den
ordoliberalen Wurzeln verzögerten.
Erst dem Sozialdemokraten Gerhard Schröder sollte 1998 die Rolle zufallen,
die Wirtschaftsordnung der 1950er Jahre durch massive Deregulierung im
Arbeitsrecht und das Ausdünnen der sozialen Sicherungssysteme auf
zeitgemäße Weise zu restaurieren. Diese Politik besiegelte Angela Merkel,
die schon 2011 den Begriff der marktkonformen Demokratie geprägt hatte, mit
dem Satz: „Die soziale Marktwirtschaft ist unser Kompass, weil ihre
Prinzipien zeitlos gültig sind.“[8]
Achtzig Jahre nach seiner Gründung lebt der deutsche Ordoliberalismus in
wichtigen Institutionen fort: im 1957 geschaffenen Bundeskartellamt, in der
Monopolkommission und im Stabilitätsrat, der seit 2010 die Einhaltung der
Schuldenbremse bei Bund und Ländern überwachen soll. Die ordoliberale
Ideologie durchzieht die wirtschaftspolitische Sprache, als wäre sie ein
deutsches „Kulturgut“, das jeder auf seine Weise ausdeuten darf.
Ob Konservative oder Liberale, ob SPD, Grüne oder gar die Alternative für
Deutschland, deren Mitgründer Starbatty Assistent von Müller-Armack war:
Die deutschen Parteien haben viele Erben Euckens in ihren Reihen, und jeder
beschuldigt die anderen, das ordoliberale Denken zu missbrauchen. „Ich bin
ein Ordoliberaler, aber von links“, versichert Gerhard Schick, der seit
2005 für Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag sitzt. Der promovierte Ökonom,
ehemals Mitarbeiter am Walter-Eucken-Institut der Uni Freiburg, würde sich
jedoch „auf keinen Fall“ als neoliberal bezeichnen: „Bei den Grünen ist …
Begriff ‚soziale Marktwirtschaft‘ allgemein anerkannt, wenngleich wir gern
das „Ökologische“ hinzufügen. In jedem Fall teile ich die kritischen
ordoliberalen Analysen zur Marktbeherrschung. Und ich finde es wichtig,
dass der Staat Regeln setzt, damit der Wettbewerb funktionieren kann.“
Bei den Grünen gibt es heute mehr oder minder interventionistische
Strömungen. Für Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, ist der
Ordoliberalismus keine geschlossene Doktrin. Sein Leitbild der
„Verantwortung“ könne die Regulierung der Finanzmärkte und Umweltsteuern
ebenso begründen wie die Ablehnung eines gemeinsamen europäischen
Schuldentilgungsfonds: „Im Grunde ist der Ordoliberalismus ein dritter Weg
zwischen Laissez-faire-Kapitalismus und Etatismus. Das ist gerade für die
Grünen ein interessanter Ansatz, der sie von traditionellen
links-sozialistischen Konzepten und zugleich vom heutigen Neoliberalismus
abgrenzen kann.“
Herbert Schui sieht das anders. Der Ökonom und ehemalige Linken-Abgeordnete
im Bundestag sieht in der sozialen Marktwirtschaft einen rein „suggestiven“
Begriff, „der verbreitet wurde, um die Leute von sozialistischen Ideen
abzuhalten. Seine suggestive Kraft ist offensichtlich so groß, dass sogar
ein paar Linke darauf hereinfallen.“ Das vieldeutige Leitbild versprach
zudem eine „Neubegründung“ vertrauter Prinzipien – was in etwa der Rolle
des Gaullismus in Frankreich entspricht.
Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund übernahm den Begriff 1996 in sein
Grundsatzprogramm: „Die soziale Marktwirtschaft hat einen hohen materiellen
Wohlstand bewirkt“ und „bedeutet gegenüber einem ungebändigten Kapitalism…
einen großen historischen Fortschritt“. Er räumt aber ein: „Aber auch die
soziale Marktwirtschaft hat weder Massenarbeitslosigkeit noch
Ressourcenverschwendung verhindert; auch sie hat soziale Gerechtigkeit
nicht hergestellt.“[9]
Während ein Teil der deutschen Linken im Ordoliberalismus eine Form des
Interventionismus als mögliche Alternative zum heutigen Neoliberalismus
sieht, besetzt die Arbeitgeberseite den Begriff im streng
wirtschaftsliberalen Sinne. So kämpfte die vom Arbeitgeberverband
Gesamtmetall finanzierte „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ gegen
die staatliche Förderung der erneuerbaren Energien, gegen die
Erbschaftsteuerreform und noch bis zum Schluss gegen den 2015 eingeführten
gesetzlichen Mindestlohn.
## Blaupause für Maastricht
Als jüngster Ableger der 1953 gegründeten „Aktionsgemeinschaft Soziale
Marktwirtschaft“ lobt die „Jenaer Allianz zur Erneuerung der Sozialen
Marktwirtschaft“ alljährlich den „ORDO-Preis für ordnungspolitische
Innovationen“ aus. Der Kronberger Kreis, ein Zirkel von
Wirtschaftswissenschaftlern, der als „wissenschaftlicher Beirat“ der
Stiftung Marktwirtschaft fungiert, sieht sich als „Vordenker notwendiger
Reformen“, dessen Vorschläge „die wirtschaftspolitische Diskussion in
Deutschland maßgeblich geprägt haben“.[10]
Insgesamt verfügt die Ordopolitik über ein mächtiges Netzwerk, das bis in
die Kirchen hineinreicht. Das mit Abstand einflussreichste Organ, das
Ludwig Erhard 1963 als Beratungsgremien der Bundesregierung gründete, ist
der „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen
Entwicklung“. Nur einer seiner fünf derzeitigen Mitglieder ist Keynesianer:
Peter Bofinger, der im Economistvom 9. Mai 2015 klagte: „Egal welches
Thema, ich bin immer allein gegen vier.“
Bofingers Kollegen sehen sich vor allem als Pragmatiker. „Die meisten
Mitglieder erkennen die Vorzüge ordnungspolitischer Konzepte an. Aber wenn
Sie genauer hinschauen, ist es doch ziemlich heterogen“, erklärt Lars Feld,
einer der „Weisen“ und Präsident des Freiburger Walter-Eucken-Instituts.
Die Ordoliberalen seien nicht grundsätzlich gegen eine expansive
Fiskalpolitik in der Wirtschaftskrise. Das gelte auch für heutige
Ordoliberale wie ihn selbst und Clemens Fuest: „Wir haben in der
Finanzkrise 2008 gemeinsam einen Brief an Herrn Steinbrück geschrieben. Da
haben wir klar empfohlen, ein größeres Konjunkturpaket vorzulegen und eine
expansive Fiskalpolitik zu betreiben. Wir haben aber natürlich auch
reingeschrieben: Wenn Ihr Angst habt, dass sich danach Eure
Refinanzierungsbedingungen verschlechtern, dann führt die Schuldenbremse
ein.“ Beiden Empfehlungen sei die Bundesregierung damals gefolgt. Der
Wirtschaftswissenschaftler Ralf Ptak sieht es anders: „Die Deutschen
pflegen in ihrer Mischung aus Ordoliberalismus und Neoklassik eine
besondere Art des Dogmatismus. Für mich ist es manchmal unfassbar, wie
wenig beweglich Deutschland ist. Und das zieht sich durch alle
Institutionen.“
Über ihre eigenwillige deutsche Lesart hat die Ordoideologie Einzug in die
Europäische Union gehalten. Im Februar 2013 bekannte Bundesbankpräsident
Jens Weidmann in aller Offenheit: „Der gesamte Maastricht-Rahmen spiegelt
zentrale Prinzipien des Ordoliberalismus und der sozialen Marktwirtschaft
wider.“[11]Entsprechend klingt Artikel 2.3 des Ende 2009 in Kraft
getretenen Lissabonner Vertrags wie die Passage einer Erhard-Rede,
beschwört er doch „eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale
Marktwirtschaft“ auf der Basis von ausgewogenem Wirtschaftswachstum und
Preisstabilität.
Das ist kein Zufall. Von Walter Hallstein, 1958 bis 1967 erster Präsident
der Europäischen Kommission, über Alfred Müller-Armack bis Hans von der
Groeben, EWG- Wettbewerbskommissar in der Ära Hallstein, waren die meisten
deutschen Vertreter, die in den 1950er Jahren den Gemeinsamen Markt mit
aufbauten, Anhänger der Eucken’schen Denkschule. Diese europäischen
Spitzenbeamten haben, zunächst als Außenseiter, die Wirtschaftsstrategie
Erhards und seiner Expertengremien aus der Bundesrepublik auf die
europäische Gemeinschaftsebene übertragen. Dabei zielten sie vor allem auf
die Schaffung eines rechtlichen Rahmens für Wettbewerb und
Geldwertstabilität, was die Großmächte während des Kalten Kriegs für
zweitrangig hielten.
Dennoch war ihr Triumph zunächst nicht gesichert. Denn das europäische
Gebäude wurde in den 1950er Jahren auf zwei sehr unterschiedlichen
ideologischen Pfeilern errichtet. Die französische Regierung verfolgte eine
eher interventionistische, planwirtschaftliche Strategie und wollte ganze
Wirtschaftsbereiche (die Landwirtschaft und nationale Schlüsselindustrien)
mithilfe von Ausnahmeregeln und Subventionen aus dem Wettbewerb
heraushalten. Die andere, ordoliberale Strategie drängte die europäischen
Partner, alle Handelsbarrieren auch über die EG hinaus einzureißen; schon
1956 machte sich Bundeskanzler Erhard für einen übergreifenden
transatlantischen Markt stark.
Obwohl das französische Konzept in den 1960er Jahren den Ton angab, war der
Trend zur Deregulierung, zum uneingeschränkten Wettbewerb und einer
restriktiven Finanz- und Haushaltspolitik nicht aufzuhalten. Am 23. März
1983 dankte Frankreich symbolisch ab, als François Mitterrand seine
„Politik des Bruchs“, für die er gewählt worden war, aufkündigte und die
Bindung des Franc an das Europäische Währungssystem aufrechterhielt. Die
damit eingeleitete Austeritätspolitik der französischen Linken ist von
ähnlicher symbolischer Bedeutung wie das Spardiktat, das Alexis Tsipras am
6. Juli 2015 in Brüssel schlucken musste. Damals gestand Mitterrand: „Ich
bin zwischen zwei Zielen hin- und hergerissen: zwischen dem Aufbau Europas
und der sozialen Gerechtigkeit.“[12]Vor dieselbe Alternative wurde der
griechische Regierungschef gestellt, wobei der Druck, den Kohl und der
französische Finanzminister Jacques Delors seinerzeit ausübten, weniger
hart war als die wütenden Ultimaten an die griechische Adresse.
Fünfundzwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer prägt die „Ordo“-Doktrin nach
wie vor das Denken in der Brüsseler „Generaldirektion Wettbewerb“ und hat
zahlreiche EU-Kommissare inspiriert: vom Belgier Karel van Miert, Träger
des Ludwig-Erhard-Preises von 1998, bis zum Italiener Mario Monti. Doch die
schier uneinnehmbare Ordofestung bleibt Frankfurt. In der Funktionsweise,
der Unabhängigkeit von den demokratischen Institutionen und der
Verpflichtung auf das zentrale Ziel der Geldwertstabilität ist die
Europäische Zentralbank fast ein Ebenbild der Bundesbank. Zu Recht hat die
französische Wirtschaftszeitung Les Echos2003 den scheidenden
EZB-Präsidenten Jean-Claude Trichet als „glaubwürdigsten Vertreter des
Geistes wie auch der Praxis der Bundesbank“ gewürdigt.
Heute ist der Kampf der zwei Schulen in Europa beendet: Es gibt nur noch
eine. Die Volkssouveränität ist trockengelegt, ersetzt durch immer neue
kalt-effiziente Steuerungsmechanismen, die in den Brüsseler Büros und im
Frankfurter EZB-Turm ausgeheckt werden: von den demokratisch nicht
legitimierten Maastricht-Kriterien (mit der berühmten 3-Prozent-Grenze für
das Staatsdefizit) bis zur der im März 2012 eingeführten Schuldenbremse für
die Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten.
Zehn Tage nach dem griechischen Referendum erklärte Hans-Werner Sinn, der
einflussreichste rechtsrheinische Ökonom, Schäuble-Berater und zugleich ein
besonders starrsinniger Vertreter der herrschenden Lehre: „Die gegenwärtige
Krise in Europa schließt die Anwendung keynesianischer Rezepte aus. Das ist
nicht einmal besonders ordoliberal, das ist ganz einfach ökonomisch.“ Auf
dem Weg in die autoritäre Marktgesellschaft ist Euckens Denkgebäude zum
ehernen Gehäuse geworden.
[1 ]Michel Foucault, „Die Geburt der Biopolitik, Geschichte der
Gouvernementalität II“. Vorlesung am Collège de France 1978/79, Frankfurt
am Main (Suhrkamp) 2006, S. 168.
2 ↑Rede am 5. September in Frankfurt am Main:
[1][www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Audio/Alternativtexte/2012-09
-05-euroforum-alternativtext.html?view=renderPrint].
3 ↑Rüstows reaktionäres Frauenbild zeigte sich etwa in einer Rede auf der
Jahrestagung der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft aus dem Jahr
1960: Er habe bezüglich der Regulierung des Arbeitsmarkts nichts gegen „ein
Einstellungsverbot für Mütter kleiner Kinder.“
4 ↑Vgl. Ralf Ptak, „Vom Ordoliberalismus zur sozialen Marktwirtschaft“,
Opladen (Leske + Budrich) 2004, S. 57 ff. Der spätere Wirtschaftsminister
und Bundeskanzler Ludwig Erhard war in der NS-Zeit als wissenschaftlicher
Berater tätig. Umstritten ist, ob seine Studien zur wirtschaftlichen
Nachkriegsordnung ein oppositionelles Element enthielten, wie später
behauptet wurde. Alfred Müller-Armack, der Urheber des Begriffs „soziale
Marktwirtschaft“, war seit 1933 NSDAP-Mitglied; das von ihm geleitete
Institut war „vollständig in die kriegswirtschaftlichen Aufgaben und die
Bewältigung ihrer wirtschafts- und sozialpolitischen Folgen integriert.“
(Ptak 2004, S. 85).
5 ↑Alfred Müller-Armack, „Vorschläge zur Verwirklichung der Sozialen
Marktwirtschaft“, Mai 1948.
6 ↑Ludwig Erhard, „Wohlstand für alle“, Düsseldorf (Econ) 1957, S. 134�…
Die Einführung der Mitbestimmung für die Montanindustrie setzte Adenauer
unter dem Druck der Gewerkschaften gegen Erhard durch.
7 ↑Zudem organisierte der 1952 von Erhard initiierte und von der Industrie
finanzierte Verein „Die Waage“ bis 1965 Kampagnen bei Wahlen. Die FAZdruckt
regelmäßig Zeugnisse der ordoliberalen Denkschule ab; so am 31. Juli 2015
ganzseitig ein Dokument der Jenaer Allianz zur Erneuerung der Sozialen
Marktwirtschaft, „Die Risiken der Niedrigzinspolitik der EZB“.
8 ↑Regierungserklärung vom 29. Januar 2014.
9 ↑Grundsatzprogramm des Deutschen Gewerkschaftsbunds (1996), S. 20.
10 ↑Insbesondere zu Themen wie Unternehmensbesteuerung, soziale Sicherung,
Arbeitsmarkt oder öffentliche Verwaltung. Zur Selbstdarstellung des
Kronberger Kreises siehe:
[2][www.stiftung-marktwirtschaft.de/wirtschaft/kronberger-kreis.html].
11
↑[3][www.bundesbank.de/Redaktion/DE/Reden/2013/2013_02_11_weidmann.html].
12 ↑Nach Angaben von Jacques Attali (1993), zitiert in: François Cusset,
„Critique des années Mitterrand“, Le Monde,9. Mai 2011.
Aus dem Französischen von Ulf Kadritzke
François Denord ist Soziologe am CNRS; Rachel Knaebel ist Journalistin in
Berlin.
13 Aug 2015
## LINKS
[1] http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Audio/Alternativtexte/2012…
[2] http://www.stiftung-marktwirtschaft.de/wirtschaft/kronberger-kreis.html
[3] http://www.bundesbank.de/Redaktion/DE/Reden/-2013/-2013-_02_11_weidmann.html
## AUTOREN
François Denord, Rachel Knaebel, Pierre Rimbert
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