| # taz.de -- Wo genau liegt Kurdistan? | |
| > Die Zukunft eines verstreuten Volkes in einer unruhigen Region von Vicken | |
| > Cheterian | |
| Erbil ist heute eine Boomtown, die ganze Stadt eine einzige Baustelle. Die | |
| alten Lehmziegelhäuser werden abgerissen, um Shoppingmalls, Hotels und | |
| Apartmenthäusern Platz zu machen. In den Außenbezirken schießen moderne | |
| Wohnsiedlungen für die neue kurdische Mittelklasse aus dem Boden. Die | |
| meisten neu eröffneten Geschäfte handeln mit Baumaterialien, Möbeln und | |
| Elektrowaren. Auf den breiten Straßen dominieren große Jeeps mit | |
| Allradantrieb. Überall sieht man Besucher und Urlauber aus dem übrigen Irak | |
| auf Einkaufstour. Kaufleute aus der Türkei, Manager aus dem Libanon, | |
| Hotelfachkräfte sind hergekommen, um ihr Glück zu machen. Aus der | |
| staubigen, steinigen Provinz ist in wenigen Jahren ein gelobtes Land | |
| geworden. | |
| Die Geschichte hat es mit den Kurden nie gut gemeint. Als die europäischen | |
| Mächte nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches die Grenzen in der | |
| Region neu zogen, fiel für die Kurden kein eigener Staat ab. Stattdessen | |
| fanden sie sich auf vier Länder verteilt, als Minderheit in den | |
| Randgebieten der neuen Staaten. Der kurdische Nationalismus war in den | |
| 1920er Jahren noch schwach ausgebildet, entwickelte sich dann aber in dem | |
| Maße, in dem die Kurden marginalisiert, diskriminiert und unterdrückt | |
| wurden.[1] | |
| „Zum ersten Mal seit Beginn der Neuzeit bietet die Geschichte den Kurden | |
| eine echte Chance,“ meint der kurdische Historiker Jabar Kadir im Hinblick | |
| auf die letzten 20 Jahre, beginnend mit der irakischen Invasion in Kuwait | |
| 1991, der anschließenden kurdischen Intifada und der Durchsetzung einer | |
| Flugverbotszone im Nordirak durch die USA. Letztere bedeutete für die | |
| Kurdengebiete einen effektiven Schutz vor dem irakischen Militär, der es | |
| ermöglichte, unter schwierigen Bedingungen ein eigenes Parlament zu wählen. | |
| Aber Kadir räumt ein, dass die Kurden mit ihrer ewigen Zerstrittenheit auch | |
| selbst für Probleme in der Vergangenheit verantwortlich waren: „Die | |
| Bruchlinien verliefen zwischen den verschiedenen Clans und Stämmen, die | |
| sich als politische Parteien organisierten.“ Immer wieder gingen kurdische | |
| Guerillagruppen in der Türkei, im Iran und im Irak im Kampf gegen ein | |
| repressives Regime Bündnisse mit dem jeweiligen Nachbarstaat ein, der | |
| seinerseits seine kurdische Minderheit unterdrückte. | |
| 1991 bekamen die irakischen Kurden erstmals Unterstützung durch eine Macht | |
| außerhalb der Region – die USA. Zwölf Jahre später führte deren Invasion … | |
| Irak den Sturz der Baath-Diktatur herbei. Damit konnten die kurdischen | |
| Peschmerga nach Süden vorrücken und sämtliche kurdisch besiedelten Gebiete | |
| einnehmen, wobei ihnen auch ein Teil der Waffen des Saddam-Regimes in die | |
| Hände fiel. | |
| ## Die irakischen Kurden und der Reichtum von Kirkuk | |
| Die neue irakische Verfassung vom 2005 legitimierte die autonome kurdische | |
| Region im Norden des Landes, was die Erwartungen der Kurden im Iran, in | |
| Syrien und der Türkei beflügelte, die einen ähnlichen Status einforderten. | |
| Die Etablierung der Regionalen Regierung von Kurdistan (KRG) auf dem | |
| autonomen Gebiet und die Legalisierung der Peschmerga-Kämpfer machten das | |
| irakische Kurdistan zum neuen Zentrum der kurdischen Politik. Zugleich war | |
| ein neuer politischer Akteur in der Nahostregion geboren. | |
| Nach dem Sturz des Saddam-Regimes waren die Kurden die einzige organisierte | |
| politisch-militärische Kraft im Land. Sie spielten eine zentrale Rolle als | |
| Unterstützer der US-Besatzungstruppen und bildeten den Kern der neuen | |
| irakischen Armee. Noch heute sind viele hochrangige Funktionsträger Kurden: | |
| vom Staatspräsidenten Dschalal Talabani über den Außenminister Hoschjar | |
| Sebari bis zum Generalstabschef der Armee, Babakir Zebari. | |
| Die Übernahme so wichtiger Positionen bedeutete jedoch keineswegs, dass die | |
| Kurden auf nationaler Ebene echten politischen Einfluss gewannen. Das wurde | |
| spätestens im November 2012 deutlich, als sich die Krise zwischen der | |
| irakischen Zentralregierung unter Ministerpräsident al-Maliki und der KRG | |
| dramatisch zuspitzte. Vier Monate zuvor hatte al-Maliki eine neue Truppe | |
| namens „Operationskommando Dijla“ (Arabisch für Tigris) aufgestellt, die im | |
| November mit Infanterie- und Panzereinheiten in das Gebiet südlich von | |
| Kirkuk und im März 2013 in den Distrikt Sindschar nahe der syrischen Grenze | |
| einrückte, deren Bewohner überwiegend Kurden und Jesiden sind. Diese Truppe | |
| steht unter dem Kommando von General Abdel-Amir al-Zaidi, der unter Saddam | |
| Hussein an Operationen gegen die kurdische Bevölkerung beteiligt war. Das | |
| Vorrücken alarmierte die KRG-Führung, die ihrerseits Tausende ihrer | |
| Peschmerga in diese Region entsandte. Die reale Gefahr erneuter bewaffneter | |
| Auseinandersetzungen zwischen der irakischen Armee und den kurdischen | |
| Kämpfern besteht fort, denn trotz intensiver Verhandlungen konnte der | |
| Konflikt bislang nicht beigelegt werden. | |
| Die Politiker in Irakisch-Kurdistan behaupten, dass die Minderheiten in | |
| ihrem Gebiet sicher und gleichberechtigt leben können. In Erbil lässt sich | |
| das im Stadtteil Ainkawa überprüfen, wo die Christen ungehindert ihre | |
| Traditionen und ihre Lebensweise pflegen. Zwar haben die Peschmerga früher | |
| gegen christliche Gruppen gekämpft, aber die Repression unter dem | |
| Baath-Regime hat bewirkt, dass Kurden, Assyrer[2]und Jesiden das Gefühl | |
| eines gemeinsamen Schicksals entwickelt haben. Allerdings gibt es nach wie | |
| vor Spannungen zwischen der kurdisch dominierten Verwaltung (und Polizei) | |
| und der arabischen wie der turkmenischen Bevölkerung. | |
| Das gilt vor allem für Kirkuk: Der Streit um die Stadt ist eine der | |
| Hinterlassenschaften des Baath-Regimes. Unter Saddam Hussein betrieb die | |
| Zentralregierung hier, wie in anderen Regionen, eine Politik der | |
| Arabisierung. Dabei ist Kirkuk von besonderer strategischer Bedeutung, weil | |
| die Region über rund ein Zehntel der irakischen Öl-und Gasvorkommen | |
| verfügt. Deshalb wurden etwa 300 000 Kurden – zusammen mit Assyrern und | |
| Jesiden – aus der Gegend vertrieben und durch sunnitische Araber ersetzt, | |
| die aus der östlichen Provinz Anbar umgesiedelt wurden, aber auch durch | |
| schiitische Araber aus dem Südirak. | |
| Nach der Invasion der US-Truppen rückten die Peschmerga in die Gegend vor, | |
| die sie seither kontrollieren. Für diese offiziell als „umstritten“ | |
| definierten Gebiete sieht die neue irakische Verfassung in Artikel 140 | |
| „Korrekturen“ vor: Die arabischen Umsiedler sollen angehalten werden, in | |
| ihre Herkunftsgebiete zurückzukehren, die vertriebenen Kurden dagegen | |
| entschädigt werden und in ihre alten Wohnorte zurückkehren können. Nach | |
| Abschluss dieser Rücksiedlung ist eine Volkszählung vorgesehen, danach soll | |
| ein Referendum darüber entscheiden, ob dieses Gebiet Teil der autonomen | |
| Kurdenregion wird. Dieses Referendum sollte ursprünglich schon 2007 | |
| stattfinden, aber bis heute gibt es dafür noch kein neues Datum. | |
| Die Situation in Kirkuk ist das Abbild der Auseinandersetzungen zwischen | |
| Arabern und Kurden, Bagdad und Erbil.[3]Hier ist die Polizei in kurdischer | |
| Hand und die politische Macht liegt bei der Patriotischen Union Kurdistans | |
| (PUK), deren Chef Staatspräsident Talabani ist. Aber auch die irakische | |
| Armee ist in den umstrittenen Gebieten präsent, wobei allerdings jede | |
| Truppenbewegung Proteste von kurdischer Seite auslöst. Die Regierung in | |
| Erbil blickt zudem mit wachsender Sorge auf die Verhandlungen zwischen | |
| Bagdad und Moskau über Waffenlieferungen in Höhe von mehreren Milliarden | |
| Dollar.[4] | |
| ## Streit um das Kommando über die Peschmerga | |
| Die territoriale Frage ist jedoch nicht der einzige Konfliktstoff. KRG und | |
| Zentralregierung streiten auch über die Interpretation der | |
| Verfassungsartikel, die sich auf die Rolle der Peschmerga beziehen. Die | |
| Kurden sehen ihre Streitkräfte als Teil der nationalen Militärmacht und | |
| beanspruchen Gelder und Rüstungsgüter aus dem irakischen | |
| Verteidigungsbudget. Andererseits aber wollen sie am autonomen Status der | |
| Peschmerga festhalten. Bagdad fordert dagegen, sie dem zentralen | |
| Militärkommando zu unterstellen. | |
| Ein dritter Streitpunkt ist der Anspruch auf die Öl- und Erdgasvorkommen. | |
| Laut Verfassung stehen der KRG 17 Prozent der irakischen Staatseinnahmen | |
| zu, die größtenteils aus der Ölförderung stammen.[5]Diese Gelder sind heute | |
| die wichtigste Quelle des relativen Wohlstands der Kurdenregion, aber auch | |
| die einzige Nabelschnur zwischen den kurdischen und den arabischen | |
| Territorien des Irak. Bagdad wirft Erbil allerdings vor, sich nicht an die | |
| Regeln zu halten, indem es Öl und Gas auf eigene Rechnung über die Türkei | |
| exportiert, ohne die Einnahmen an den zentralen Staatshaushalt | |
| abzuführen.[6] | |
| Dass diese komplizierten Streitfragen noch nicht beigelegt sind, liegt auch | |
| an der persönlichen Animosität zwischen dem irakischen Regierungschef Nuri | |
| al-Maliki und KRG-Präsident Massud Barsani. Der Konflikt zwischen beiden | |
| rührt unter anderem daher, dass Barsani im Sommer 2012 maßgeblich an dem | |
| (gescheiterten) Versuch beteiligt war, ein Misstrauensvotum gegen al-Maliki | |
| zu organisieren. In Erbil hält man sich mit Kritik an Bagdad nicht zurück: | |
| „Al-Maliki wurde nicht direkt vom irakischen Volk gewählt“, argumentiert | |
| KRG-Außenminister Fallah Mustafa. Fuad Hussein, Kabinettschef und enger | |
| Vertrauter von Präsident Barsani, bezeichnet gar al-Malikis Amtssitz als | |
| „Fabrik zur Produktion von Problemen“. | |
| Noch heute kann die irakische Armee mit militärischem Druck bei den Kurden | |
| ungeheure Ängste erzeugen. Seit der Gründung des irakischen Staats hat die | |
| kurdische Minderheit unter der Repression der Zentralregierung gelitten. | |
| Schon 1963, als das Baath-Regime an die Macht kam und die totalitäre | |
| Ideologie eines arabischen Nationalismus pflegte, erging es ihr übel. Noch | |
| schlimmer wurde es während des Irak-Iran-Kriegs (1980–1988), als Saddam | |
| Hussein nahezu eine Politik des Völkermords verfolgte. | |
| Die Erinnerung an diese Zeiten ist in Kurdistan immer noch lebendig. | |
| Niemand hat den Giftgasangriff auf Halabdscha vergessen, bei dem 5 000 | |
| Menschen starben. Aber heute kommen neue Ängste hinzu: Ein militärischer | |
| Konflikt um die Region Kirkuk könnte die KRG ökonomisch schwer treffen und | |
| ausländische Unternehmen davon abhalten, weiter zu investieren. „Bagdad | |
| sieht neiderfüllt auf unsere sicheren Verhältnisse und unseren Wohlstand“, | |
| meint Fuad Hussein, „aber in Basra und Nasiriya ist die Lage auch stabil. | |
| Warum können sie nicht dort endlich das Problem der Wasser- und | |
| Stromversorgung lösen oder Krankenhäuser und Schulen bauen, statt | |
| F-16-Kampfflugzeuge zu kaufen?“ | |
| Der Druck aus Bagdad hat eine zweifache Wirkung. Zum einen sorgt er dafür, | |
| dass die traditionell zerstrittenen politischen Fraktionen der Kurden | |
| zusammenrücken. Selbst Staatspräsident Talabani kam nicht umhin, wie sein | |
| alter Rivale Barsani die Regierung in Bagdad zu kritisieren und | |
| aufzufordern, ihre Truppen zurückzuziehen und das „Operationskommando | |
| Dijla“ aufzulösen. Außerdem trägt der Druck aus Bagdad dazu bei, dass die | |
| neuen Konflikte innerhalb der kurdischen Gesellschaft, die im Gefolge des | |
| Ölbooms entstanden sind, den sozialen Zusammenhalt nicht wirklich | |
| gefährden. | |
| Denn die Einnahmen aus dem Ölsektor, die im Übrigen höchst intransparent | |
| sind, haben auch zu einer neuen sozialen Polarisierung zwischen der extrem | |
| reichen herrschenden Klasse und dem Rest der Bevölkerung beigetragen. Zudem | |
| hat die Ausrichtung der gesamten Wirtschaft auf den Ölsektor alle anderen | |
| Wirtschaftsaktivitäten erstickt. Das gilt auch für den landwirtschaftlichen | |
| Sektor, was zur Folge hat, dass die Kurden des Irak den Großteil ihrer | |
| Lebensmittel importieren müssen. | |
| Die zweite Wirkung der Spannungen zwischen Erbil und Bagdad besteht darin, | |
| dass die irakischen Kurden näher an die Türkei heranrücken. 2003 hatte | |
| Ankara sich gegen die Invasion der USA im Irak gestellt und den | |
| US-Bodentruppen die Erlaubnis verweigert, türkisches Territorium zu | |
| durchqueren. Man befürchtete damals, dass der Sturz des Saddam-Regimes zur | |
| Entstehung eines kurdischen Staates im Norden des Irak führen könnte, was | |
| der großen kurdischen Bevölkerungsgruppe in der Türkei wieder neue Hoffnung | |
| machen würde. Und die zeigte sich seit dem PKK-Aufstand im Jahr 1984 | |
| anhaltend widerspenstig. | |
| Seitdem hat sich einiges getan. Das Verhältnis zwischen Ankara und Erbil | |
| hat sich zu einer sehr engen Kooperation verdichtet. Heute läuft praktisch | |
| der gesamte Außenhandel der KRG über die Türkei. Türkische Unternehmen | |
| haben kräftig in Irakisch-Kurdistan investiert, weshalb sie an künftigen | |
| Ölexporten aus der Kirkuk-Region, die von den Kurden kontrolliert werden, | |
| üppig mitverdienen könnten.[7] | |
| Ankara ist sich der neuen Chancen, welche die irakische Kurdenregion | |
| bietet, durchaus bewusst und hat zu Barsani ein vertrauensvolles Verhältnis | |
| entwickelt. Die irakischen Turkmenen hat die Türkei schon immer | |
| unterstützt. Nun sieht sie sich auch als Garant für die Autonomie der | |
| irakischen Kurden. Während in den internationalen Medien ausgiebig über den | |
| Einfluss Teherans auf die irakische Regierung spekuliert wird, sorgt man | |
| sich in Bagdad weit mehr über den wachsenden Einfluss der Türkei auf | |
| diverse irakische Akteure und insbesondere auf sunnitische Politiker. So | |
| hat Ankara etwa dem früheren Vizepräsidenten Tariq al-Haschimi, dem | |
| Verbindungen zum sunnitischen Terrorismus vorgeworfen werden, politisches | |
| Asyl in der Türkei gewährt. | |
| Die Spannungen zwischen Bagdad und Erbil bringen Talabani und seine Partei | |
| in eine schwierige Lage. Da der irakische Präsident schwer krank ist, kann | |
| er nicht in der irakischen Innenpolitik vermitteln. Die PUK Talabanis ist | |
| die zweitgrößte Kurdenpartei im Irak und rivalisiert immer noch mit | |
| Barsanis KDP (Kurdische Demokratische Partei). Dabei unterhält die PUK | |
| traditionell gute Beziehungen zum Iran und ist deshalb in die neue Allianz | |
| zwischen Teheran und Bagdad eingebunden, während die KDP sich immer stärker | |
| nach Ankara orientiert. | |
| In dem Maße, in dem sich die Zentralregierung unter al-Maliki konsolidiert, | |
| wächst der Widerstand gegen den Einfluss und die Ambitionen der | |
| Kurden.[8]Die entscheidende Frage ist dabei, wo die neue Grenze der | |
| kurdischen Einflusszone gezogen wird und ob dies auf unblutige Weise | |
| geschehen kann. | |
| Die Zukunft der irakischen Kurden hängt aber auch von der Entwicklung in | |
| Syrien ab. Dort werden die Kurden fast zwangsläufig von der syrischen | |
| Revolution profitieren. „Wir haben eine einmalige Chance“, meint Behjet | |
| Baschir, Repräsentant der Kurdischen Demokratischen Partei Syriens (KDPS) | |
| in Erbil. „Und die müssen wir unbedingt nutzen, denn sie wird sich kaum ein | |
| zweites Mal bieten.“ Für die Zukunft Syriens sieht er verschiedene | |
| Szenarien, aber selbst für den schlechtesten Fall sieht er die Kurden noch | |
| als Gewinner: „Zumindest werden sie die Herren in ihrer eigenen Region | |
| sein.“ | |
| Auch das Baath-Regime von Damaskus hat die syrischen Kurden übel behandelt. | |
| Getreu seiner Ideologie eines arabischen Nationalismus hat es die kurdische | |
| Identität nicht anerkannt. Die Kurden waren politisch und ökonomisch | |
| unterdrückt, etwa 100 000 von ihnen wurde die Staatsbürgerschaft aberkannt, | |
| in den kurdischen Regionen wurden arabische Stämme angesiedelt. Als 2004 | |
| nach einem Fußballspiel in Dair az-Zur kurdische und arabische Fans | |
| aufeinander losgingen, wurde diese „kurdische Intifada“ brutal | |
| niedergeschlagen. | |
| ## Die syrischen Kurden und der Bürgerkrieg | |
| Den syrischen Kurden wurden auch kulturelle Rechte vorenthalten. In den | |
| Schulen durfte die kurdische Sprache nicht gelehrt werden, während andere | |
| Minderheiten wie Armenier und Assyrer – häufig sogar in derselben Region – | |
| das Recht auf eigene Schulen und auf Unterricht in ihrer Muttersprache | |
| hatten. Auch öffentliche Feiern zum kurdischen Neujahrstag (Nowruz am 21. | |
| März) waren verboten. Die Namen von Städten und Dörfern wurden arabisiert, | |
| alle Hinweise auf die kurdische Identität aus den Schulbüchern getilgt.[9] | |
| Obwohl das Assad-Regime die eigene kurdische Bevölkerung wie Bürger zweiter | |
| Klasse behandelt hat, gewährte sie immer wieder kurdischen Guerillakämpfern | |
| aus der Türkei und dem Irak Unterschlupf, um sie als Hebel gegenüber Ankara | |
| und Bagdad zu benutzen. Der heutige Präsident des Irak lebte jahrelang in | |
| Damaskus, wo er auch 1975 seine Patriotische Bewegung (PUK) gründete. Doch | |
| es war eine andere Partei, die sich innerhalb der kurdischen Volksgruppe in | |
| Syrien am stärksten verankert hat: die auf türkischem Territorium | |
| entstandene PKK. | |
| Die kurdischen Regionen im Nordosten Syriens waren auch keineswegs die | |
| Wiege des gegenwärtigen Aufstands. Zwar kam es in der größten kurdischen | |
| Stadt Qamischli mehrfach zu großen Demonstrationen, aber dem bewaffneten | |
| Kampf haben sich die syrischen Kurden hier nicht angeschlossen. Zwischen | |
| ihnen und den Aktivisten der syrischen Opposition gab es von Anfang an eine | |
| politische Differenz: Als 2011 der Syrische Nationalrat (SNC) gegründet | |
| wurde, forderten die kurdischen Aktivisten, der Nationalrat müsse die | |
| spezielle Leidensgeschichte der Kurden anerkennen und ihnen im künftigen | |
| Syrien ihre kulturelle Identität und das Recht auf politische Autonomie | |
| garantieren. | |
| Die SNC-Führung hielt diese Forderungen für einen Ausdruck von kurdischem | |
| Chauvinismus. Sie forderten die syrischen Kurden auf, sich der Revolution | |
| anzuschließen; im Übrigen werde sich für die angesprochenen Probleme in | |
| einem künftigen demokratischen Syrien schon eine Lösung finden. Diese | |
| Reaktion verstärkte das Misstrauen der PKK-nahen syrischen Partei der | |
| Demokratischen Union (PYD), die im SNC ohnehin nur einen Handlanger Ankaras | |
| sahen: Schließlich war die syrische Oppositionsfront in Istanbul gegründet | |
| worden, und die dem SNC nahestehende „Freie Syrische Armee“ hat ihr | |
| Hauptquartier in der türkischen Provinz Hatay. | |
| Das Assad-Regime wiederum war sehr darauf bedacht, die syrischen Kurden zu | |
| befrieden, um nicht noch eine weitere Front im Nordosten des Landes zu | |
| haben. 2011 gewährten die Behörden 300 000 ethnischen Kurden die | |
| Staatsbürgerschaft.[10]Außerdem wurden einige kurdische politische | |
| Gefangene aus der Haft entlassen. Aber die Repression war damit keineswegs | |
| zu Ende, wie die Ermordung des kurdischen Aktivisten Maschaal Tammo zeigte, | |
| der im Oktober 2011 in Qamischli erschossen wurde.[11] | |
| Die syrischen Kurden standen schon immer unter dem Einfluss kurdischer | |
| Organisationen in der Türkei und im Irak. Aber anders als die iranischen, | |
| türkischen und irakischen Kurden forderten sie von der Regierung in | |
| Damaskus niemals eine autonome Region oder gar einen eigenen Staat. Die | |
| erste Partei, die sich in Syrien für die kurdische Identität starkmachte, | |
| war die PYD, die 2003 als Ableger der PKK entstand. | |
| Die 1978 von kurdischen Studenten in Ankara gegründete PKK ging 1984 zum | |
| bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat über. Anfangs wurde die | |
| Bewegung vom syrischen Regime unterstützt: Ihr Anführer Abdullah Öcalan | |
| lebte jahrelang in Damaskus, und die PKK konnte eigene Ausbildungslager in | |
| der Bekaa-Ebene im syrisch kontrollierten Teil des Libanon betreiben. | |
| Damals rekrutierte die PKK auch syrische Kurden, was vom Assad-Regime | |
| insofern gefördert wurde, als diese vom syrischen Militärdienst | |
| freigestellt wurden. Beobachter schätzen, dass auch heute noch etwa ein | |
| Drittel der PKK-Kämpfer im Nordirak aus Syrien stammen. Seit Beginn der | |
| Guerilla-Operationen sollen zwischen 7 000 und 10 000 syrische Kurden in | |
| PKK-Uniform gefallen sein.[12] | |
| Im September 1998 löste die Regierung in Damaskus – auf Betrieben Ankaras – | |
| die PKK-Ausbildungslager in der Bekaa-Ebene auf und verwies Öcalan des | |
| Landes. Nach einer hektischen Flucht durch mehrere Länder wurde der | |
| PKK-Chef am 15. Februar 1999 in Kenia von türkischen Geheimdienstagenten | |
| gefasst und nach Ankara geflogen. Danach entwickelte das Assad-Regime enge | |
| Beziehungen zur Türkei. Hunderte kurdischer Kämpfer wanderten in syrische | |
| Gefängnisse. Auch im Iran und in der Türkei geriet die PKK damals stark | |
| unter Druck, so dass sie sich in die Kandil-Berge im Nordosten des Irak | |
| zurückziehen musste. Der alte Satz „der einzige Freund des Kurden ist das | |
| Gebirge“ schien sich erneut zu bestätigen. | |
| Doch dann kamen die arabischen Revolutionen und wirbelten die regionalen | |
| Bündnisse durcheinander. Ende 2011 rückten hunderte Kämpfer der PKK-PYD aus | |
| den Bergen in den syrischen Norden ein, den sie als „Westkurdistan“ | |
| bezeichnen. Als sich im Sommer 2012 der Bürgerkrieg auf Damaskus und Aleppo | |
| ausweitete und das Assad-Regime nicht mehr imstande war, das ganze Land zu | |
| kontrollieren, zog es seine Truppen auch aus einigen kurdischen Städten ab. | |
| ## Zwei Fraktionen im Streit um den richtigen Weg | |
| Im Juni 2012 übernahmen die PYD-Aktivisten die Kontrolle der nordsyrischen | |
| Städte al-Malikiyah, Ain al-Arab, Amuda und Afrin. Diese Entwicklung nährte | |
| Gerüchte, die PYD kooperiere mit der Regierung in Damaskus, was | |
| PYD-Sprecher Hussein Kojer klar dementiert: „Das Regime ist am Ende“, sagte | |
| er, man könne gar kein Bündnis mit ihm eingehen. Im Übrigen seien „Hunderte | |
| von Märtyrern“ der PYD in den Gefängnissen des Baath-Regimes gefoltert und | |
| getötet worden. Die Gerüchte über einen Pakt mit Assad würden von Ankara | |
| gestreut. | |
| Das neue Selbstbewusstsein der PYD hat bei den anderen syrischen Parteien | |
| Misstrauen und in Ankara sogar Alarm ausgelöst.[13]Die 16 Parteien der | |
| syrischen Kurden, die im Kurdischen Nationalrat (KNC) vertreten sind, haben | |
| angesichts der Stärke der PYD begonnen, eine eigene Militärmacht aufzubauen | |
| – und zwar mithilfe der irakischen Kurden. Tausende junge syrische Kurden | |
| sind aus der syrischen Armee desertiert und befinden sich in einem Lager im | |
| nordirakischen Dohuk, wo Peschmerga-Offiziere etwa 1 600 von ihnen | |
| militärisch ausbilden. Nach den Worten von Massud Barsani sollen sie „eine | |
| Rolle in Syrien spielen, wenn dort alles zusammenbricht und ein Vakuum | |
| entsteht“.[14] | |
| Angesichts dieser Entwicklung ist zu befürchten, dass die PYD und der KNC | |
| um die Macht im syrischen Kurdistan konkurrieren werden. Am Ende könnte im | |
| schlimmsten Fall ein weiterer kurdischer Bruderkrieg stehen. Angesichts | |
| dieser Gefahr hat Barsani zwei Treffen der beiden Rivalen moderiert, die im | |
| Juni und im November 2012 in Erbil stattfanden. Dabei wurden Regeln für | |
| eine militärische und politische Koordination zwischen PYD und KNC | |
| beschlossen. Dennoch gibt es weiterhin starke Spannungen zwischen der PYD | |
| und einigen KNC-Gruppierungen, wenn es auch bislang noch nicht zu | |
| innerkurdischen Kämpfen auf syrischem Gebiet gekommen ist. | |
| Und es zeichnet sich noch eine weitere Gefahr ab: ein Krieg zwischen | |
| kurdischen Kämpfern und syrischen Aufständischen. In Afrin und auch in | |
| Ashrafieh, einem Stadtteil von Aleppo, haben sich beide Seiten bereits | |
| Scharmützel geliefert. Die schwersten Kämpfe tobten drei Tage lang im | |
| November 2012 im Ort Ras al-Ayn an der syrisch-türkischen Grenze, wo | |
| kurdische Kräfte Kämpfern islamistischer Rebellengruppen gegenüberstanden. | |
| Die Kämpfe wurden durch einen formellen Waffenstillstand beendet, der aber | |
| nicht lange hielt: Im Januar 2013 kam es erneut zu bewaffneten | |
| Zusammenstößen. | |
| Die syrischen Aufständischen werfen der kurdischen Guerilla vor, ihre | |
| Aktionen zu behindern und damit den Zielen des Regimes zu dienen. Umgekehrt | |
| hegt die PYD ein tiefes Misstrauen gegenüber der syrischen Opposition und | |
| insbesondere den islamistischen Bataillonen, denen sie den Zugang zu ihren | |
| Territorien verweigern. | |
| Wenn die kurdischen Siedlungsgebiete in Syrien unter die umfassende | |
| Kontrolle der PKK-PYD geraten würden, wären sie zwischen zwei feindlichen | |
| Regionen eingeklemmt: der Türkei im Norden und den syrischen Rebellen im | |
| Süden. Die Kurdenregionen in Syrien bestehen aus flachem Land und sind für | |
| Guerilla-Operationen wenig geeignet. Die Kurden in Syrien scheinen zu | |
| schwanken,welcher der beiden kurdischen Fraktionen, die sich an den | |
| politischen Entwicklungen in der Türkei beziehungsweise im Irak ausrichten, | |
| sie sich zuwenden sollen. Wenn sie sich im wachsenden Chaos der syrischen | |
| Politik behaupten wollen, müssen sie unbedingt eine eigenständige Strategie | |
| entwickeln. | |
| 10 May 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Vicken Cheterian | |
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