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# taz.de -- Unser Kompass zeigt gen Süden
> Fortschritte und Hindernisse auf dem Weg zur regionalen Integration
> Südamerikas von Gerhard Dilger
Die Analyse der US-Diplomaten ist erhellend: „Brasilianern kommt jede
Präsenz oder Aktivität der USA in Südamerika verdächtig vor“, kabelte die
Botschaft in Brasília am 25. November 2009 an das Außenministerium in
Washington, und: „Brasilien hat ein fast neurotisches Bedürfnis, den USA
ebenbürtig zu sein und als ebenbürtig gesehen zu werden.“ Hintergrund war
die Sorge der brasilianischen Regierung über das von ihr als
„problematisch“ erachtete US-kolumbianische Militärabkommen, das eine Krise
zwischen Venezuela und Kolumbien ausgelöst hatte. Brasilianische
Regierungsfunktionäre bedeuteten den US-Diplomaten, dass Südamerika auch in
diesem Fall seine eigenen Probleme lieber im Rahmen des Staatenbunds Unasur
(Union Südamerikanischer Nationen) lösen wolle.[1]
Noch vor zehn Jahren wäre eine solche Depesche undenkbar gewesen – die
südamerikanischen Regierungen der neunziger Jahre hatten sich allesamt dem
neoliberalen Credo der letzten Jahrzehnte, dem „Washington Consensus“,
unterworfen. Im Prinzip waren sie bereit, sich dem US-Projekt einer
Freihandelszone von Alaska bis Feuerland (Alca) anzuschließen – dass es bis
zur Jahrtausendwende nicht dazu kam, lag vor allem am Protektionismus
Washingtons. Die Wirtschaftspolitik in der Region wurde von IWF und
Weltbank vorgegeben, die wichtigste diplomatische Arena war die
Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), in der die USA den Ton angeben.
Eine schwere Finanzkrise hatte den Subkontinent fest im Griff, Ende 2001
kam es zum Zusammenbruch Argentiniens.
Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts hat sich die politische und
wirtschaftliche Szenerie deutlich gewandelt: Mit der „rosaroten Welle“, die
in Venezuela, Brasilien, Argentinien, Uruguay, Bolivien, Ecuador und
Paraguay progressive Kandidaten an die Staatsspitze spülte und teilweise
mehrfach bestätigte, kehrte das Primat des Politischen nach Südamerika
zurück.
Den Rohstoffboom zwischen 2003 und 2008 nutzten die Regierungen für
ambitionierte Sozialprogramme, die Armut ging zurück, die Binnenmärkte
wuchsen. Gegenüber ihrem ideologischen Antipoden George W. Bush grenzten
sich die fortschrittlichen Staatschefs selbstbewusster ab denn je. Und in
einem nie gekannten Ausmaß setzten sie auf regionale Zusammenarbeit – auch
wenn dabei die institutionellen Fortschritte nur selten mit Rhetorik und
Absichtserklärungen Schritt halten konnten.
Der „Traum der Integration“, der sich bis in die Ära der
Unabhängigkeitskriege gegen Spanien vor 200 Jahren zurückverfolgen lässt,
habe sich nun in eine absolute Notwendigkeit verwandelt, sagt Uruguays
Präsident José Mujica (seit 2010) immer wieder. „Entweder wir managen die
Globalisierung – oder sie managt uns“, meint er, eine wirkliche Integration
müsse aber weit über das Ökonomische hinausgehen und vor allem unter
Beteiligung der Bevölkerung stattfinden.[2]
Ganz ähnlich argumentiert Samuel Pinheiro Guimarães, einer der
strategischen Köpfe der brasilianischen Außenpolitik und seit kurzem Hoher
Generalvertreter des Mercosur. Für kein Land Südamerikas, auch nicht für
Brasilien, sei eine individuelle Lösung machbar, vier Herausforderungen
gelte es gemeinsam zu meistern: den Abbau der Kluft zwischen Arm und Reich,
die Überwindung der Außenabhängigkeiten, die nachhaltige Nutzung des
„außerordentlichen natürlichen Potenzials“ Südamerikas sowie die Umwandl…
formal demokratischer Systeme in wirkliche Demokratien, in denen auch die
bislang Ausgegrenzten mitreden.[3]
In den spanischsprachigen Ländern, die in den 200-Jahr-Feiern seit 2009
markanter Ereignisse der Unabhängigkeitskriege gedenken, wird häufig ein
positiver Bogen zu den Emanzipationsbestrebungen der Gegenwart geschlagen.
Gerade der venezolanische Staatschef Hugo Chávez (seit 1999) sieht sich so
sehr als Erbe des „Libertadors“ Simón Bolívar (1783–1830), dass er den
Kämpfer für die Unabhängigkeit mythisch überhöht und ihn für sein
„sozialistisches“ Projekt reklamiert.
In Wirklichkeit ist das Erbe jener Epoche durchaus ambivalent, verbesserte
sich doch das Los der indigenen und schwarzen Bevölkerungsmehrheit
keineswegs. Die Ideale der Französischen Revolution blieben uneingelöst,
aber immerhin waren sie nun dauerhaft in der Agenda Lateinamerikas
verankert.[4]Die politische Unabhängigkeit des 19. Jahrhunderts, so lautet
der Konsens der Linken von Caracas bis Buenos Aires heute, müsse im 21.
Jahrhundert durch ökonomische Eigenständigkeit mit sozialem Ausgleich
erweitert werden, die „zweite“ Unabhängigkeit.
Angeführt werden die Bemühungen um eine regionale Integration unter
sozialen Vorzeichen von Brasilien, das rund die Hälfte der Fläche,
Bevölkerung und Wirtschaftsleistung Südamerikas stellt. Exemplarisch
verkörperte Präsident Luiz Inácio Lula da Silva (2003–2010) die
Führungsrolle seines Landes, die mittlerweile selbst von den rechten
Präsidenten Chiles und Kolumbiens anerkannt wird. Dass Brasilien auf dem
Parkett der Weltpolitik selbstbewusster denn je die Rolle einer Macht
spielt, die sich entgegen dem Status quo in multilateralen Gremien für die
Interessen des „Südens“ einsetzt,[5]kommt auch seinen Nachbarn zugute. Für
Kontinuität in dieser von der brasilianischen Rechten heftig attackierten
Südausrichtung der Außenpolitik steht Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff
(seit 2011). Innenpolitisch setzt sie jenen Kurs fort, den Marco Aurélio
Garcia, seit 2003 außenpolitischer Chefberater im Präsidentenpalast, die
„Sozialdemokratie des Südens“ nennt.[6]
Zentral für die regionale Kooperation ist die Achse Brasília–Buenos Aires,
ebenso für die seit 1991 bestehende Zollunion Mercosur mit den
Vollmitgliedern Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay. Geschichte
und Vorgeschichte des Mercosur zeigen aber auch, wie langsam das Projekt
der Integration vorangeht. Zwar hat die jahrzehntelange Rivalität zwischen
Brasilien und Argentinien mit dem Ende der Militärdiktaturen 1985
allmählich einer „strategischen Partnerschaft“ Platz gemacht, doch zugleich
ist die politische und wirtschaftliche Übermacht Brasiliens immer weiter
gewachsen.
Die kleineren Partner Paraguay und Uruguay haben noch mehr Grund, die
„Asymmetrien“ des Mercosur zu beklagen, zu deren Milderung der – bescheid…
ausgestattete – Regionalfonds Focem gegründet wurde. Die konservative
Mehrheit im paraguayischen Kongress sträubt sich noch immer dagegen, den
Ende 2006 beschlossenen Beitritt Venezuelas zu ratifizieren.
Die Andengemeinschaft (Comunidad Andina de Naciones, CAN) hingegen, der um
2006 die zehn Staaten Südamerikas angehörten oder assoziiert waren, wurde
zweifach geschwächt: zunächst durch den Austritt Venezuelas 2006 und
anschließend durch den Druck der EU. Auf den Widerstand Boliviens und
Ecuadors gegen ein klassisches Freihandelsabkommen reagierte Brüssel, indem
es separate Abkommen mit Peru und Kolumbien aushandelte, die 2010
unterzeichnet wurden.
Die historische Weichenstellung hin zur selbstbestimmten Integration
Südamerikas fand im November 2005 auf dem Gipfel der Amerikas im
argentinischen Mar del Plata statt. Unter der Führung von Lula da Silva und
Néstor Kirchner (2003–2007) wurde das neoliberale Alca-Projekt begraben,
von dem in erster Linie nordamerikanische Konzerne profitiert hätten. So
war der Weg frei für die Unasur, die schließlich im Mai 2008 in Brasília
gegründet wurde.
## Erste Feuerprobe für den neuen Staatenbund
Wenige Monate später bestand der neue Staatenbund seine erste Feuerprobe:
Einmütig stärkten die Präsidenten angesichts schwerer Unruhen in
Ostbolivien auf einer Sondersitzung ihrem Kollegen Evo Morales (Präsident
seit 2006) den Rücken und entschärften dadurch die Krise. Ähnlich schnell
agierten sie im September 2010 angesichts des Putschversuchs gegen Rafael
Correa (Präsident seit 2007) in Ecuador. Staatsstreiche in Lateinamerika,
auch solche in anderer Form als im 20. Jahrhundert, sollen der
Vergangenheit angehören.[7]
Nach dem völkerrechtswidrigen Luftangriff Kolumbiens auf ein Lager der
Farc-Guerilla auf ecuadorianischem Territorium im März 2008 trieb Brasilien
die Gründung des Südamerikanischen Verteidigungsrats (CDS) voran, was
zunächst in Bogotá auf wenig Gegenliebe stieß.[8]Mittlerweile jedoch löst
sich der neue kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos (seit 2010) von
der fast ausschließlichen Fixierung auf die USA und bekundet demonstrativ
Interesse an regionalen Initiativen.
Die brasilianische Regierung unterstellt vor allem den USA, aber auch
europäischen Ländern, die natürlichen Ressourcen Südamerikas ausbeuten zu
wollen. Es geht dabei um Amazonien, das riesige unterirdische
Wasserreservoir Guaraní oder die jüngst entdeckten Erdölvorkommen vor der
brasilianischen Atlantikküste. In diesem Zusammenhang registrierte Brasília
die Reaktivierung der 4. US-Flotte für den Südatlantik 2008 mit großem
Misstrauen.
Man lehne den Vorstoß der USA ab, die Trennung von Nord- und Südatlantik
aufzuheben, betonte Verteidigungsminister Nelson Jobim im November 2010.
Die USA hätten die UN-Konvention zum Seerecht nicht unterzeichnet und
redeten von „geteilter Souveränität“: „Was uns fragen lässt: Welche
Souveränität wollen die USA teilen, ihre oder unsere?“ Die Europäer wies er
auf deren Abhängigkeit von den USA in Sicherheitsfragen hin, der man
definitiv nicht nacheifern wolle: „Keine südamerikanische Nation ist Teil
eines regionalen Verteidigungsbündnisses, das sich anmaßt, auf der Basis
unterschiedlichster Vorwände in irgendeinem Teil der Welt intervenieren zu
können.“[9]
Über den Verteidigungsrat wollen die Südamerikaner eine gemeinsame
Sicherheitsarchitektur entwickeln und auch in der Rüstungsindustrie stärker
zusammenarbeiten.[10]Daneben gibt es innerhalb der Unasur Räte zu Energie-
und Gesundheitsfragen, Wirtschaft und Finanzen sowie zum Kampf gegen den
Drogenhandel. Das Generalsekretariat wird im ecuadorianischen Quito gebaut,
das Parlament im bolivianischen Cochabamba.
Unasur ist sicher der vielversprechendste regionale Zusammenschluss, doch
nicht der einzige. Über Südamerika hinaus reicht die im Februar 2010
gebildete Gemeinschaft der lateinamerikanischen und karibischen Staaten –
bislang vor allem ein Zeichen dafür, dass man gern auch ohne die USA und
Kanada agieren möchte. Die Gründung ist ein weiterer Baustein für eine
multilaterale Weltordnung, „Teil einer globalen und kontinentalen Wende,
geprägt vom Niedergang der US-Hegemonie und dem Aufstieg einer Gruppe von
Regionalblöcken, die dabei sind, ein neues globales Gleichgewicht zu
bilden“.[11]Prominentes Mitglied ist Kuba, das auf Betreiben Washingtons
1962 aus der OAS ausgeschlossen worden war. Die OAS büßt immer mehr an
Bedeutung ein, ebenso der seit 1991 auf Betreiben Spaniens jährlich
ausgerichtete Iberoamerikanische Gipfel. Die Handelsströme verschieben sich
dramatisch in Richtung China.
Als antikapitalistischer Zusammenschluss versteht sich die 2004 von Kuba
und Venezuela gegründete „Bolivarianische Allianz für die Völker unseres
Amerika/Handelsvertrag der Völker“ (Alba-TCP), der sich seither Bolivien,
Ecuador, Nicaragua und die karibischen Inselstaaten Antigua und Barbuda,
Dominica und St. Vincent und die Grenadinen angeschlossen haben; Honduras
trat nach dem Putsch 2009 wieder aus. Alphabetisierungs- und
Gesundheitsprogramme spielen eine wichtige Rolle, doch der zentrale Faktor,
der das Bündnis wirtschaftlich zusammenhält und „solidarischen“ Handel
ermöglicht, sind Venezuelas subventionierte Ölexporte. Albas Erfolg hängt
von der Stabilität der venezolanischen Wirtschaft ab[12]– und die
schwächelt. Ebenso wie Argentinien und Brasilien weiten die Alba-Staaten
ihren Handel langsam unter Umgehung des US-Dollar aus, und zwar über die
noch virtuelle Alba-Währung Sucre.
Immer noch auf dem Papier steht die zwischen 2007 und 2009 gegründete „Bank
des Südens“ (Banco del Sur), und zwar weniger aus technischen als aus
politischen Gründen. Die Mitglieder Argentinien, Bolivien, Brasilien,
Ecuador, Paraguay, Uruguay und Venezuela haben sich noch nicht auf das
Profil der Entwicklungsbank verständigt. Die Ratifizierung durch die
nationalen Parlamente steht noch aus, ebenso wenig sind die angekündigten
20 Milliarden Dollar Startkapital in Sicht.
Die brasilianische Entwicklungsbank BNDES hingegen vervierfachte seit 2005
ihr Kreditvolumen, allein 2010 zahlte sie umgerechnet 96 Milliarden Dollar
aus. Ihr Geld kommt vor allem brasilianischen Multis zugute, die damit auch
in Nachbarländern unökologische Großprojekte umsetzen, etwa den Bau einer
Fernstraße durch einen bolivianischen Nationalpark oder sechs
Wasserkraftwerke im peruanischen Amazonasgebiet, deren Strom nach Brasilien
exportiert werden soll.[13]
Gerade im Hinblick auf die „physische Integration“ Südamerikas durch
Infrastrukturprojekte sind die Kontinuitäten zur neoliberalen Ära größer,
als die Rhetorik der fortschrittlichen Regierungen vermuten lässt. Es war
Lulas Vorgänger Fernando Henrique Cardoso (1995–2002), der im August 2000
zum ersten Südamerika-Gipfeltreffen überhaupt nach Brasília lud, um die
Initiative für die Integration der regionalen Infrastruktur Südamerikas
(IIRSA) auf den Weg zu bringen. Bislang voneinander auf dem Landweg
isolierte Teile des Subkontinents sollen durch zehn Verkehrsachsen
verbunden werden.
Zu den größten Profiteuren gehören brasilianische Baufirmen sowie das
Agrobusiness und Bergbaumultis, die dadurch Transportkosten für ihre
Produkte, vor allem im Handel mit China, senken wollen. Im letzten
Jahrzehnt hat sich der Anteil der unverarbeiteten Produkte in der
Exportbilanz sogar drastisch erhöht, in Brasilien von 26,3 Prozent (2001)
auf 44,6 Prozent (2010). Der Neoliberalismus ist nicht von
binnenzentrierten oder gar ökosozialen Entwicklungskonzepten, sondern von
einem „Neoextraktivismus“ abgelöst worden. Der Staat spielt dabei eine
deutliche größere Rolle als früher, und so wird der Rohstoffexport nun mit
einem progressiven Diskurs gerechtfertigt.[14]
Den Brasilianern hat ihre übermächtige ökonomische Präsenz – ein weiteres
Beispiel sind die brasilianischen Sojafarmen in Bolivien, Paraguay oder
Uruguay – in den Nachbarländern den Ruf „neuer Imperialisten“ eingebrach…
Und das, obwohl sich Brasília seit 2003 vermittelnd bei Konflikten zwischen
den Multis und den Ansprüchen der Nachbarregierungen einschaltet, etwa als
es um höhere Anteile an den Einkünften bei Erdöl- oder Erdgasprojekten in
Ecuador und Bolivien ging; ebenso kam die brasilianische Regierung Paraguay
entgegen, das für seinen überschüssigen Strom aus dem binationalen
Itaipú-Wasserkraftwerk einen höheren Preis möchte. Doch insgesamt stockt
die viel beschworene Energie-Integration; das Megaprojekt einer Gasleitung
von Venezuela nach Argentinien wurde ad acta gelegt.
Trotz der massiven Förderung brasilianischer Kapitalinteressen weht der
Regierung stets der Gegenwind einheimischer Unternehmer ins Gesicht. Der
Politologe und Verbandsfunktionär Christian Lohbauer bedauert in schöner
Offenheit das Fehlen eines „subimperialistischen“ Projekts, über das die
Nachbarländer gezielt von brasilianischen Produkten und Dienstleistungen
abhängig gemacht werden sollten.[15]
Wie sozial also ist die Integration in der Praxis und inwiefern erreicht
sie die breite Bevölkerung? Ohne die starke Mobilisierung sozialer
Bewegungen in den neunziger und frühen nuller Jahren wären die meisten
linken Staatschefs wohl gar nicht im Amt. Massenproteste trugen erheblich
zum Zusammenbruch der alten Regime in Venezuela, vor allem aber in Bolivien
und Ecuador bei. Ungleich stabiler ist die Lage der traditionellen
Oligarchien in Brasilien, Paraguay oder Uruguay. Überall gehen die
Präsidenten – sei es aus machtpolitischem Pragmatismus, sei es aus
Überzeugung – Allianzen oder Kompromisse mit zumindest Teilen der
wirtschaftlich Mächtigen ein, strukturelle Reformen zur Umverteilung des
Reichtums oder gar „Sozialismus“ stehen nicht auf der Tagesordnung.
Basisgruppen, Bewegungen, Gewerkschaften und NGOs, die Protagonisten der
Welt- und anderer Sozialforen, haben sich zur „Zivilgesellschaft“ vernetzt.
Ihre Beziehungen zu den fortschrittlichen Regierungen sind kompliziert: Sie
reichen von diversen Formen der Kooptierung, besonders in Brasilien und
Argentinien, über kritische Solidarität bis hin zum offenen Bruch wie
zwischen den ecuadorianischen Indigenen-Organisationen und Präsident
Correa. Der geballten Staatsmacht können sie in keinem Land wirklich etwas
entgegensetzen, in den Medien fristen sie ein Nischendasein.
## Bindungen durch Migration, Fußball und Kultur
Oft greifen die Regierungen die Diskurse der Globalisierungskritiker auf,
vor allem in Bolivien. Besonders gut ließ sich das auf dem alternativen
Klimagipfel in Cochabamba im April 2010 beobachten, wo es den Aktivisten
gelang, einige ihrer marktkritischen Positionen in der Abschlusserklärung
unterzubringen. Doch die Kluft zu den Wachstumsaposteln in der Regierung
war offensichtlich: So mussten die indigenen Kritiker der
IIRSA-Infrastrukturprogramme und der extraktivistischen Großprojekte am
Rande des offiziellen Programms tagen.[16]Auch die häufigen „Dialoge“
zwischen Regierungsvertretern und Zivilgesellschaft bei solchen
Großveranstaltungen oder bei manchen Präsidentengipfeln sind eine recht
einseitige Angelegenheit, kontroverse Debatten sind nicht erwünscht.
Integration an der Basis findet durch die Migrationsbewegungen statt.
Bolivianer und Paraguayer arbeiten zu Hunderttausenden in São Paulo oder
Buenos Aires, Kolumbianer sind aus wirtschaftlichen Gründen oder wegen des
Bürgerkriegs nach Venezuela oder Ecuador ausgewandert, Peruaner zieht es
nach Chile. Millionen Brasilianer sind unter Lula in die Mittelschicht
aufgestiegen, der Tourismus in die Nachbarstaaten boomt. Über den
Spitzensport Fußball findet ein gewisser Austausch statt, und im Hinblick
auf die Olympiade 2016 in Rio betrifft das immer mehr Breitensportarten.
Dazu kommen Initiativen auf universitärer Ebene, die Förderung des
Spanischen an brasilianischen Schulen, mehr Übersetzungen von
spanischsprachigen Büchern ins brasilianische Portugiesisch und umkehrt,
die größere regionale Verbreitung lateinamerikanischer Filme und Musik. Und
der Mehrstaatensender Telesur mit Sitz in Caracas hat den berühmten
Ausspruch des uruguayischen Künstlers Joaquín Torres García (1874–1949) zum
Motto erkoren: „Nuestro Norte es el Sur“ (etwa: „Unser Kompass zeigt gen
Süden“).
Das alles sind kleine Schritte hin zu einer regionalen Identität, die nach
jahrhundertelanger kolonialer und neokolonialer Dominanz nur langsam
entwickelt werden kann. Zumal die Gegenkräfte immer noch übermächtig
scheinen: Samuel Pinheiro Guimarães konstatiert in seinem Buch eine
weitverbreitete „ideologische Verwundbarkeit“ und ein „kolonisiertes
Bewusstsein“, das mit einer „breiten und wachsenden kulturellen Hegemonie
des Auslands“ einhergehe.[17]
Eine Zwischenbilanz der Integrationsbemühungen in Südamerika fällt daher
notgedrungen gemischt aus. Einen auch institutionell gefestigten
Regionalblock wie die EU oder gar die USA wird es auf absehbare Zeit nicht
geben – das verhindert schon der fehlende Konsens zwischen dem
progressiv-linksnationalistischen Lager und den nach wie vor an den USA und
Europa ausgerichteten Liberalen und Konservativen. Diese Kluft zieht sich
durch alle südamerikanischen Eliten, gerade auch in den „Führungsmächten“
Argentinien und Brasilien. Hinzu kommt das breite ideologische Spektrum,
das von den linken Regierungen Venezuelas oder Boliviens bis zu den
eindeutig neoliberal ausgerichteten in Chile, Peru und Kolumbien reicht.
Eine kulturelle Sonderstellung nehmen die drei Guayanas ein: das
englischsprachige Guyana, Surinam und die Kolonialenklave
Französisch-Guayana.
Der frühere Unctad-Chef Rubens Ricupero vermisst „gemeinsame Werte und
Ziele“, auf denen jede weitreichende Integration gründen müsse. Durch die
politische Entwicklung der letzten Jahre sei die lange gültige „Option für
die USA“ ebenso hinfällig geworden wie der Konsens darüber, wie die
Gesellschaften zu organisieren seien, nämlich nach dem Vorbild westlicher
Marktwirtschaften. Er folgert, zum gegenwärtigen Zeitpunkt sei nur eine
flexible, oberflächliche Integration möglich.[18]Was kein Manko sein muss,
wie Brasiliens Verteidigungsminister Jobim in Rio betonte: Im Vergleich zur
EU seien die südamerikanischen Integrationsprojekte weniger ehrgeizig,
meint er, „doch deshalb sind sie nicht weniger erfolgreich bei der
Aufrechterhaltung einer Atmosphäre des Friedens und der Zusammenarbeit“.
Dafür steht eine Entscheidung der Unasur am 10. März 2011: Die Nachfolge
des verstorbenen Unasur-Generalsekretärs Néstor Kirchner teilen sich zwei
erfahrene Diplomaten aus Kolumbien und Venezuela: Ein Jahr amtiert die
frühere kolumbianische Außenministerin María Emma Mejía, auf sie wird Alí
Rodríguez folgen, derzeit noch Energieminister in Caracas.
Die Integrationsbemühungen würden fortgesetzt, auch im
Verteidigungsbereich, sagt Jobim, allerdings „ohne Souveränität an
transnationale Organisationen abzutreten“. Historisch gesehen ist ein
solches Beharren auf Eigenständigkeit – vor allem nach außen hin – ein
großer Fortschritt.
8 Apr 2011
## AUTOREN
Gerhard Dilger
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