| # taz.de -- Unser Kompass zeigt gen Süden | |
| > Fortschritte und Hindernisse auf dem Weg zur regionalen Integration | |
| > Südamerikas von Gerhard Dilger | |
| Die Analyse der US-Diplomaten ist erhellend: „Brasilianern kommt jede | |
| Präsenz oder Aktivität der USA in Südamerika verdächtig vor“, kabelte die | |
| Botschaft in Brasília am 25. November 2009 an das Außenministerium in | |
| Washington, und: „Brasilien hat ein fast neurotisches Bedürfnis, den USA | |
| ebenbürtig zu sein und als ebenbürtig gesehen zu werden.“ Hintergrund war | |
| die Sorge der brasilianischen Regierung über das von ihr als | |
| „problematisch“ erachtete US-kolumbianische Militärabkommen, das eine Krise | |
| zwischen Venezuela und Kolumbien ausgelöst hatte. Brasilianische | |
| Regierungsfunktionäre bedeuteten den US-Diplomaten, dass Südamerika auch in | |
| diesem Fall seine eigenen Probleme lieber im Rahmen des Staatenbunds Unasur | |
| (Union Südamerikanischer Nationen) lösen wolle.[1] | |
| Noch vor zehn Jahren wäre eine solche Depesche undenkbar gewesen – die | |
| südamerikanischen Regierungen der neunziger Jahre hatten sich allesamt dem | |
| neoliberalen Credo der letzten Jahrzehnte, dem „Washington Consensus“, | |
| unterworfen. Im Prinzip waren sie bereit, sich dem US-Projekt einer | |
| Freihandelszone von Alaska bis Feuerland (Alca) anzuschließen – dass es bis | |
| zur Jahrtausendwende nicht dazu kam, lag vor allem am Protektionismus | |
| Washingtons. Die Wirtschaftspolitik in der Region wurde von IWF und | |
| Weltbank vorgegeben, die wichtigste diplomatische Arena war die | |
| Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), in der die USA den Ton angeben. | |
| Eine schwere Finanzkrise hatte den Subkontinent fest im Griff, Ende 2001 | |
| kam es zum Zusammenbruch Argentiniens. | |
| Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts hat sich die politische und | |
| wirtschaftliche Szenerie deutlich gewandelt: Mit der „rosaroten Welle“, die | |
| in Venezuela, Brasilien, Argentinien, Uruguay, Bolivien, Ecuador und | |
| Paraguay progressive Kandidaten an die Staatsspitze spülte und teilweise | |
| mehrfach bestätigte, kehrte das Primat des Politischen nach Südamerika | |
| zurück. | |
| Den Rohstoffboom zwischen 2003 und 2008 nutzten die Regierungen für | |
| ambitionierte Sozialprogramme, die Armut ging zurück, die Binnenmärkte | |
| wuchsen. Gegenüber ihrem ideologischen Antipoden George W. Bush grenzten | |
| sich die fortschrittlichen Staatschefs selbstbewusster ab denn je. Und in | |
| einem nie gekannten Ausmaß setzten sie auf regionale Zusammenarbeit – auch | |
| wenn dabei die institutionellen Fortschritte nur selten mit Rhetorik und | |
| Absichtserklärungen Schritt halten konnten. | |
| Der „Traum der Integration“, der sich bis in die Ära der | |
| Unabhängigkeitskriege gegen Spanien vor 200 Jahren zurückverfolgen lässt, | |
| habe sich nun in eine absolute Notwendigkeit verwandelt, sagt Uruguays | |
| Präsident José Mujica (seit 2010) immer wieder. „Entweder wir managen die | |
| Globalisierung – oder sie managt uns“, meint er, eine wirkliche Integration | |
| müsse aber weit über das Ökonomische hinausgehen und vor allem unter | |
| Beteiligung der Bevölkerung stattfinden.[2] | |
| Ganz ähnlich argumentiert Samuel Pinheiro Guimarães, einer der | |
| strategischen Köpfe der brasilianischen Außenpolitik und seit kurzem Hoher | |
| Generalvertreter des Mercosur. Für kein Land Südamerikas, auch nicht für | |
| Brasilien, sei eine individuelle Lösung machbar, vier Herausforderungen | |
| gelte es gemeinsam zu meistern: den Abbau der Kluft zwischen Arm und Reich, | |
| die Überwindung der Außenabhängigkeiten, die nachhaltige Nutzung des | |
| „außerordentlichen natürlichen Potenzials“ Südamerikas sowie die Umwandl… | |
| formal demokratischer Systeme in wirkliche Demokratien, in denen auch die | |
| bislang Ausgegrenzten mitreden.[3] | |
| In den spanischsprachigen Ländern, die in den 200-Jahr-Feiern seit 2009 | |
| markanter Ereignisse der Unabhängigkeitskriege gedenken, wird häufig ein | |
| positiver Bogen zu den Emanzipationsbestrebungen der Gegenwart geschlagen. | |
| Gerade der venezolanische Staatschef Hugo Chávez (seit 1999) sieht sich so | |
| sehr als Erbe des „Libertadors“ Simón Bolívar (1783–1830), dass er den | |
| Kämpfer für die Unabhängigkeit mythisch überhöht und ihn für sein | |
| „sozialistisches“ Projekt reklamiert. | |
| In Wirklichkeit ist das Erbe jener Epoche durchaus ambivalent, verbesserte | |
| sich doch das Los der indigenen und schwarzen Bevölkerungsmehrheit | |
| keineswegs. Die Ideale der Französischen Revolution blieben uneingelöst, | |
| aber immerhin waren sie nun dauerhaft in der Agenda Lateinamerikas | |
| verankert.[4]Die politische Unabhängigkeit des 19. Jahrhunderts, so lautet | |
| der Konsens der Linken von Caracas bis Buenos Aires heute, müsse im 21. | |
| Jahrhundert durch ökonomische Eigenständigkeit mit sozialem Ausgleich | |
| erweitert werden, die „zweite“ Unabhängigkeit. | |
| Angeführt werden die Bemühungen um eine regionale Integration unter | |
| sozialen Vorzeichen von Brasilien, das rund die Hälfte der Fläche, | |
| Bevölkerung und Wirtschaftsleistung Südamerikas stellt. Exemplarisch | |
| verkörperte Präsident Luiz Inácio Lula da Silva (2003–2010) die | |
| Führungsrolle seines Landes, die mittlerweile selbst von den rechten | |
| Präsidenten Chiles und Kolumbiens anerkannt wird. Dass Brasilien auf dem | |
| Parkett der Weltpolitik selbstbewusster denn je die Rolle einer Macht | |
| spielt, die sich entgegen dem Status quo in multilateralen Gremien für die | |
| Interessen des „Südens“ einsetzt,[5]kommt auch seinen Nachbarn zugute. Für | |
| Kontinuität in dieser von der brasilianischen Rechten heftig attackierten | |
| Südausrichtung der Außenpolitik steht Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff | |
| (seit 2011). Innenpolitisch setzt sie jenen Kurs fort, den Marco Aurélio | |
| Garcia, seit 2003 außenpolitischer Chefberater im Präsidentenpalast, die | |
| „Sozialdemokratie des Südens“ nennt.[6] | |
| Zentral für die regionale Kooperation ist die Achse Brasília–Buenos Aires, | |
| ebenso für die seit 1991 bestehende Zollunion Mercosur mit den | |
| Vollmitgliedern Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay. Geschichte | |
| und Vorgeschichte des Mercosur zeigen aber auch, wie langsam das Projekt | |
| der Integration vorangeht. Zwar hat die jahrzehntelange Rivalität zwischen | |
| Brasilien und Argentinien mit dem Ende der Militärdiktaturen 1985 | |
| allmählich einer „strategischen Partnerschaft“ Platz gemacht, doch zugleich | |
| ist die politische und wirtschaftliche Übermacht Brasiliens immer weiter | |
| gewachsen. | |
| Die kleineren Partner Paraguay und Uruguay haben noch mehr Grund, die | |
| „Asymmetrien“ des Mercosur zu beklagen, zu deren Milderung der – bescheid… | |
| ausgestattete – Regionalfonds Focem gegründet wurde. Die konservative | |
| Mehrheit im paraguayischen Kongress sträubt sich noch immer dagegen, den | |
| Ende 2006 beschlossenen Beitritt Venezuelas zu ratifizieren. | |
| Die Andengemeinschaft (Comunidad Andina de Naciones, CAN) hingegen, der um | |
| 2006 die zehn Staaten Südamerikas angehörten oder assoziiert waren, wurde | |
| zweifach geschwächt: zunächst durch den Austritt Venezuelas 2006 und | |
| anschließend durch den Druck der EU. Auf den Widerstand Boliviens und | |
| Ecuadors gegen ein klassisches Freihandelsabkommen reagierte Brüssel, indem | |
| es separate Abkommen mit Peru und Kolumbien aushandelte, die 2010 | |
| unterzeichnet wurden. | |
| Die historische Weichenstellung hin zur selbstbestimmten Integration | |
| Südamerikas fand im November 2005 auf dem Gipfel der Amerikas im | |
| argentinischen Mar del Plata statt. Unter der Führung von Lula da Silva und | |
| Néstor Kirchner (2003–2007) wurde das neoliberale Alca-Projekt begraben, | |
| von dem in erster Linie nordamerikanische Konzerne profitiert hätten. So | |
| war der Weg frei für die Unasur, die schließlich im Mai 2008 in Brasília | |
| gegründet wurde. | |
| ## Erste Feuerprobe für den neuen Staatenbund | |
| Wenige Monate später bestand der neue Staatenbund seine erste Feuerprobe: | |
| Einmütig stärkten die Präsidenten angesichts schwerer Unruhen in | |
| Ostbolivien auf einer Sondersitzung ihrem Kollegen Evo Morales (Präsident | |
| seit 2006) den Rücken und entschärften dadurch die Krise. Ähnlich schnell | |
| agierten sie im September 2010 angesichts des Putschversuchs gegen Rafael | |
| Correa (Präsident seit 2007) in Ecuador. Staatsstreiche in Lateinamerika, | |
| auch solche in anderer Form als im 20. Jahrhundert, sollen der | |
| Vergangenheit angehören.[7] | |
| Nach dem völkerrechtswidrigen Luftangriff Kolumbiens auf ein Lager der | |
| Farc-Guerilla auf ecuadorianischem Territorium im März 2008 trieb Brasilien | |
| die Gründung des Südamerikanischen Verteidigungsrats (CDS) voran, was | |
| zunächst in Bogotá auf wenig Gegenliebe stieß.[8]Mittlerweile jedoch löst | |
| sich der neue kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos (seit 2010) von | |
| der fast ausschließlichen Fixierung auf die USA und bekundet demonstrativ | |
| Interesse an regionalen Initiativen. | |
| Die brasilianische Regierung unterstellt vor allem den USA, aber auch | |
| europäischen Ländern, die natürlichen Ressourcen Südamerikas ausbeuten zu | |
| wollen. Es geht dabei um Amazonien, das riesige unterirdische | |
| Wasserreservoir Guaraní oder die jüngst entdeckten Erdölvorkommen vor der | |
| brasilianischen Atlantikküste. In diesem Zusammenhang registrierte Brasília | |
| die Reaktivierung der 4. US-Flotte für den Südatlantik 2008 mit großem | |
| Misstrauen. | |
| Man lehne den Vorstoß der USA ab, die Trennung von Nord- und Südatlantik | |
| aufzuheben, betonte Verteidigungsminister Nelson Jobim im November 2010. | |
| Die USA hätten die UN-Konvention zum Seerecht nicht unterzeichnet und | |
| redeten von „geteilter Souveränität“: „Was uns fragen lässt: Welche | |
| Souveränität wollen die USA teilen, ihre oder unsere?“ Die Europäer wies er | |
| auf deren Abhängigkeit von den USA in Sicherheitsfragen hin, der man | |
| definitiv nicht nacheifern wolle: „Keine südamerikanische Nation ist Teil | |
| eines regionalen Verteidigungsbündnisses, das sich anmaßt, auf der Basis | |
| unterschiedlichster Vorwände in irgendeinem Teil der Welt intervenieren zu | |
| können.“[9] | |
| Über den Verteidigungsrat wollen die Südamerikaner eine gemeinsame | |
| Sicherheitsarchitektur entwickeln und auch in der Rüstungsindustrie stärker | |
| zusammenarbeiten.[10]Daneben gibt es innerhalb der Unasur Räte zu Energie- | |
| und Gesundheitsfragen, Wirtschaft und Finanzen sowie zum Kampf gegen den | |
| Drogenhandel. Das Generalsekretariat wird im ecuadorianischen Quito gebaut, | |
| das Parlament im bolivianischen Cochabamba. | |
| Unasur ist sicher der vielversprechendste regionale Zusammenschluss, doch | |
| nicht der einzige. Über Südamerika hinaus reicht die im Februar 2010 | |
| gebildete Gemeinschaft der lateinamerikanischen und karibischen Staaten – | |
| bislang vor allem ein Zeichen dafür, dass man gern auch ohne die USA und | |
| Kanada agieren möchte. Die Gründung ist ein weiterer Baustein für eine | |
| multilaterale Weltordnung, „Teil einer globalen und kontinentalen Wende, | |
| geprägt vom Niedergang der US-Hegemonie und dem Aufstieg einer Gruppe von | |
| Regionalblöcken, die dabei sind, ein neues globales Gleichgewicht zu | |
| bilden“.[11]Prominentes Mitglied ist Kuba, das auf Betreiben Washingtons | |
| 1962 aus der OAS ausgeschlossen worden war. Die OAS büßt immer mehr an | |
| Bedeutung ein, ebenso der seit 1991 auf Betreiben Spaniens jährlich | |
| ausgerichtete Iberoamerikanische Gipfel. Die Handelsströme verschieben sich | |
| dramatisch in Richtung China. | |
| Als antikapitalistischer Zusammenschluss versteht sich die 2004 von Kuba | |
| und Venezuela gegründete „Bolivarianische Allianz für die Völker unseres | |
| Amerika/Handelsvertrag der Völker“ (Alba-TCP), der sich seither Bolivien, | |
| Ecuador, Nicaragua und die karibischen Inselstaaten Antigua und Barbuda, | |
| Dominica und St. Vincent und die Grenadinen angeschlossen haben; Honduras | |
| trat nach dem Putsch 2009 wieder aus. Alphabetisierungs- und | |
| Gesundheitsprogramme spielen eine wichtige Rolle, doch der zentrale Faktor, | |
| der das Bündnis wirtschaftlich zusammenhält und „solidarischen“ Handel | |
| ermöglicht, sind Venezuelas subventionierte Ölexporte. Albas Erfolg hängt | |
| von der Stabilität der venezolanischen Wirtschaft ab[12]– und die | |
| schwächelt. Ebenso wie Argentinien und Brasilien weiten die Alba-Staaten | |
| ihren Handel langsam unter Umgehung des US-Dollar aus, und zwar über die | |
| noch virtuelle Alba-Währung Sucre. | |
| Immer noch auf dem Papier steht die zwischen 2007 und 2009 gegründete „Bank | |
| des Südens“ (Banco del Sur), und zwar weniger aus technischen als aus | |
| politischen Gründen. Die Mitglieder Argentinien, Bolivien, Brasilien, | |
| Ecuador, Paraguay, Uruguay und Venezuela haben sich noch nicht auf das | |
| Profil der Entwicklungsbank verständigt. Die Ratifizierung durch die | |
| nationalen Parlamente steht noch aus, ebenso wenig sind die angekündigten | |
| 20 Milliarden Dollar Startkapital in Sicht. | |
| Die brasilianische Entwicklungsbank BNDES hingegen vervierfachte seit 2005 | |
| ihr Kreditvolumen, allein 2010 zahlte sie umgerechnet 96 Milliarden Dollar | |
| aus. Ihr Geld kommt vor allem brasilianischen Multis zugute, die damit auch | |
| in Nachbarländern unökologische Großprojekte umsetzen, etwa den Bau einer | |
| Fernstraße durch einen bolivianischen Nationalpark oder sechs | |
| Wasserkraftwerke im peruanischen Amazonasgebiet, deren Strom nach Brasilien | |
| exportiert werden soll.[13] | |
| Gerade im Hinblick auf die „physische Integration“ Südamerikas durch | |
| Infrastrukturprojekte sind die Kontinuitäten zur neoliberalen Ära größer, | |
| als die Rhetorik der fortschrittlichen Regierungen vermuten lässt. Es war | |
| Lulas Vorgänger Fernando Henrique Cardoso (1995–2002), der im August 2000 | |
| zum ersten Südamerika-Gipfeltreffen überhaupt nach Brasília lud, um die | |
| Initiative für die Integration der regionalen Infrastruktur Südamerikas | |
| (IIRSA) auf den Weg zu bringen. Bislang voneinander auf dem Landweg | |
| isolierte Teile des Subkontinents sollen durch zehn Verkehrsachsen | |
| verbunden werden. | |
| Zu den größten Profiteuren gehören brasilianische Baufirmen sowie das | |
| Agrobusiness und Bergbaumultis, die dadurch Transportkosten für ihre | |
| Produkte, vor allem im Handel mit China, senken wollen. Im letzten | |
| Jahrzehnt hat sich der Anteil der unverarbeiteten Produkte in der | |
| Exportbilanz sogar drastisch erhöht, in Brasilien von 26,3 Prozent (2001) | |
| auf 44,6 Prozent (2010). Der Neoliberalismus ist nicht von | |
| binnenzentrierten oder gar ökosozialen Entwicklungskonzepten, sondern von | |
| einem „Neoextraktivismus“ abgelöst worden. Der Staat spielt dabei eine | |
| deutliche größere Rolle als früher, und so wird der Rohstoffexport nun mit | |
| einem progressiven Diskurs gerechtfertigt.[14] | |
| Den Brasilianern hat ihre übermächtige ökonomische Präsenz – ein weiteres | |
| Beispiel sind die brasilianischen Sojafarmen in Bolivien, Paraguay oder | |
| Uruguay – in den Nachbarländern den Ruf „neuer Imperialisten“ eingebrach… | |
| Und das, obwohl sich Brasília seit 2003 vermittelnd bei Konflikten zwischen | |
| den Multis und den Ansprüchen der Nachbarregierungen einschaltet, etwa als | |
| es um höhere Anteile an den Einkünften bei Erdöl- oder Erdgasprojekten in | |
| Ecuador und Bolivien ging; ebenso kam die brasilianische Regierung Paraguay | |
| entgegen, das für seinen überschüssigen Strom aus dem binationalen | |
| Itaipú-Wasserkraftwerk einen höheren Preis möchte. Doch insgesamt stockt | |
| die viel beschworene Energie-Integration; das Megaprojekt einer Gasleitung | |
| von Venezuela nach Argentinien wurde ad acta gelegt. | |
| Trotz der massiven Förderung brasilianischer Kapitalinteressen weht der | |
| Regierung stets der Gegenwind einheimischer Unternehmer ins Gesicht. Der | |
| Politologe und Verbandsfunktionär Christian Lohbauer bedauert in schöner | |
| Offenheit das Fehlen eines „subimperialistischen“ Projekts, über das die | |
| Nachbarländer gezielt von brasilianischen Produkten und Dienstleistungen | |
| abhängig gemacht werden sollten.[15] | |
| Wie sozial also ist die Integration in der Praxis und inwiefern erreicht | |
| sie die breite Bevölkerung? Ohne die starke Mobilisierung sozialer | |
| Bewegungen in den neunziger und frühen nuller Jahren wären die meisten | |
| linken Staatschefs wohl gar nicht im Amt. Massenproteste trugen erheblich | |
| zum Zusammenbruch der alten Regime in Venezuela, vor allem aber in Bolivien | |
| und Ecuador bei. Ungleich stabiler ist die Lage der traditionellen | |
| Oligarchien in Brasilien, Paraguay oder Uruguay. Überall gehen die | |
| Präsidenten – sei es aus machtpolitischem Pragmatismus, sei es aus | |
| Überzeugung – Allianzen oder Kompromisse mit zumindest Teilen der | |
| wirtschaftlich Mächtigen ein, strukturelle Reformen zur Umverteilung des | |
| Reichtums oder gar „Sozialismus“ stehen nicht auf der Tagesordnung. | |
| Basisgruppen, Bewegungen, Gewerkschaften und NGOs, die Protagonisten der | |
| Welt- und anderer Sozialforen, haben sich zur „Zivilgesellschaft“ vernetzt. | |
| Ihre Beziehungen zu den fortschrittlichen Regierungen sind kompliziert: Sie | |
| reichen von diversen Formen der Kooptierung, besonders in Brasilien und | |
| Argentinien, über kritische Solidarität bis hin zum offenen Bruch wie | |
| zwischen den ecuadorianischen Indigenen-Organisationen und Präsident | |
| Correa. Der geballten Staatsmacht können sie in keinem Land wirklich etwas | |
| entgegensetzen, in den Medien fristen sie ein Nischendasein. | |
| ## Bindungen durch Migration, Fußball und Kultur | |
| Oft greifen die Regierungen die Diskurse der Globalisierungskritiker auf, | |
| vor allem in Bolivien. Besonders gut ließ sich das auf dem alternativen | |
| Klimagipfel in Cochabamba im April 2010 beobachten, wo es den Aktivisten | |
| gelang, einige ihrer marktkritischen Positionen in der Abschlusserklärung | |
| unterzubringen. Doch die Kluft zu den Wachstumsaposteln in der Regierung | |
| war offensichtlich: So mussten die indigenen Kritiker der | |
| IIRSA-Infrastrukturprogramme und der extraktivistischen Großprojekte am | |
| Rande des offiziellen Programms tagen.[16]Auch die häufigen „Dialoge“ | |
| zwischen Regierungsvertretern und Zivilgesellschaft bei solchen | |
| Großveranstaltungen oder bei manchen Präsidentengipfeln sind eine recht | |
| einseitige Angelegenheit, kontroverse Debatten sind nicht erwünscht. | |
| Integration an der Basis findet durch die Migrationsbewegungen statt. | |
| Bolivianer und Paraguayer arbeiten zu Hunderttausenden in São Paulo oder | |
| Buenos Aires, Kolumbianer sind aus wirtschaftlichen Gründen oder wegen des | |
| Bürgerkriegs nach Venezuela oder Ecuador ausgewandert, Peruaner zieht es | |
| nach Chile. Millionen Brasilianer sind unter Lula in die Mittelschicht | |
| aufgestiegen, der Tourismus in die Nachbarstaaten boomt. Über den | |
| Spitzensport Fußball findet ein gewisser Austausch statt, und im Hinblick | |
| auf die Olympiade 2016 in Rio betrifft das immer mehr Breitensportarten. | |
| Dazu kommen Initiativen auf universitärer Ebene, die Förderung des | |
| Spanischen an brasilianischen Schulen, mehr Übersetzungen von | |
| spanischsprachigen Büchern ins brasilianische Portugiesisch und umkehrt, | |
| die größere regionale Verbreitung lateinamerikanischer Filme und Musik. Und | |
| der Mehrstaatensender Telesur mit Sitz in Caracas hat den berühmten | |
| Ausspruch des uruguayischen Künstlers Joaquín Torres García (1874–1949) zum | |
| Motto erkoren: „Nuestro Norte es el Sur“ (etwa: „Unser Kompass zeigt gen | |
| Süden“). | |
| Das alles sind kleine Schritte hin zu einer regionalen Identität, die nach | |
| jahrhundertelanger kolonialer und neokolonialer Dominanz nur langsam | |
| entwickelt werden kann. Zumal die Gegenkräfte immer noch übermächtig | |
| scheinen: Samuel Pinheiro Guimarães konstatiert in seinem Buch eine | |
| weitverbreitete „ideologische Verwundbarkeit“ und ein „kolonisiertes | |
| Bewusstsein“, das mit einer „breiten und wachsenden kulturellen Hegemonie | |
| des Auslands“ einhergehe.[17] | |
| Eine Zwischenbilanz der Integrationsbemühungen in Südamerika fällt daher | |
| notgedrungen gemischt aus. Einen auch institutionell gefestigten | |
| Regionalblock wie die EU oder gar die USA wird es auf absehbare Zeit nicht | |
| geben – das verhindert schon der fehlende Konsens zwischen dem | |
| progressiv-linksnationalistischen Lager und den nach wie vor an den USA und | |
| Europa ausgerichteten Liberalen und Konservativen. Diese Kluft zieht sich | |
| durch alle südamerikanischen Eliten, gerade auch in den „Führungsmächten“ | |
| Argentinien und Brasilien. Hinzu kommt das breite ideologische Spektrum, | |
| das von den linken Regierungen Venezuelas oder Boliviens bis zu den | |
| eindeutig neoliberal ausgerichteten in Chile, Peru und Kolumbien reicht. | |
| Eine kulturelle Sonderstellung nehmen die drei Guayanas ein: das | |
| englischsprachige Guyana, Surinam und die Kolonialenklave | |
| Französisch-Guayana. | |
| Der frühere Unctad-Chef Rubens Ricupero vermisst „gemeinsame Werte und | |
| Ziele“, auf denen jede weitreichende Integration gründen müsse. Durch die | |
| politische Entwicklung der letzten Jahre sei die lange gültige „Option für | |
| die USA“ ebenso hinfällig geworden wie der Konsens darüber, wie die | |
| Gesellschaften zu organisieren seien, nämlich nach dem Vorbild westlicher | |
| Marktwirtschaften. Er folgert, zum gegenwärtigen Zeitpunkt sei nur eine | |
| flexible, oberflächliche Integration möglich.[18]Was kein Manko sein muss, | |
| wie Brasiliens Verteidigungsminister Jobim in Rio betonte: Im Vergleich zur | |
| EU seien die südamerikanischen Integrationsprojekte weniger ehrgeizig, | |
| meint er, „doch deshalb sind sie nicht weniger erfolgreich bei der | |
| Aufrechterhaltung einer Atmosphäre des Friedens und der Zusammenarbeit“. | |
| Dafür steht eine Entscheidung der Unasur am 10. März 2011: Die Nachfolge | |
| des verstorbenen Unasur-Generalsekretärs Néstor Kirchner teilen sich zwei | |
| erfahrene Diplomaten aus Kolumbien und Venezuela: Ein Jahr amtiert die | |
| frühere kolumbianische Außenministerin María Emma Mejía, auf sie wird Alí | |
| Rodríguez folgen, derzeit noch Energieminister in Caracas. | |
| Die Integrationsbemühungen würden fortgesetzt, auch im | |
| Verteidigungsbereich, sagt Jobim, allerdings „ohne Souveränität an | |
| transnationale Organisationen abzutreten“. Historisch gesehen ist ein | |
| solches Beharren auf Eigenständigkeit – vor allem nach außen hin – ein | |
| großer Fortschritt. | |
| 8 Apr 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| Gerhard Dilger | |
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