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# taz.de -- Wo genau liegt Kurdistan?
> Die Zukunft eines verstreuten Volkes in einer unruhigen Region von Vicken
> Cheterian
Erbil ist heute eine Boomtown, die ganze Stadt eine einzige Baustelle. Die
alten Lehmziegelhäuser werden abgerissen, um Shoppingmalls, Hotels und
Apartmenthäusern Platz zu machen. In den Außenbezirken schießen moderne
Wohnsiedlungen für die neue kurdische Mittelklasse aus dem Boden. Die
meisten neu eröffneten Geschäfte handeln mit Baumaterialien, Möbeln und
Elektrowaren. Auf den breiten Straßen dominieren große Jeeps mit
Allradantrieb. Überall sieht man Besucher und Urlauber aus dem übrigen Irak
auf Einkaufstour. Kaufleute aus der Türkei, Manager aus dem Libanon,
Hotelfachkräfte sind hergekommen, um ihr Glück zu machen. Aus der
staubigen, steinigen Provinz ist in wenigen Jahren ein gelobtes Land
geworden.
Die Geschichte hat es mit den Kurden nie gut gemeint. Als die europäischen
Mächte nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches die Grenzen in der
Region neu zogen, fiel für die Kurden kein eigener Staat ab. Stattdessen
fanden sie sich auf vier Länder verteilt, als Minderheit in den
Randgebieten der neuen Staaten. Der kurdische Nationalismus war in den
1920er Jahren noch schwach ausgebildet, entwickelte sich dann aber in dem
Maße, in dem die Kurden marginalisiert, diskriminiert und unterdrückt
wurden.[1]
„Zum ersten Mal seit Beginn der Neuzeit bietet die Geschichte den Kurden
eine echte Chance,“ meint der kurdische Historiker Jabar Kadir im Hinblick
auf die letzten 20 Jahre, beginnend mit der irakischen Invasion in Kuwait
1991, der anschließenden kurdischen Intifada und der Durchsetzung einer
Flugverbotszone im Nordirak durch die USA. Letztere bedeutete für die
Kurdengebiete einen effektiven Schutz vor dem irakischen Militär, der es
ermöglichte, unter schwierigen Bedingungen ein eigenes Parlament zu wählen.
Aber Kadir räumt ein, dass die Kurden mit ihrer ewigen Zerstrittenheit auch
selbst für Probleme in der Vergangenheit verantwortlich waren: „Die
Bruchlinien verliefen zwischen den verschiedenen Clans und Stämmen, die
sich als politische Parteien organisierten.“ Immer wieder gingen kurdische
Guerillagruppen in der Türkei, im Iran und im Irak im Kampf gegen ein
repressives Regime Bündnisse mit dem jeweiligen Nachbarstaat ein, der
seinerseits seine kurdische Minderheit unterdrückte.
1991 bekamen die irakischen Kurden erstmals Unterstützung durch eine Macht
außerhalb der Region – die USA. Zwölf Jahre später führte deren Invasion …
Irak den Sturz der Baath-Diktatur herbei. Damit konnten die kurdischen
Peschmerga nach Süden vorrücken und sämtliche kurdisch besiedelten Gebiete
einnehmen, wobei ihnen auch ein Teil der Waffen des Saddam-Regimes in die
Hände fiel.
## Die irakischen Kurden und der Reichtum von Kirkuk
Die neue irakische Verfassung vom 2005 legitimierte die autonome kurdische
Region im Norden des Landes, was die Erwartungen der Kurden im Iran, in
Syrien und der Türkei beflügelte, die einen ähnlichen Status einforderten.
Die Etablierung der Regionalen Regierung von Kurdistan (KRG) auf dem
autonomen Gebiet und die Legalisierung der Peschmerga-Kämpfer machten das
irakische Kurdistan zum neuen Zentrum der kurdischen Politik. Zugleich war
ein neuer politischer Akteur in der Nahostregion geboren.
Nach dem Sturz des Saddam-Regimes waren die Kurden die einzige organisierte
politisch-militärische Kraft im Land. Sie spielten eine zentrale Rolle als
Unterstützer der US-Besatzungstruppen und bildeten den Kern der neuen
irakischen Armee. Noch heute sind viele hochrangige Funktionsträger Kurden:
vom Staatspräsidenten Dschalal Talabani über den Außenminister Hoschjar
Sebari bis zum Generalstabschef der Armee, Babakir Zebari.
Die Übernahme so wichtiger Positionen bedeutete jedoch keineswegs, dass die
Kurden auf nationaler Ebene echten politischen Einfluss gewannen. Das wurde
spätestens im November 2012 deutlich, als sich die Krise zwischen der
irakischen Zentralregierung unter Ministerpräsident al-Maliki und der KRG
dramatisch zuspitzte. Vier Monate zuvor hatte al-Maliki eine neue Truppe
namens „Operationskommando Dijla“ (Arabisch für Tigris) aufgestellt, die im
November mit Infanterie- und Panzereinheiten in das Gebiet südlich von
Kirkuk und im März 2013 in den Distrikt Sindschar nahe der syrischen Grenze
einrückte, deren Bewohner überwiegend Kurden und Jesiden sind. Diese Truppe
steht unter dem Kommando von General Abdel-Amir al-Zaidi, der unter Saddam
Hussein an Operationen gegen die kurdische Bevölkerung beteiligt war. Das
Vorrücken alarmierte die KRG-Führung, die ihrerseits Tausende ihrer
Peschmerga in diese Region entsandte. Die reale Gefahr erneuter bewaffneter
Auseinandersetzungen zwischen der irakischen Armee und den kurdischen
Kämpfern besteht fort, denn trotz intensiver Verhandlungen konnte der
Konflikt bislang nicht beigelegt werden.
Die Politiker in Irakisch-Kurdistan behaupten, dass die Minderheiten in
ihrem Gebiet sicher und gleichberechtigt leben können. In Erbil lässt sich
das im Stadtteil Ainkawa überprüfen, wo die Christen ungehindert ihre
Traditionen und ihre Lebensweise pflegen. Zwar haben die Peschmerga früher
gegen christliche Gruppen gekämpft, aber die Repression unter dem
Baath-Regime hat bewirkt, dass Kurden, Assyrer[2]und Jesiden das Gefühl
eines gemeinsamen Schicksals entwickelt haben. Allerdings gibt es nach wie
vor Spannungen zwischen der kurdisch dominierten Verwaltung (und Polizei)
und der arabischen wie der turkmenischen Bevölkerung.
Das gilt vor allem für Kirkuk: Der Streit um die Stadt ist eine der
Hinterlassenschaften des Baath-Regimes. Unter Saddam Hussein betrieb die
Zentralregierung hier, wie in anderen Regionen, eine Politik der
Arabisierung. Dabei ist Kirkuk von besonderer strategischer Bedeutung, weil
die Region über rund ein Zehntel der irakischen Öl-und Gasvorkommen
verfügt. Deshalb wurden etwa 300 000 Kurden – zusammen mit Assyrern und
Jesiden – aus der Gegend vertrieben und durch sunnitische Araber ersetzt,
die aus der östlichen Provinz Anbar umgesiedelt wurden, aber auch durch
schiitische Araber aus dem Südirak.
Nach der Invasion der US-Truppen rückten die Peschmerga in die Gegend vor,
die sie seither kontrollieren. Für diese offiziell als „umstritten“
definierten Gebiete sieht die neue irakische Verfassung in Artikel 140
„Korrekturen“ vor: Die arabischen Umsiedler sollen angehalten werden, in
ihre Herkunftsgebiete zurückzukehren, die vertriebenen Kurden dagegen
entschädigt werden und in ihre alten Wohnorte zurückkehren können. Nach
Abschluss dieser Rücksiedlung ist eine Volkszählung vorgesehen, danach soll
ein Referendum darüber entscheiden, ob dieses Gebiet Teil der autonomen
Kurdenregion wird. Dieses Referendum sollte ursprünglich schon 2007
stattfinden, aber bis heute gibt es dafür noch kein neues Datum.
Die Situation in Kirkuk ist das Abbild der Auseinandersetzungen zwischen
Arabern und Kurden, Bagdad und Erbil.[3]Hier ist die Polizei in kurdischer
Hand und die politische Macht liegt bei der Patriotischen Union Kurdistans
(PUK), deren Chef Staatspräsident Talabani ist. Aber auch die irakische
Armee ist in den umstrittenen Gebieten präsent, wobei allerdings jede
Truppenbewegung Proteste von kurdischer Seite auslöst. Die Regierung in
Erbil blickt zudem mit wachsender Sorge auf die Verhandlungen zwischen
Bagdad und Moskau über Waffenlieferungen in Höhe von mehreren Milliarden
Dollar.[4]
## Streit um das Kommando über die Peschmerga
Die territoriale Frage ist jedoch nicht der einzige Konfliktstoff. KRG und
Zentralregierung streiten auch über die Interpretation der
Verfassungsartikel, die sich auf die Rolle der Peschmerga beziehen. Die
Kurden sehen ihre Streitkräfte als Teil der nationalen Militärmacht und
beanspruchen Gelder und Rüstungsgüter aus dem irakischen
Verteidigungsbudget. Andererseits aber wollen sie am autonomen Status der
Peschmerga festhalten. Bagdad fordert dagegen, sie dem zentralen
Militärkommando zu unterstellen.
Ein dritter Streitpunkt ist der Anspruch auf die Öl- und Erdgasvorkommen.
Laut Verfassung stehen der KRG 17 Prozent der irakischen Staatseinnahmen
zu, die größtenteils aus der Ölförderung stammen.[5]Diese Gelder sind heute
die wichtigste Quelle des relativen Wohlstands der Kurdenregion, aber auch
die einzige Nabelschnur zwischen den kurdischen und den arabischen
Territorien des Irak. Bagdad wirft Erbil allerdings vor, sich nicht an die
Regeln zu halten, indem es Öl und Gas auf eigene Rechnung über die Türkei
exportiert, ohne die Einnahmen an den zentralen Staatshaushalt
abzuführen.[6]
Dass diese komplizierten Streitfragen noch nicht beigelegt sind, liegt auch
an der persönlichen Animosität zwischen dem irakischen Regierungschef Nuri
al-Maliki und KRG-Präsident Massud Barsani. Der Konflikt zwischen beiden
rührt unter anderem daher, dass Barsani im Sommer 2012 maßgeblich an dem
(gescheiterten) Versuch beteiligt war, ein Misstrauensvotum gegen al-Maliki
zu organisieren. In Erbil hält man sich mit Kritik an Bagdad nicht zurück:
„Al-Maliki wurde nicht direkt vom irakischen Volk gewählt“, argumentiert
KRG-Außenminister Fallah Mustafa. Fuad Hussein, Kabinettschef und enger
Vertrauter von Präsident Barsani, bezeichnet gar al-Malikis Amtssitz als
„Fabrik zur Produktion von Problemen“.
Noch heute kann die irakische Armee mit militärischem Druck bei den Kurden
ungeheure Ängste erzeugen. Seit der Gründung des irakischen Staats hat die
kurdische Minderheit unter der Repression der Zentralregierung gelitten.
Schon 1963, als das Baath-Regime an die Macht kam und die totalitäre
Ideologie eines arabischen Nationalismus pflegte, erging es ihr übel. Noch
schlimmer wurde es während des Irak-Iran-Kriegs (1980–1988), als Saddam
Hussein nahezu eine Politik des Völkermords verfolgte.
Die Erinnerung an diese Zeiten ist in Kurdistan immer noch lebendig.
Niemand hat den Giftgasangriff auf Halabdscha vergessen, bei dem 5 000
Menschen starben. Aber heute kommen neue Ängste hinzu: Ein militärischer
Konflikt um die Region Kirkuk könnte die KRG ökonomisch schwer treffen und
ausländische Unternehmen davon abhalten, weiter zu investieren. „Bagdad
sieht neiderfüllt auf unsere sicheren Verhältnisse und unseren Wohlstand“,
meint Fuad Hussein, „aber in Basra und Nasiriya ist die Lage auch stabil.
Warum können sie nicht dort endlich das Problem der Wasser- und
Stromversorgung lösen oder Krankenhäuser und Schulen bauen, statt
F-16-Kampfflugzeuge zu kaufen?“
Der Druck aus Bagdad hat eine zweifache Wirkung. Zum einen sorgt er dafür,
dass die traditionell zerstrittenen politischen Fraktionen der Kurden
zusammenrücken. Selbst Staatspräsident Talabani kam nicht umhin, wie sein
alter Rivale Barsani die Regierung in Bagdad zu kritisieren und
aufzufordern, ihre Truppen zurückzuziehen und das „Operationskommando
Dijla“ aufzulösen. Außerdem trägt der Druck aus Bagdad dazu bei, dass die
neuen Konflikte innerhalb der kurdischen Gesellschaft, die im Gefolge des
Ölbooms entstanden sind, den sozialen Zusammenhalt nicht wirklich
gefährden.
Denn die Einnahmen aus dem Ölsektor, die im Übrigen höchst intransparent
sind, haben auch zu einer neuen sozialen Polarisierung zwischen der extrem
reichen herrschenden Klasse und dem Rest der Bevölkerung beigetragen. Zudem
hat die Ausrichtung der gesamten Wirtschaft auf den Ölsektor alle anderen
Wirtschaftsaktivitäten erstickt. Das gilt auch für den landwirtschaftlichen
Sektor, was zur Folge hat, dass die Kurden des Irak den Großteil ihrer
Lebensmittel importieren müssen.
Die zweite Wirkung der Spannungen zwischen Erbil und Bagdad besteht darin,
dass die irakischen Kurden näher an die Türkei heranrücken. 2003 hatte
Ankara sich gegen die Invasion der USA im Irak gestellt und den
US-Bodentruppen die Erlaubnis verweigert, türkisches Territorium zu
durchqueren. Man befürchtete damals, dass der Sturz des Saddam-Regimes zur
Entstehung eines kurdischen Staates im Norden des Irak führen könnte, was
der großen kurdischen Bevölkerungsgruppe in der Türkei wieder neue Hoffnung
machen würde. Und die zeigte sich seit dem PKK-Aufstand im Jahr 1984
anhaltend widerspenstig.
Seitdem hat sich einiges getan. Das Verhältnis zwischen Ankara und Erbil
hat sich zu einer sehr engen Kooperation verdichtet. Heute läuft praktisch
der gesamte Außenhandel der KRG über die Türkei. Türkische Unternehmen
haben kräftig in Irakisch-Kurdistan investiert, weshalb sie an künftigen
Ölexporten aus der Kirkuk-Region, die von den Kurden kontrolliert werden,
üppig mitverdienen könnten.[7]
Ankara ist sich der neuen Chancen, welche die irakische Kurdenregion
bietet, durchaus bewusst und hat zu Barsani ein vertrauensvolles Verhältnis
entwickelt. Die irakischen Turkmenen hat die Türkei schon immer
unterstützt. Nun sieht sie sich auch als Garant für die Autonomie der
irakischen Kurden. Während in den internationalen Medien ausgiebig über den
Einfluss Teherans auf die irakische Regierung spekuliert wird, sorgt man
sich in Bagdad weit mehr über den wachsenden Einfluss der Türkei auf
diverse irakische Akteure und insbesondere auf sunnitische Politiker. So
hat Ankara etwa dem früheren Vizepräsidenten Tariq al-Haschimi, dem
Verbindungen zum sunnitischen Terrorismus vorgeworfen werden, politisches
Asyl in der Türkei gewährt.
Die Spannungen zwischen Bagdad und Erbil bringen Talabani und seine Partei
in eine schwierige Lage. Da der irakische Präsident schwer krank ist, kann
er nicht in der irakischen Innenpolitik vermitteln. Die PUK Talabanis ist
die zweitgrößte Kurdenpartei im Irak und rivalisiert immer noch mit
Barsanis KDP (Kurdische Demokratische Partei). Dabei unterhält die PUK
traditionell gute Beziehungen zum Iran und ist deshalb in die neue Allianz
zwischen Teheran und Bagdad eingebunden, während die KDP sich immer stärker
nach Ankara orientiert.
In dem Maße, in dem sich die Zentralregierung unter al-Maliki konsolidiert,
wächst der Widerstand gegen den Einfluss und die Ambitionen der
Kurden.[8]Die entscheidende Frage ist dabei, wo die neue Grenze der
kurdischen Einflusszone gezogen wird und ob dies auf unblutige Weise
geschehen kann.
Die Zukunft der irakischen Kurden hängt aber auch von der Entwicklung in
Syrien ab. Dort werden die Kurden fast zwangsläufig von der syrischen
Revolution profitieren. „Wir haben eine einmalige Chance“, meint Behjet
Baschir, Repräsentant der Kurdischen Demokratischen Partei Syriens (KDPS)
in Erbil. „Und die müssen wir unbedingt nutzen, denn sie wird sich kaum ein
zweites Mal bieten.“ Für die Zukunft Syriens sieht er verschiedene
Szenarien, aber selbst für den schlechtesten Fall sieht er die Kurden noch
als Gewinner: „Zumindest werden sie die Herren in ihrer eigenen Region
sein.“
Auch das Baath-Regime von Damaskus hat die syrischen Kurden übel behandelt.
Getreu seiner Ideologie eines arabischen Nationalismus hat es die kurdische
Identität nicht anerkannt. Die Kurden waren politisch und ökonomisch
unterdrückt, etwa 100 000 von ihnen wurde die Staatsbürgerschaft aberkannt,
in den kurdischen Regionen wurden arabische Stämme angesiedelt. Als 2004
nach einem Fußballspiel in Dair az-Zur kurdische und arabische Fans
aufeinander losgingen, wurde diese „kurdische Intifada“ brutal
niedergeschlagen.
## Die syrischen Kurden und der Bürgerkrieg
Den syrischen Kurden wurden auch kulturelle Rechte vorenthalten. In den
Schulen durfte die kurdische Sprache nicht gelehrt werden, während andere
Minderheiten wie Armenier und Assyrer – häufig sogar in derselben Region –
das Recht auf eigene Schulen und auf Unterricht in ihrer Muttersprache
hatten. Auch öffentliche Feiern zum kurdischen Neujahrstag (Nowruz am 21.
März) waren verboten. Die Namen von Städten und Dörfern wurden arabisiert,
alle Hinweise auf die kurdische Identität aus den Schulbüchern getilgt.[9]
Obwohl das Assad-Regime die eigene kurdische Bevölkerung wie Bürger zweiter
Klasse behandelt hat, gewährte sie immer wieder kurdischen Guerillakämpfern
aus der Türkei und dem Irak Unterschlupf, um sie als Hebel gegenüber Ankara
und Bagdad zu benutzen. Der heutige Präsident des Irak lebte jahrelang in
Damaskus, wo er auch 1975 seine Patriotische Bewegung (PUK) gründete. Doch
es war eine andere Partei, die sich innerhalb der kurdischen Volksgruppe in
Syrien am stärksten verankert hat: die auf türkischem Territorium
entstandene PKK.
Die kurdischen Regionen im Nordosten Syriens waren auch keineswegs die
Wiege des gegenwärtigen Aufstands. Zwar kam es in der größten kurdischen
Stadt Qamischli mehrfach zu großen Demonstrationen, aber dem bewaffneten
Kampf haben sich die syrischen Kurden hier nicht angeschlossen. Zwischen
ihnen und den Aktivisten der syrischen Opposition gab es von Anfang an eine
politische Differenz: Als 2011 der Syrische Nationalrat (SNC) gegründet
wurde, forderten die kurdischen Aktivisten, der Nationalrat müsse die
spezielle Leidensgeschichte der Kurden anerkennen und ihnen im künftigen
Syrien ihre kulturelle Identität und das Recht auf politische Autonomie
garantieren.
Die SNC-Führung hielt diese Forderungen für einen Ausdruck von kurdischem
Chauvinismus. Sie forderten die syrischen Kurden auf, sich der Revolution
anzuschließen; im Übrigen werde sich für die angesprochenen Probleme in
einem künftigen demokratischen Syrien schon eine Lösung finden. Diese
Reaktion verstärkte das Misstrauen der PKK-nahen syrischen Partei der
Demokratischen Union (PYD), die im SNC ohnehin nur einen Handlanger Ankaras
sahen: Schließlich war die syrische Oppositionsfront in Istanbul gegründet
worden, und die dem SNC nahestehende „Freie Syrische Armee“ hat ihr
Hauptquartier in der türkischen Provinz Hatay.
Das Assad-Regime wiederum war sehr darauf bedacht, die syrischen Kurden zu
befrieden, um nicht noch eine weitere Front im Nordosten des Landes zu
haben. 2011 gewährten die Behörden 300 000 ethnischen Kurden die
Staatsbürgerschaft.[10]Außerdem wurden einige kurdische politische
Gefangene aus der Haft entlassen. Aber die Repression war damit keineswegs
zu Ende, wie die Ermordung des kurdischen Aktivisten Maschaal Tammo zeigte,
der im Oktober 2011 in Qamischli erschossen wurde.[11]
Die syrischen Kurden standen schon immer unter dem Einfluss kurdischer
Organisationen in der Türkei und im Irak. Aber anders als die iranischen,
türkischen und irakischen Kurden forderten sie von der Regierung in
Damaskus niemals eine autonome Region oder gar einen eigenen Staat. Die
erste Partei, die sich in Syrien für die kurdische Identität starkmachte,
war die PYD, die 2003 als Ableger der PKK entstand.
Die 1978 von kurdischen Studenten in Ankara gegründete PKK ging 1984 zum
bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat über. Anfangs wurde die
Bewegung vom syrischen Regime unterstützt: Ihr Anführer Abdullah Öcalan
lebte jahrelang in Damaskus, und die PKK konnte eigene Ausbildungslager in
der Bekaa-Ebene im syrisch kontrollierten Teil des Libanon betreiben.
Damals rekrutierte die PKK auch syrische Kurden, was vom Assad-Regime
insofern gefördert wurde, als diese vom syrischen Militärdienst
freigestellt wurden. Beobachter schätzen, dass auch heute noch etwa ein
Drittel der PKK-Kämpfer im Nordirak aus Syrien stammen. Seit Beginn der
Guerilla-Operationen sollen zwischen 7 000 und 10 000 syrische Kurden in
PKK-Uniform gefallen sein.[12]
Im September 1998 löste die Regierung in Damaskus – auf Betrieben Ankaras –
die PKK-Ausbildungslager in der Bekaa-Ebene auf und verwies Öcalan des
Landes. Nach einer hektischen Flucht durch mehrere Länder wurde der
PKK-Chef am 15. Februar 1999 in Kenia von türkischen Geheimdienstagenten
gefasst und nach Ankara geflogen. Danach entwickelte das Assad-Regime enge
Beziehungen zur Türkei. Hunderte kurdischer Kämpfer wanderten in syrische
Gefängnisse. Auch im Iran und in der Türkei geriet die PKK damals stark
unter Druck, so dass sie sich in die Kandil-Berge im Nordosten des Irak
zurückziehen musste. Der alte Satz „der einzige Freund des Kurden ist das
Gebirge“ schien sich erneut zu bestätigen.
Doch dann kamen die arabischen Revolutionen und wirbelten die regionalen
Bündnisse durcheinander. Ende 2011 rückten hunderte Kämpfer der PKK-PYD aus
den Bergen in den syrischen Norden ein, den sie als „Westkurdistan“
bezeichnen. Als sich im Sommer 2012 der Bürgerkrieg auf Damaskus und Aleppo
ausweitete und das Assad-Regime nicht mehr imstande war, das ganze Land zu
kontrollieren, zog es seine Truppen auch aus einigen kurdischen Städten ab.
## Zwei Fraktionen im Streit um den richtigen Weg
Im Juni 2012 übernahmen die PYD-Aktivisten die Kontrolle der nordsyrischen
Städte al-Malikiyah, Ain al-Arab, Amuda und Afrin. Diese Entwicklung nährte
Gerüchte, die PYD kooperiere mit der Regierung in Damaskus, was
PYD-Sprecher Hussein Kojer klar dementiert: „Das Regime ist am Ende“, sagte
er, man könne gar kein Bündnis mit ihm eingehen. Im Übrigen seien „Hunderte
von Märtyrern“ der PYD in den Gefängnissen des Baath-Regimes gefoltert und
getötet worden. Die Gerüchte über einen Pakt mit Assad würden von Ankara
gestreut.
Das neue Selbstbewusstsein der PYD hat bei den anderen syrischen Parteien
Misstrauen und in Ankara sogar Alarm ausgelöst.[13]Die 16 Parteien der
syrischen Kurden, die im Kurdischen Nationalrat (KNC) vertreten sind, haben
angesichts der Stärke der PYD begonnen, eine eigene Militärmacht aufzubauen
– und zwar mithilfe der irakischen Kurden. Tausende junge syrische Kurden
sind aus der syrischen Armee desertiert und befinden sich in einem Lager im
nordirakischen Dohuk, wo Peschmerga-Offiziere etwa 1 600 von ihnen
militärisch ausbilden. Nach den Worten von Massud Barsani sollen sie „eine
Rolle in Syrien spielen, wenn dort alles zusammenbricht und ein Vakuum
entsteht“.[14]
Angesichts dieser Entwicklung ist zu befürchten, dass die PYD und der KNC
um die Macht im syrischen Kurdistan konkurrieren werden. Am Ende könnte im
schlimmsten Fall ein weiterer kurdischer Bruderkrieg stehen. Angesichts
dieser Gefahr hat Barsani zwei Treffen der beiden Rivalen moderiert, die im
Juni und im November 2012 in Erbil stattfanden. Dabei wurden Regeln für
eine militärische und politische Koordination zwischen PYD und KNC
beschlossen. Dennoch gibt es weiterhin starke Spannungen zwischen der PYD
und einigen KNC-Gruppierungen, wenn es auch bislang noch nicht zu
innerkurdischen Kämpfen auf syrischem Gebiet gekommen ist.
Und es zeichnet sich noch eine weitere Gefahr ab: ein Krieg zwischen
kurdischen Kämpfern und syrischen Aufständischen. In Afrin und auch in
Ashrafieh, einem Stadtteil von Aleppo, haben sich beide Seiten bereits
Scharmützel geliefert. Die schwersten Kämpfe tobten drei Tage lang im
November 2012 im Ort Ras al-Ayn an der syrisch-türkischen Grenze, wo
kurdische Kräfte Kämpfern islamistischer Rebellengruppen gegenüberstanden.
Die Kämpfe wurden durch einen formellen Waffenstillstand beendet, der aber
nicht lange hielt: Im Januar 2013 kam es erneut zu bewaffneten
Zusammenstößen.
Die syrischen Aufständischen werfen der kurdischen Guerilla vor, ihre
Aktionen zu behindern und damit den Zielen des Regimes zu dienen. Umgekehrt
hegt die PYD ein tiefes Misstrauen gegenüber der syrischen Opposition und
insbesondere den islamistischen Bataillonen, denen sie den Zugang zu ihren
Territorien verweigern.
Wenn die kurdischen Siedlungsgebiete in Syrien unter die umfassende
Kontrolle der PKK-PYD geraten würden, wären sie zwischen zwei feindlichen
Regionen eingeklemmt: der Türkei im Norden und den syrischen Rebellen im
Süden. Die Kurdenregionen in Syrien bestehen aus flachem Land und sind für
Guerilla-Operationen wenig geeignet. Die Kurden in Syrien scheinen zu
schwanken,welcher der beiden kurdischen Fraktionen, die sich an den
politischen Entwicklungen in der Türkei beziehungsweise im Irak ausrichten,
sie sich zuwenden sollen. Wenn sie sich im wachsenden Chaos der syrischen
Politik behaupten wollen, müssen sie unbedingt eine eigenständige Strategie
entwickeln.
10 May 2013
## AUTOREN
Vicken Cheterian
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