# taz.de -- ■ VOM BRODELN IN DER INDOENGLISCHEN LITERATUR: Die Zerrissenhei… | |
DIE politischen Debatten um die „fatwah“ gegen Salman Rushdie läßt | |
hierzulande nur zu leicht in Vergessenheit geraten, daß der | |
„Gotteslästerer“ in erster Linie ein überragender Schriftsteller ist. Er | |
gehört zu jener neuen breiten Strömung innerhalb der englischsprachigen | |
Literatur, die sich vor allem in Indien und unter indischen Emigranten im | |
früheren britischen Empire entwickelt hat. Texte, die in vielfältigster | |
Weise von der Zerrissenheit der im wilden Tohuwabohu des ausgehenden | |
Jahrhunderts brodelnden Vorstellungswelten zeugen. | |
Von TIRTHANKAR CHANDA * | |
Als die Jurymitglieder des erzbritischen Booker Prize 1981 entschieden, die | |
„Mitternachtskinder“1 des indischen Immigranten Salman Rushdie | |
auszuzeichnen, konnten sie nicht ahnen, welch ungeheuer mitreißende und | |
befreiende Wirkung dieser Roman auf die in modischer Nabelschau versunkene | |
englische Literatur haben sollte. Die Kritiker meinten, dieser schwer | |
zugängliche Roman, der in den barocken Abenteuern seines Helden die jüngere | |
indische Geschichte widerspiegelt, würde bei den Lesern keinen Anklang | |
finden. Weit gefehlt. Mit über zwei Millionen verkauften Exemplaren war | |
dieses Buch ein eindeutiger Publikumserfolg. Darüber hinaus gilt es heute | |
als eines der großen Werke des ausgehenden Jahrhunderts. Die | |
„Mitternachtskinder“, die „die Grenzen des Romans erweitert und unsere | |
Sicht der gewaltsam sich verändernden Welt verwandelt haben“2, haben es | |
geschafft, einer neuen Schriftstellergeneration aus allen Ecken des | |
ehemaligen Commonwealth den Weg zu ebnen. | |
Amit Chaudhury, Amitav Ghosh, Keri Hulme, Kazuo Ishuguro, Firdaus Kanga, | |
Rohinton Mistry, Timothy Mo, Ben Okri, Michael Ondaatje, Caryl Philipps, | |
Vikram Seth, Shashi Tharoor heißen die kosmopolitischen Autoren, die der | |
englischen Literatur die innovativsten Werke der letzten Jahre beschert | |
haben. Angeregt von der Virtuosität, mit der Salman Rushdie mit den Grenzen | |
zwischen Traum und Realität, Mitte und Rand, Fiktion und Geschichte spielt, | |
haben sie die Sprache Shakespeares und Virginia Woolfs im Sturm erobert, um | |
Bombay und Oxford in ihr zu vereinen. | |
Daß es in den Reihen dieser neuen Schriftstellergeneration mehrheitlich | |
Inder gibt, rührt daher, daß Salman Rushdie, der seinen Stoff aus der | |
ergiebigen indopakistanischen Lebenswelt schöpft, mit seinem Triumph die | |
englischsprachige Literatur Indiens ungeheuer aufgewertet und so etliche | |
zum Schreiben Berufene ermutigt hat. Das Bürgertum, aus dem die meisten | |
anglophonen indischen Schriftsteller stammen, ist stolz auf seine lange und | |
reiche Tradition in Sachen Anglophonie.3 Zu Beginn der achtziger Jahre | |
jedoch ging es mit der anglophonen Literatur abwärts, weil in ihr | |
Achtzigjährige (Mulk Raj Anand, Raja Rao, R.K. Narayan), die nicht gerade | |
auf der Höhe der indischen Modernität waren, den Ton angaben. Und dann kam | |
Rushdie. Seine originelle Auffassung vom Roman als Instrument zur | |
Subversion der offiziellen, chronologischen Geschichte, sein an Bildern, | |
Wortspielen und Worterfindungen reicher Stil, dessen erklärtes Ziel es ist, | |
die Sprache aus ihrem Ghetto zu befreien, zu entkolonisieren, und außerdem | |
sein von der Lebensfreude der Vorstadtjugend Bombays gesättigter Humor | |
haben dem indoenglischen Roman eine neue Vitalität eingehaucht. | |
„In den vergangenen zehn Jahren wurden mehr englischsprachige indische | |
Romane veröffentlicht als in der ganzen Zeit zwischen 1930 und 1980“4, | |
schreibt Meenakshi Mukherjee, Professor für Literatur an der | |
Nehru-Universität in Neu-Delhi. Daß die indoenglischen Romanciers der | |
achtziger Jahre in London, New York und Toronto gleichermaßen hoch | |
geschätzt werden und daß die Zahl der Titel so enorm zugenommen hat, | |
entspricht laut Mukherjee einem allgemeinen Phänomen innerhalb der | |
indischen Gesellschaft, nämlich dem Aufstieg der Mittelklasse. Die | |
Urbanisierung und die stetige wirtschaftliche Entwicklung, die seit einigen | |
Jahrzehnten in Indien stattfinden, haben die Entstehung einer neuen Elite | |
begünstigt. Diese in den berühmten English medium schools ausgebildete | |
Schicht steht der englischen Empfindungswelt instinktiv näher als jener, | |
die sich in den Landessprachen ausdrückt. | |
Die lesenden Yuppies aus Bombay und Delhi zum Beispiel waren es, die dem | |
Roman „English, August“ des jungen Schriftstellers Upamanyu Chatterjee5 zu | |
seinem unerwarteten Erfolg verhalfen. Seit seinem Erscheinen 1988 sind | |
15.000 Exemplare des Buchs verkauft worden, eine mehr als respektable | |
Anzahl für einen Erstlingsroman. Chatterjee, ein respektloser Ikonoklast | |
wie Rushdie, doch ohne den epischen Atem, der dessen Werk charakterisiert, | |
erzählt in seinem Schelmenroman die Leiden des Agastya Sen, eines zum | |
Umgang mit Korruption und Mittelmäßigkeit verurteilten jungen Beamten, die | |
der unüberwindliche Horizont der indischen Bürokratie zu sein scheinen. Daß | |
zahlreiche Leser sich mit diesem Antihelden identifizierten, liegt daran, | |
daß er den passiven, aber realen Widerstand der Jugend gegen den Zynismus | |
und die Gemeinheit verkörpert, die im heutigen Indien verbreitet sind. | |
Der Roman ist um so attraktiver, als er sich auf weit verbreitete | |
Erfahrungen stützt, wie etwa die Abscheu vor der Häßlichkeit der Vorstädte | |
(„Sechs Uhr morgens. Wir fahren durch die Industriestädte am Rande von | |
Delhi, deren Häßlichkeit nicht einmal das Morgenlicht zu mildern vermag.“) | |
oder die Anfälle von Verzweiflung angesichts des Überhandnehmens der | |
Routine („sich vollaufen lassen, sich einsam fühlen, sich einen | |
runterholen“). | |
Ein unerschrockenes Sicheinlassen auf die indische – von Fragmentierung, | |
Wurzellosigkeit und Verzweiflung geprägte – Modernität, von der die | |
indoenglische Literatur sich weitgehend entfernt hatte, scheint das | |
Vorhaben der meisten zeitgenössischen Autoren zu sein. Alles vermittelt den | |
Eindruck, als wollten sie die Deterritorialisierung der Sprache durch eine | |
Reterritorialisierung in der Vorstellung kompensieren. | |
Der sowohl in Indien als auch im Westen zunehmende Anklang täuscht über die | |
Spannungen im Schreiben der jungen indoenglischen Schriftstellergeneration | |
hinweg, das auf der Dichotomie von Ausdrucksform (englische Sprache) und | |
Inhalt (indische Themen) beruht. Schon 1938 schrieb Raja Rao im Vorwort zu | |
seinem Roman „Kanthapura“: „Es war nicht leicht, diese Geschichte zu | |
schreiben, denn es kam darauf an, den uns eigenen Geist in eine Sprache zu | |
übertragen, die nicht die unsere ist.“6 Nichts anderes antwortete kürzlich | |
die junge Autorin Nina Sibal auf eine entsprechende Frage: „Für uns | |
indische Schriftsteller ist es undenkbar, das englische Englisch zu | |
reproduzieren. Wir schreiben in jener Sprache, die man im guten wie im | |
schlechten Sinn indisches Englisch nennt. Sie unterscheidet sich vom | |
Standard English nicht aufgrund ihrer Konformität bzw. Nichtkonformität mit | |
den grammatikalischen Regeln, sondern in der Art und Weise, in der wir sie | |
aktiv verändern, um alle Nuancen eines Denkens oder Sprechens zu erfassen, | |
das sich ursprünglich meist in einer anderen Sprache artikuliert.“ | |
Zu dieser inneren Spannung kommt noch die mit dem soziologischen Status des | |
Englischen in Indien verbundene Spannung hinzu. Die Unabhängigkeit hat den | |
Gebrauch des Englischen problematisch gemacht und seine Deterritorialität | |
verschärft. Das führt zu den ewigen Debatten über die Vorzüge einer | |
Beibehaltung der Sprache des Kolonisators als allgemein verbindende Sprache | |
(link language), die die Anhänger des Englischen den Pro-Landessprachlern | |
entgegenhalten, zumal die Zahl der Anglophonen im Lande von kaum fünf | |
Millionen beim Abzug der Briten 1947 auf fast fünfzig Millionen zu Beginn | |
der neunziger Jahre angewachsen ist. | |
Trotz der einseitigen Politik der Zentralregierung zugunsten der | |
Landessprachen hat sich das Hindi (die Sprache der Mehrheit) auf nationaler | |
Ebene nicht durchsetzen können, vermutlich weil das Englische mehr und mehr | |
als ein Faktor zur Öffnung auf die westliche Welt angesehen wird, die | |
aufgrund ihrer materiellen und technologischen Überlegenheit ein ungeheures | |
Prestige genießt. Außerdem hat sich bei der komplexen linguistischen | |
Situation Indiens, wo achtzehn größere Landessprachen und mehrere tausend | |
Dialekte nebeneinander existieren – eine Koexistenz, die nicht immer | |
reibungslos verlief –, die neue, auf den Werten Laizismus und Demokratie | |
beruhende panindische Identität um das Englische herum kristallisiert. | |
Schließlich haben die totalitären Gelüste der Regierung Indira Gandhi und | |
das Anwachsen des hinduistischen Fundamentalismus dazu beigetragen, die | |
Rolle des Englischen als Träger einer progressiven „Gegenkultur“ zu | |
verstärken.7 So kam es, daß Ende der achtziger Jahre die indoenglische | |
Literatur in eine neue Phase trat, die der Auseinandersetzung mit der | |
indischen Modernität. | |
## Bedrohliche Intoleranz | |
VIELE Romanciers halten diese Modernität für äußerst prekär und von Chaos | |
und Intoleranz bedroht. Anita Desai, die sehr einfühlsam die Themen des | |
schwierigen Zusammenlebens zwischen Hindus und Muslimen und der zunehmenden | |
Marginalisierung der Urdu- Kultur behandelt hat, beschreibt in ihrem Roman | |
„Im hellen Licht des Tages“8 die Gewalttätigkeiten, zu denen es 1947 bei | |
der Landverteilung kam: „In jenem Sommer stand die Stadt in Flammen. Jede | |
Nacht erhellten Feuer den Horizont jenseits der Stadtmauern. Der Himmel | |
nahm beunruhigende Farben an, mit fröhlichen orange-roten Flammen. Mitunter | |
erhob sich eine weiße Rauchsäule, die gerade und starr wie ein Obelisk in | |
der Dunkelheit stand. Bim ging auf der Terrasse auf und ab und glaubte | |
Detonationen, Schreie und Geheul zu hören...“ Schreckensbilder, die Bim | |
nicht vergessen kann, da sie sie mit dem Auseinanderbrechen ihrer Familie | |
verbindet. | |
Die Einbettung der individuellen Erfahrung in das kollektive Gedächtnis ist | |
offensichtlich eines der gemeinsamen Themen dieser Romanciers: Es geht | |
ihnen darum, die Welt von innen her neu zu schreiben. Das ist auch Salman | |
Rushdies Ziel, wenn er Saleem Sinai, den Helden der „Mitternachtskinder“, | |
am 15. August 1947, Schlag Mitternacht, zur Welt kommen läßt: „Genau in dem | |
Augenblick, als Indien unabhängig wurde, bin ich in die Welt gepurzelt.“ | |
Muß man sich da wundern, daß er „an die Geschichte gekettet ist“ und daß | |
sein „Schicksal unauflöslich mit dem seines Landes verbunden ist“? In ihrem | |
Roman „Yatra“9 hat Nina Sibal die gleiche Strategie gewählt und das | |
Geburtsdatum ihrer Heldin auf den Jahrestag des Massakers von | |
Jallianwalabagh gelegt. (Am 13. April 1949 ließ ein englischer General dort | |
in die Menge schießen, und es gab mehrere hundert Tote.) In „Beethoven | |
Among the Cows“10 von Rukun Advani, halb Bildungsroman, halb | |
Gesellschaftssatire, sagt der Erzähler, nachdem er aus der Zeitung von der | |
Erstürmung des Goldenen Tempels von Amritsar11 durch die Armee erfahren | |
hat, zu seinem Bruder, sie müßten sich das Taj Mahal ansehen, bevor es zu | |
spät sei. Aber erst die Zerstörung der Moschee von Ayodhya acht Jahre | |
später, 1992, durch Hindu-Fundamentalisten12 wird die Brüder dazu bewegen, | |
ihren Besuch nicht länger aufzuschieben, aus Angst, daß das Taj Mahal | |
„ebenfalls für das Publikum geschlossen oder beschlagnahmt oder abgerissen“ | |
werden könnte. Dieses Nebeneinanderstellen der ungleichzeitigen, aber ein | |
und derselben Logik der Intoleranz folgenden Ereignisse in Amritsar und | |
Ayodhya bestätigt das geheime strategische Einverständnis des Staates und | |
der Fundamentalisten gegenüber den Minderheiten, die verzweifelt versuchen, | |
an ihrem Anderssein festzuhalten. | |
Ein anderes brillantes Beispiel für einen Text, der sich mit der | |
herrschenden Sicht auseinandersetzt, ist „The Great Indian Novel“ von | |
Shashi Tharoor13. Er will beweisen, daß „Indien kein unterentwickeltes Land | |
ist, sondern im Gegenteil eine hochentwickelte Nation im Zustand | |
fortgeschrittener Dekadenz“. Diese Dekadenz zeigt sich am eklatantesten im | |
politischen Leben. Daher hat der Autor den ehrgeizigen Versuch unternommen, | |
die politische Entwicklung des Landes der vergangenen hundert Jahre durch | |
das Prisma des „Mahabharata“ zu interpretieren. Dieses Urepos liefert ihm | |
eine reiche und exemplarische Genealogie, die er sich zum Vorbild nimmt, um | |
die gegenwärtigen und früheren Politiker darzustellen und ihre geheimen | |
Triebkräfte bloßzulegen: diese speisen sich weit häufiger aus persönlichen | |
Ambitionen, Größenwahn, Lust am Luxus und an der Macht als am Gemeinwohl | |
der Nation. Unter allen Hauptakteuren des politischen Lebens, die mit | |
ätzender Unverschämtheit fertiggemacht werden, ist Indira Gandhi die | |
bevorzugte Zielscheibe wüstester Verwünschungen, dargestellt in der Figur | |
der diabolischen, autoritären Priya Duryodhani. | |
Shashi Tharoor ist keineswegs der einzige, der mit Indira Gandhi eine | |
Rechnung zu begleichen hat. In den „Mitternachtskindern“ ist sie „die Wit… | |
mit dem nachtschwarzen Haar“, mit der grünen Haut und den „langen, spitzen, | |
schwarzen“ Fingernägeln, die die Wände mit dem schwarzen Blut der Kinder | |
beschmieren. Der Emigrant Rohinton Mistry macht sie in seinem Roman „So | |
eine lange Reise“14 zur Symbolfigur des Bösen. Diese unverhoffte | |
literarische Karriere der Tochter Nehrus entspricht der tiefen Verwirrung, | |
in die sie der zynische Umgang mit der Macht in der Öffentlichkeit gestürzt | |
hat. Insbesondere der Ausnahmezustand, den sie 1975 durchsetzte, hat sie | |
zum schwarzen Schaf der freiheitlichen und demokratischen Intelligenzija | |
gemacht. So gibt Salman Rushdie in „Heimatländer der Phantasie“15 die | |
allgemeine Stimmung wieder, wenn er schreibt: „Die zahlreichen Übel, die | |
das heutige Indien bedrängen – allen voran das Wiederaufleben des | |
religiösen Extremismus – sind in jener Zeit der Diktatur und der | |
staatlichen Gewalt entstanden.“ | |
Man muß jedoch feststellen, daß die Kritik oder die „Gegenmythen“, die die | |
Schriftsteller den totalitären Bestrebungen der „Witwen“ bzw. einer Priya | |
Duryodhanis entgegensetzen, ebenfalls in Verzweiflung münden. Saleem Sinai | |
zum Beispiel wird von der Menge mit Füßen getreten, „weil es das Privileg | |
und der Fluch der Mitternachtskinder ist, zugleich Herr und Opfer ihrer | |
Zeit zu sein“. Ebenso gewinnt im letzten Kapitel von „So eine lange Reise“ | |
einmal mehr noch die Traurigkeit die Oberhand, gepaart mit dem | |
schmerzlichen Bewußtsein, daß man in „einer Welt“ lebt, „in der die | |
öffentlichen Aborte Tempel und Kultstätten geworden sind, während die | |
wirklichen Tempel und Kultstätten dem Verfall und dem Staub preisgegeben | |
sind“. | |
Wenn schon der politische Roman mit seiner Sicht der offiziellen Geschichte | |
in einer Sackgasse endet, eignet sich dann vielleicht das Thema Emigration, | |
das bei den exilierten Romanciers im Mittelpunkt steht, zu einer | |
optimistischeren Betrachtung? Paradoxerweise ja, wenn man den Figuren von | |
Amitav Ghosh glaubt, die das Exil als Befreiung erleben. Diese Einstellung | |
wird illustriert durch die Auseinandersetzung, die der Erzähler in | |
„Schattenlinien“16 mit seiner Cousine Ila vor der Tür des Grand Hotel in | |
Kalkutta hat. Die junge Londonerin, die in Indien zu Besuch ist, kommt nur | |
schwer mit der patriarchalischen Mentalität ihrer Verwandten zurecht. | |
Angesichts des Verbots, zu tanzen, mit wem sie will, bricht es aus ihr | |
heraus: „Verstehst du jetzt, warum ich mich entschieden habe, in London zu | |
leben? Verstehst du es? Einzig und allein, weil ich frei sein will! (...) | |
Frei von euch! Frei von eurer beschissenen Kultur und frei von euch allen.“ | |
Auch die indoamerikanische Erzählerin Bharati Mukherjee fordert lautstark | |
diese absolute Freiheit, ihr Schicksal selbst wählen und ihre Identität | |
jederzeit und uneingeschränkt neu definieren zu können. Sie, die aus | |
Bengalen und dem Punjab stammt und nach einem Zwischenaufenthalt in Kanada | |
in die Vereinigten Staaten ging, ist mit ihrer Weltläufigkeit und ihrer | |
kulturellen Mixtur eine typische Vertreterin der postkolonialen Welt. Die | |
Flüchtlinge, Immigranten und sogenannten Uramerikaner, die sich in ihren | |
Romanen und Erzählungen allenthalben begegnen, sind selbst Teil dessen, was | |
sie als „Tohuwabohu im labilen Magma zwischen den Kontinenten“ | |
beschreibt.17 | |
Dieses Tohuwabohu ist nicht nur Bharati Mukherjees wesentlichste Quelle der | |
Inspiration, sondern gleichzeitig die Quelle neuer, parzellierter, | |
zerrissener, vielschichtiger Identitäten, wie jene Jasmine, die Heldin des | |
gleichnamigen ersten Romans von Bharati Mukherjee. Jasmine, die wie die | |
Autorin aus Punjab stammt, landet schnurstracks in Florida. Die ganze Kunst | |
der Erzählerin zeigt sich dann in der Darstellung der aufeinanderfolgenden | |
Metamorphosen – eine dramatischer als die andere –, über die | |
Jyoti-Jasmine-Jane-Jazzy-Jase lernen wird, sich neu zu erfinden. Das | |
gleiche Hinausschieben der Grenzen einer vorgegebenen Identität findet sich | |
in ihrem zweiten Roman. Die Heldin in „The Holder of the World“ ist eine | |
schöne Amerikanerin des 17. Jahrhunderts, deren Spuren die Verfasserin in | |
indischen Miniaturen nachgegangen ist.18 Das bewegte Leben Hannah Eastons, | |
die zwischen ihrem heimatlichen Massachusetts und der Koromandelküste in | |
Südindien hin- und herreist, ehe sie am gestrengen Hofe des Moguls | |
Aurangzeb zu sich findet, ist die Folie, auf der die Autorin eine | |
multikulturelle Erfahrung avant la lettre imaginiert. | |
Wie Bharati Mukherjee preist Salman Rushdie die Pluralität, eine | |
intrakulturelle Gemeinschaft der Menschen. „The Courter“, die | |
ausgereifteste Geschichte in seinem neuesten Erzählungsband „East & West“, | |
schildert die bewegende Liebesgeschichte zwischen einem osteuropäischen | |
Portier und einer indischen Gouvernante. Während Mary einige Wörter | |
Englisch radebrechen kann, hat Mécir wegen seines starken Akzents | |
Schwierigkeiten, sich verständlich zu machen. Um seine sprachliche | |
Unfähigkeit wettzumachen, führt Mécir Mary in die Regeln des Schachspiels | |
ein, das diese im Nu beherrscht. Darauf entsteht zwischen den beiden ein | |
seltsamer Einklang der Gefühle, unterbrochen von Schachpartien, die als | |
regelrechte körperliche Vereinigungen erlebt werden! | |
Die Avisheks, Eshas, Shehnazs oder Mandiras aus den Büchern von Sunetra | |
Gupta19 und Amit Chaudhuri20 scheinen ihr Migrantenschicksal etwas | |
zurückhaltender zu beurteilen und diese etwas romantische Sicht von der | |
Liebesverschmelzung des Orients und des Okzidents nicht zu teilen. Tod oder | |
Trennung erweisen sich als die einzigen Metamorphosen, nach denen sie | |
streben können. Jede der Geschichten in dem Band „Swimming Lessons and | |
other Stories from Firozsha Bagh“ des Indokanadiers Rohinton Mistry | |
verbreiten die immer gleiche Verzweiflung, die immer gleiche Sehnsucht nach | |
dem Herkunftsland: „Und je weiter sie sich entfernen werden, um so mehr | |
werden sie sich erinnern“, sagt der Erzähler in der Titelgeschichte | |
„Swimming Lessons“. „Das kann ich ihnen versichern.“ | |
Das Gefühl von Verzweiflung kommt wohl nirgends so stark zum Ausdruck wie | |
in der feministischen Prosa, die dank innovativer Talente ungeheuer vital | |
ist. Auch wenn Shashi Deshpande, Githa Hariharan, Jacqueline Singh oder | |
Shama Futehally 21, um nur die bekanntesten zu nennen, von einer | |
patriarchalischen Gesellschaft unterdrückte und gedemütigte Frauen | |
darstellen, verstehen sie sich nicht ausschließlich als feminististische | |
Autorinnen. | |
„Ich sehe die Menschheit als Individuen“, schreibt Jacqueline Singh, die | |
sich nicht auf eine vereinfachende Dichotomie Mann/Frau zurückziehen will. | |
Githa Hariharan, die mit „The Thousand Faces of the Night“ und mit ihrem | |
Erzählungsband über physische und geistige Todesarten große Beachtung fand, | |
lehnt es ab, als Wortführerin der indischen Frauen angesehen zu werden. | |
„Das Bild von der stets opferbereiten indischen Frau ist ein Mythos“, sagt | |
sie. | |
Dennoch bleiben das Schweigen, das die Gesellschaft den Frauen von | |
frühester Kindheit an auferlegt, der Druck der Tradition und das ständige | |
Zerrissensein zwischen gesellschaftlicher Rolle und Lebenstrieben die | |
wichtigsten thematischen Schwerpunkte in den von Frauen veröffentlichten | |
Romanen der letzten Jahre. Das Motiv des Schweigens, das dem sehr schönen | |
Roman von Shashi Deshpande, „That Long Silence“, den Titel gab, ist die | |
vielsagendste Metapher für das Frausein. Wenn sie sich aus diesem Schweigen | |
befreien, wird es den Inderinnen gelingen, ihr Leben in die Hand zu nehmen. | |
Wie könnte dieser Überblick über die Tendenzen der zeitgenössischen | |
indoenglischen Literatur anders enden als mit einem Hinweis auf Vikram | |
Seth, dessen enorme Begabung und Virtuosität ihn zu einer | |
Ausnahmeerscheinung machen? Seth, dessen über 1.200 Seiten langes Hauptwerk | |
„A Suitable Boy“22 1993 erschien, war schon mit mehreren Lyrikbänden | |
aufgefallen, insbesondere mit „The Golden Gate“, einem erzählenden Poem in | |
Versen, genauer gesagt: in tetrametrischen Sonetten à la Puschkin! Sein im | |
realistischen Erzählstil des 19. Jahrhunderts geschriebener Roman, dessen | |
epischer Atem von der angelsächsischen Kritik gelobt wurde, „ist eine | |
Auseinandersetzung mit der Liebe und der Ehe im postkolonialen Indien der | |
fünfziger Jahre“, schreibt die Spezialistin für indische Literatur, Geetha | |
Ganapathy.23 | |
Im Mittelpunkt dieser breit angelegten Familiensaga steht die Suche nach | |
„einem geeigneten Jungen“ für Lata, die Zentralfigur des Romans. Doch sehr | |
schnell erweitert sich diese Suche nach einem individuellen Glück zu einer | |
ausgedehnteren Suche, nämlich der nach einer „geeigneten“ Nation, | |
verkörpert in der beschützenden Vaterfigur Nehru. Daß Vikram Seth seine | |
Geschichte in der Realität der 50er Jahre, der Jahre des obsiegenden | |
Säkularismus, angesiedelt hat, ist wahrscheinlich kein Zufall. | |
Mit diesem hochpolitischen Hintergrund schließt „A Suitable Boy“ an die | |
„Mitternachtskinder“ an, denen es zu Unrecht entgegengestellt wurde. Hinter | |
Salman Rushdies magischem Realismus und dem realistischen Realismus eines | |
Vikram Seth steht das gleiche Anliegen, die Realität zu problematisieren, | |
ein Anliegen, das das wesentliche Charakteristikum der zeitgenössischen | |
anglophonen indischen Schriftsteller ist, deren Verdienst darin besteht, | |
eine Kolonialsprache zum vermittelnden Ort der „landessprachlichen“ | |
Auseinandersetzungen gemacht zu haben. | |
16 Jun 1995 | |
## AUTOREN | |
Tirthankar Chanda | |
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