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# taz.de -- ■ VOM BRODELN IN DER INDOENGLISCHEN LITERATUR: Die Zerrissenhei…
DIE politischen Debatten um die „fatwah“ gegen Salman Rushdie läßt
hierzulande nur zu leicht in Vergessenheit geraten, daß der
„Gotteslästerer“ in erster Linie ein überragender Schriftsteller ist. Er
gehört zu jener neuen breiten Strömung innerhalb der englischsprachigen
Literatur, die sich vor allem in Indien und unter indischen Emigranten im
früheren britischen Empire entwickelt hat. Texte, die in vielfältigster
Weise von der Zerrissenheit der im wilden Tohuwabohu des ausgehenden
Jahrhunderts brodelnden Vorstellungswelten zeugen.
Von TIRTHANKAR CHANDA *
Als die Jurymitglieder des erzbritischen Booker Prize 1981 entschieden, die
„Mitternachtskinder“1 des indischen Immigranten Salman Rushdie
auszuzeichnen, konnten sie nicht ahnen, welch ungeheuer mitreißende und
befreiende Wirkung dieser Roman auf die in modischer Nabelschau versunkene
englische Literatur haben sollte. Die Kritiker meinten, dieser schwer
zugängliche Roman, der in den barocken Abenteuern seines Helden die jüngere
indische Geschichte widerspiegelt, würde bei den Lesern keinen Anklang
finden. Weit gefehlt. Mit über zwei Millionen verkauften Exemplaren war
dieses Buch ein eindeutiger Publikumserfolg. Darüber hinaus gilt es heute
als eines der großen Werke des ausgehenden Jahrhunderts. Die
„Mitternachtskinder“, die „die Grenzen des Romans erweitert und unsere
Sicht der gewaltsam sich verändernden Welt verwandelt haben“2, haben es
geschafft, einer neuen Schriftstellergeneration aus allen Ecken des
ehemaligen Commonwealth den Weg zu ebnen.
Amit Chaudhury, Amitav Ghosh, Keri Hulme, Kazuo Ishuguro, Firdaus Kanga,
Rohinton Mistry, Timothy Mo, Ben Okri, Michael Ondaatje, Caryl Philipps,
Vikram Seth, Shashi Tharoor heißen die kosmopolitischen Autoren, die der
englischen Literatur die innovativsten Werke der letzten Jahre beschert
haben. Angeregt von der Virtuosität, mit der Salman Rushdie mit den Grenzen
zwischen Traum und Realität, Mitte und Rand, Fiktion und Geschichte spielt,
haben sie die Sprache Shakespeares und Virginia Woolfs im Sturm erobert, um
Bombay und Oxford in ihr zu vereinen.
Daß es in den Reihen dieser neuen Schriftstellergeneration mehrheitlich
Inder gibt, rührt daher, daß Salman Rushdie, der seinen Stoff aus der
ergiebigen indopakistanischen Lebenswelt schöpft, mit seinem Triumph die
englischsprachige Literatur Indiens ungeheuer aufgewertet und so etliche
zum Schreiben Berufene ermutigt hat. Das Bürgertum, aus dem die meisten
anglophonen indischen Schriftsteller stammen, ist stolz auf seine lange und
reiche Tradition in Sachen Anglophonie.3 Zu Beginn der achtziger Jahre
jedoch ging es mit der anglophonen Literatur abwärts, weil in ihr
Achtzigjährige (Mulk Raj Anand, Raja Rao, R.K. Narayan), die nicht gerade
auf der Höhe der indischen Modernität waren, den Ton angaben. Und dann kam
Rushdie. Seine originelle Auffassung vom Roman als Instrument zur
Subversion der offiziellen, chronologischen Geschichte, sein an Bildern,
Wortspielen und Worterfindungen reicher Stil, dessen erklärtes Ziel es ist,
die Sprache aus ihrem Ghetto zu befreien, zu entkolonisieren, und außerdem
sein von der Lebensfreude der Vorstadtjugend Bombays gesättigter Humor
haben dem indoenglischen Roman eine neue Vitalität eingehaucht.
„In den vergangenen zehn Jahren wurden mehr englischsprachige indische
Romane veröffentlicht als in der ganzen Zeit zwischen 1930 und 1980“4,
schreibt Meenakshi Mukherjee, Professor für Literatur an der
Nehru-Universität in Neu-Delhi. Daß die indoenglischen Romanciers der
achtziger Jahre in London, New York und Toronto gleichermaßen hoch
geschätzt werden und daß die Zahl der Titel so enorm zugenommen hat,
entspricht laut Mukherjee einem allgemeinen Phänomen innerhalb der
indischen Gesellschaft, nämlich dem Aufstieg der Mittelklasse. Die
Urbanisierung und die stetige wirtschaftliche Entwicklung, die seit einigen
Jahrzehnten in Indien stattfinden, haben die Entstehung einer neuen Elite
begünstigt. Diese in den berühmten English medium schools ausgebildete
Schicht steht der englischen Empfindungswelt instinktiv näher als jener,
die sich in den Landessprachen ausdrückt.
Die lesenden Yuppies aus Bombay und Delhi zum Beispiel waren es, die dem
Roman „English, August“ des jungen Schriftstellers Upamanyu Chatterjee5 zu
seinem unerwarteten Erfolg verhalfen. Seit seinem Erscheinen 1988 sind
15.000 Exemplare des Buchs verkauft worden, eine mehr als respektable
Anzahl für einen Erstlingsroman. Chatterjee, ein respektloser Ikonoklast
wie Rushdie, doch ohne den epischen Atem, der dessen Werk charakterisiert,
erzählt in seinem Schelmenroman die Leiden des Agastya Sen, eines zum
Umgang mit Korruption und Mittelmäßigkeit verurteilten jungen Beamten, die
der unüberwindliche Horizont der indischen Bürokratie zu sein scheinen. Daß
zahlreiche Leser sich mit diesem Antihelden identifizierten, liegt daran,
daß er den passiven, aber realen Widerstand der Jugend gegen den Zynismus
und die Gemeinheit verkörpert, die im heutigen Indien verbreitet sind.
Der Roman ist um so attraktiver, als er sich auf weit verbreitete
Erfahrungen stützt, wie etwa die Abscheu vor der Häßlichkeit der Vorstädte
(„Sechs Uhr morgens. Wir fahren durch die Industriestädte am Rande von
Delhi, deren Häßlichkeit nicht einmal das Morgenlicht zu mildern vermag.“)
oder die Anfälle von Verzweiflung angesichts des Überhandnehmens der
Routine („sich vollaufen lassen, sich einsam fühlen, sich einen
runterholen“).
Ein unerschrockenes Sicheinlassen auf die indische – von Fragmentierung,
Wurzellosigkeit und Verzweiflung geprägte – Modernität, von der die
indoenglische Literatur sich weitgehend entfernt hatte, scheint das
Vorhaben der meisten zeitgenössischen Autoren zu sein. Alles vermittelt den
Eindruck, als wollten sie die Deterritorialisierung der Sprache durch eine
Reterritorialisierung in der Vorstellung kompensieren.
Der sowohl in Indien als auch im Westen zunehmende Anklang täuscht über die
Spannungen im Schreiben der jungen indoenglischen Schriftstellergeneration
hinweg, das auf der Dichotomie von Ausdrucksform (englische Sprache) und
Inhalt (indische Themen) beruht. Schon 1938 schrieb Raja Rao im Vorwort zu
seinem Roman „Kanthapura“: „Es war nicht leicht, diese Geschichte zu
schreiben, denn es kam darauf an, den uns eigenen Geist in eine Sprache zu
übertragen, die nicht die unsere ist.“6 Nichts anderes antwortete kürzlich
die junge Autorin Nina Sibal auf eine entsprechende Frage: „Für uns
indische Schriftsteller ist es undenkbar, das englische Englisch zu
reproduzieren. Wir schreiben in jener Sprache, die man im guten wie im
schlechten Sinn indisches Englisch nennt. Sie unterscheidet sich vom
Standard English nicht aufgrund ihrer Konformität bzw. Nichtkonformität mit
den grammatikalischen Regeln, sondern in der Art und Weise, in der wir sie
aktiv verändern, um alle Nuancen eines Denkens oder Sprechens zu erfassen,
das sich ursprünglich meist in einer anderen Sprache artikuliert.“
Zu dieser inneren Spannung kommt noch die mit dem soziologischen Status des
Englischen in Indien verbundene Spannung hinzu. Die Unabhängigkeit hat den
Gebrauch des Englischen problematisch gemacht und seine Deterritorialität
verschärft. Das führt zu den ewigen Debatten über die Vorzüge einer
Beibehaltung der Sprache des Kolonisators als allgemein verbindende Sprache
(link language), die die Anhänger des Englischen den Pro-Landessprachlern
entgegenhalten, zumal die Zahl der Anglophonen im Lande von kaum fünf
Millionen beim Abzug der Briten 1947 auf fast fünfzig Millionen zu Beginn
der neunziger Jahre angewachsen ist.
Trotz der einseitigen Politik der Zentralregierung zugunsten der
Landessprachen hat sich das Hindi (die Sprache der Mehrheit) auf nationaler
Ebene nicht durchsetzen können, vermutlich weil das Englische mehr und mehr
als ein Faktor zur Öffnung auf die westliche Welt angesehen wird, die
aufgrund ihrer materiellen und technologischen Überlegenheit ein ungeheures
Prestige genießt. Außerdem hat sich bei der komplexen linguistischen
Situation Indiens, wo achtzehn größere Landessprachen und mehrere tausend
Dialekte nebeneinander existieren – eine Koexistenz, die nicht immer
reibungslos verlief –, die neue, auf den Werten Laizismus und Demokratie
beruhende panindische Identität um das Englische herum kristallisiert.
Schließlich haben die totalitären Gelüste der Regierung Indira Gandhi und
das Anwachsen des hinduistischen Fundamentalismus dazu beigetragen, die
Rolle des Englischen als Träger einer progressiven „Gegenkultur“ zu
verstärken.7 So kam es, daß Ende der achtziger Jahre die indoenglische
Literatur in eine neue Phase trat, die der Auseinandersetzung mit der
indischen Modernität.
## Bedrohliche Intoleranz
VIELE Romanciers halten diese Modernität für äußerst prekär und von Chaos
und Intoleranz bedroht. Anita Desai, die sehr einfühlsam die Themen des
schwierigen Zusammenlebens zwischen Hindus und Muslimen und der zunehmenden
Marginalisierung der Urdu- Kultur behandelt hat, beschreibt in ihrem Roman
„Im hellen Licht des Tages“8 die Gewalttätigkeiten, zu denen es 1947 bei
der Landverteilung kam: „In jenem Sommer stand die Stadt in Flammen. Jede
Nacht erhellten Feuer den Horizont jenseits der Stadtmauern. Der Himmel
nahm beunruhigende Farben an, mit fröhlichen orange-roten Flammen. Mitunter
erhob sich eine weiße Rauchsäule, die gerade und starr wie ein Obelisk in
der Dunkelheit stand. Bim ging auf der Terrasse auf und ab und glaubte
Detonationen, Schreie und Geheul zu hören...“ Schreckensbilder, die Bim
nicht vergessen kann, da sie sie mit dem Auseinanderbrechen ihrer Familie
verbindet.
Die Einbettung der individuellen Erfahrung in das kollektive Gedächtnis ist
offensichtlich eines der gemeinsamen Themen dieser Romanciers: Es geht
ihnen darum, die Welt von innen her neu zu schreiben. Das ist auch Salman
Rushdies Ziel, wenn er Saleem Sinai, den Helden der „Mitternachtskinder“,
am 15. August 1947, Schlag Mitternacht, zur Welt kommen läßt: „Genau in dem
Augenblick, als Indien unabhängig wurde, bin ich in die Welt gepurzelt.“
Muß man sich da wundern, daß er „an die Geschichte gekettet ist“ und daß
sein „Schicksal unauflöslich mit dem seines Landes verbunden ist“? In ihrem
Roman „Yatra“9 hat Nina Sibal die gleiche Strategie gewählt und das
Geburtsdatum ihrer Heldin auf den Jahrestag des Massakers von
Jallianwalabagh gelegt. (Am 13. April 1949 ließ ein englischer General dort
in die Menge schießen, und es gab mehrere hundert Tote.) In „Beethoven
Among the Cows“10 von Rukun Advani, halb Bildungsroman, halb
Gesellschaftssatire, sagt der Erzähler, nachdem er aus der Zeitung von der
Erstürmung des Goldenen Tempels von Amritsar11 durch die Armee erfahren
hat, zu seinem Bruder, sie müßten sich das Taj Mahal ansehen, bevor es zu
spät sei. Aber erst die Zerstörung der Moschee von Ayodhya acht Jahre
später, 1992, durch Hindu-Fundamentalisten12 wird die Brüder dazu bewegen,
ihren Besuch nicht länger aufzuschieben, aus Angst, daß das Taj Mahal
„ebenfalls für das Publikum geschlossen oder beschlagnahmt oder abgerissen“
werden könnte. Dieses Nebeneinanderstellen der ungleichzeitigen, aber ein
und derselben Logik der Intoleranz folgenden Ereignisse in Amritsar und
Ayodhya bestätigt das geheime strategische Einverständnis des Staates und
der Fundamentalisten gegenüber den Minderheiten, die verzweifelt versuchen,
an ihrem Anderssein festzuhalten.
Ein anderes brillantes Beispiel für einen Text, der sich mit der
herrschenden Sicht auseinandersetzt, ist „The Great Indian Novel“ von
Shashi Tharoor13. Er will beweisen, daß „Indien kein unterentwickeltes Land
ist, sondern im Gegenteil eine hochentwickelte Nation im Zustand
fortgeschrittener Dekadenz“. Diese Dekadenz zeigt sich am eklatantesten im
politischen Leben. Daher hat der Autor den ehrgeizigen Versuch unternommen,
die politische Entwicklung des Landes der vergangenen hundert Jahre durch
das Prisma des „Mahabharata“ zu interpretieren. Dieses Urepos liefert ihm
eine reiche und exemplarische Genealogie, die er sich zum Vorbild nimmt, um
die gegenwärtigen und früheren Politiker darzustellen und ihre geheimen
Triebkräfte bloßzulegen: diese speisen sich weit häufiger aus persönlichen
Ambitionen, Größenwahn, Lust am Luxus und an der Macht als am Gemeinwohl
der Nation. Unter allen Hauptakteuren des politischen Lebens, die mit
ätzender Unverschämtheit fertiggemacht werden, ist Indira Gandhi die
bevorzugte Zielscheibe wüstester Verwünschungen, dargestellt in der Figur
der diabolischen, autoritären Priya Duryodhani.
Shashi Tharoor ist keineswegs der einzige, der mit Indira Gandhi eine
Rechnung zu begleichen hat. In den „Mitternachtskindern“ ist sie „die Wit…
mit dem nachtschwarzen Haar“, mit der grünen Haut und den „langen, spitzen,
schwarzen“ Fingernägeln, die die Wände mit dem schwarzen Blut der Kinder
beschmieren. Der Emigrant Rohinton Mistry macht sie in seinem Roman „So
eine lange Reise“14 zur Symbolfigur des Bösen. Diese unverhoffte
literarische Karriere der Tochter Nehrus entspricht der tiefen Verwirrung,
in die sie der zynische Umgang mit der Macht in der Öffentlichkeit gestürzt
hat. Insbesondere der Ausnahmezustand, den sie 1975 durchsetzte, hat sie
zum schwarzen Schaf der freiheitlichen und demokratischen Intelligenzija
gemacht. So gibt Salman Rushdie in „Heimatländer der Phantasie“15 die
allgemeine Stimmung wieder, wenn er schreibt: „Die zahlreichen Übel, die
das heutige Indien bedrängen – allen voran das Wiederaufleben des
religiösen Extremismus – sind in jener Zeit der Diktatur und der
staatlichen Gewalt entstanden.“
Man muß jedoch feststellen, daß die Kritik oder die „Gegenmythen“, die die
Schriftsteller den totalitären Bestrebungen der „Witwen“ bzw. einer Priya
Duryodhanis entgegensetzen, ebenfalls in Verzweiflung münden. Saleem Sinai
zum Beispiel wird von der Menge mit Füßen getreten, „weil es das Privileg
und der Fluch der Mitternachtskinder ist, zugleich Herr und Opfer ihrer
Zeit zu sein“. Ebenso gewinnt im letzten Kapitel von „So eine lange Reise“
einmal mehr noch die Traurigkeit die Oberhand, gepaart mit dem
schmerzlichen Bewußtsein, daß man in „einer Welt“ lebt, „in der die
öffentlichen Aborte Tempel und Kultstätten geworden sind, während die
wirklichen Tempel und Kultstätten dem Verfall und dem Staub preisgegeben
sind“.
Wenn schon der politische Roman mit seiner Sicht der offiziellen Geschichte
in einer Sackgasse endet, eignet sich dann vielleicht das Thema Emigration,
das bei den exilierten Romanciers im Mittelpunkt steht, zu einer
optimistischeren Betrachtung? Paradoxerweise ja, wenn man den Figuren von
Amitav Ghosh glaubt, die das Exil als Befreiung erleben. Diese Einstellung
wird illustriert durch die Auseinandersetzung, die der Erzähler in
„Schattenlinien“16 mit seiner Cousine Ila vor der Tür des Grand Hotel in
Kalkutta hat. Die junge Londonerin, die in Indien zu Besuch ist, kommt nur
schwer mit der patriarchalischen Mentalität ihrer Verwandten zurecht.
Angesichts des Verbots, zu tanzen, mit wem sie will, bricht es aus ihr
heraus: „Verstehst du jetzt, warum ich mich entschieden habe, in London zu
leben? Verstehst du es? Einzig und allein, weil ich frei sein will! (...)
Frei von euch! Frei von eurer beschissenen Kultur und frei von euch allen.“
Auch die indoamerikanische Erzählerin Bharati Mukherjee fordert lautstark
diese absolute Freiheit, ihr Schicksal selbst wählen und ihre Identität
jederzeit und uneingeschränkt neu definieren zu können. Sie, die aus
Bengalen und dem Punjab stammt und nach einem Zwischenaufenthalt in Kanada
in die Vereinigten Staaten ging, ist mit ihrer Weltläufigkeit und ihrer
kulturellen Mixtur eine typische Vertreterin der postkolonialen Welt. Die
Flüchtlinge, Immigranten und sogenannten Uramerikaner, die sich in ihren
Romanen und Erzählungen allenthalben begegnen, sind selbst Teil dessen, was
sie als „Tohuwabohu im labilen Magma zwischen den Kontinenten“
beschreibt.17
Dieses Tohuwabohu ist nicht nur Bharati Mukherjees wesentlichste Quelle der
Inspiration, sondern gleichzeitig die Quelle neuer, parzellierter,
zerrissener, vielschichtiger Identitäten, wie jene Jasmine, die Heldin des
gleichnamigen ersten Romans von Bharati Mukherjee. Jasmine, die wie die
Autorin aus Punjab stammt, landet schnurstracks in Florida. Die ganze Kunst
der Erzählerin zeigt sich dann in der Darstellung der aufeinanderfolgenden
Metamorphosen – eine dramatischer als die andere –, über die
Jyoti-Jasmine-Jane-Jazzy-Jase lernen wird, sich neu zu erfinden. Das
gleiche Hinausschieben der Grenzen einer vorgegebenen Identität findet sich
in ihrem zweiten Roman. Die Heldin in „The Holder of the World“ ist eine
schöne Amerikanerin des 17. Jahrhunderts, deren Spuren die Verfasserin in
indischen Miniaturen nachgegangen ist.18 Das bewegte Leben Hannah Eastons,
die zwischen ihrem heimatlichen Massachusetts und der Koromandelküste in
Südindien hin- und herreist, ehe sie am gestrengen Hofe des Moguls
Aurangzeb zu sich findet, ist die Folie, auf der die Autorin eine
multikulturelle Erfahrung avant la lettre imaginiert.
Wie Bharati Mukherjee preist Salman Rushdie die Pluralität, eine
intrakulturelle Gemeinschaft der Menschen. „The Courter“, die
ausgereifteste Geschichte in seinem neuesten Erzählungsband „East & West“,
schildert die bewegende Liebesgeschichte zwischen einem osteuropäischen
Portier und einer indischen Gouvernante. Während Mary einige Wörter
Englisch radebrechen kann, hat Mécir wegen seines starken Akzents
Schwierigkeiten, sich verständlich zu machen. Um seine sprachliche
Unfähigkeit wettzumachen, führt Mécir Mary in die Regeln des Schachspiels
ein, das diese im Nu beherrscht. Darauf entsteht zwischen den beiden ein
seltsamer Einklang der Gefühle, unterbrochen von Schachpartien, die als
regelrechte körperliche Vereinigungen erlebt werden!
Die Avisheks, Eshas, Shehnazs oder Mandiras aus den Büchern von Sunetra
Gupta19 und Amit Chaudhuri20 scheinen ihr Migrantenschicksal etwas
zurückhaltender zu beurteilen und diese etwas romantische Sicht von der
Liebesverschmelzung des Orients und des Okzidents nicht zu teilen. Tod oder
Trennung erweisen sich als die einzigen Metamorphosen, nach denen sie
streben können. Jede der Geschichten in dem Band „Swimming Lessons and
other Stories from Firozsha Bagh“ des Indokanadiers Rohinton Mistry
verbreiten die immer gleiche Verzweiflung, die immer gleiche Sehnsucht nach
dem Herkunftsland: „Und je weiter sie sich entfernen werden, um so mehr
werden sie sich erinnern“, sagt der Erzähler in der Titelgeschichte
„Swimming Lessons“. „Das kann ich ihnen versichern.“
Das Gefühl von Verzweiflung kommt wohl nirgends so stark zum Ausdruck wie
in der feministischen Prosa, die dank innovativer Talente ungeheuer vital
ist. Auch wenn Shashi Deshpande, Githa Hariharan, Jacqueline Singh oder
Shama Futehally 21, um nur die bekanntesten zu nennen, von einer
patriarchalischen Gesellschaft unterdrückte und gedemütigte Frauen
darstellen, verstehen sie sich nicht ausschließlich als feminististische
Autorinnen.
„Ich sehe die Menschheit als Individuen“, schreibt Jacqueline Singh, die
sich nicht auf eine vereinfachende Dichotomie Mann/Frau zurückziehen will.
Githa Hariharan, die mit „The Thousand Faces of the Night“ und mit ihrem
Erzählungsband über physische und geistige Todesarten große Beachtung fand,
lehnt es ab, als Wortführerin der indischen Frauen angesehen zu werden.
„Das Bild von der stets opferbereiten indischen Frau ist ein Mythos“, sagt
sie.
Dennoch bleiben das Schweigen, das die Gesellschaft den Frauen von
frühester Kindheit an auferlegt, der Druck der Tradition und das ständige
Zerrissensein zwischen gesellschaftlicher Rolle und Lebenstrieben die
wichtigsten thematischen Schwerpunkte in den von Frauen veröffentlichten
Romanen der letzten Jahre. Das Motiv des Schweigens, das dem sehr schönen
Roman von Shashi Deshpande, „That Long Silence“, den Titel gab, ist die
vielsagendste Metapher für das Frausein. Wenn sie sich aus diesem Schweigen
befreien, wird es den Inderinnen gelingen, ihr Leben in die Hand zu nehmen.
Wie könnte dieser Überblick über die Tendenzen der zeitgenössischen
indoenglischen Literatur anders enden als mit einem Hinweis auf Vikram
Seth, dessen enorme Begabung und Virtuosität ihn zu einer
Ausnahmeerscheinung machen? Seth, dessen über 1.200 Seiten langes Hauptwerk
„A Suitable Boy“22 1993 erschien, war schon mit mehreren Lyrikbänden
aufgefallen, insbesondere mit „The Golden Gate“, einem erzählenden Poem in
Versen, genauer gesagt: in tetrametrischen Sonetten à la Puschkin! Sein im
realistischen Erzählstil des 19. Jahrhunderts geschriebener Roman, dessen
epischer Atem von der angelsächsischen Kritik gelobt wurde, „ist eine
Auseinandersetzung mit der Liebe und der Ehe im postkolonialen Indien der
fünfziger Jahre“, schreibt die Spezialistin für indische Literatur, Geetha
Ganapathy.23
Im Mittelpunkt dieser breit angelegten Familiensaga steht die Suche nach
„einem geeigneten Jungen“ für Lata, die Zentralfigur des Romans. Doch sehr
schnell erweitert sich diese Suche nach einem individuellen Glück zu einer
ausgedehnteren Suche, nämlich der nach einer „geeigneten“ Nation,
verkörpert in der beschützenden Vaterfigur Nehru. Daß Vikram Seth seine
Geschichte in der Realität der 50er Jahre, der Jahre des obsiegenden
Säkularismus, angesiedelt hat, ist wahrscheinlich kein Zufall.
Mit diesem hochpolitischen Hintergrund schließt „A Suitable Boy“ an die
„Mitternachtskinder“ an, denen es zu Unrecht entgegengestellt wurde. Hinter
Salman Rushdies magischem Realismus und dem realistischen Realismus eines
Vikram Seth steht das gleiche Anliegen, die Realität zu problematisieren,
ein Anliegen, das das wesentliche Charakteristikum der zeitgenössischen
anglophonen indischen Schriftsteller ist, deren Verdienst darin besteht,
eine Kolonialsprache zum vermittelnden Ort der „landessprachlichen“
Auseinandersetzungen gemacht zu haben.
16 Jun 1995
## AUTOREN
Tirthankar Chanda
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