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# taz.de -- die wahrheit: Die Bücherei des Todes
> Argentinien-Woche der Wahrheit. Borges labyrinthisches Vermächtnis.
Unzählige Touristen besuchen jedes Jahr Buenos Aires. Doch nicht alle
kehren zurück. Die einen haben unangenehme Begegnungen mit marodierenden
Stieren, andere erliegen der Melancholie des Ortes. Und einige verfallen
dem Bannfluch eines Dichters, der sich über seinen Tod hinaus als ein Genie
des Makabren erweist.
Während aber Warnungen vor stampfenden Steaks und Bandoneon-Depressionen in
keiner Reisebroschüre fehlen, liegt ein Leichentuch des Schweigens über dem
verwunschensten Platz der Metropole - Jorge Luis Borges "Bibliothek von
Babel". Kein einziger Reiseführer weist auf die Attraktion hin, auch das
Fremdenverkehrsamt will nichts davon wissen. Und Wikipedia hat wie immer
keinen Schimmer. Was steckt dahinter? Ignoranz? Blanke Angst?
Der gelernte Argentinier Borges war nicht nur ein Misanthrop. Er konnte
Menschen schlicht nicht leiden. Legendär die Worte, mit denen er seine
Erblindung kommentierte: "Satan sei Dank muss ich euch Tröpfe nicht mehr
sehen!" Gleichfalls sagenhaft seine Leidenschaft für Kriminaltango in der
Taverne, dunkle Gestalten und rotes Licht.
Am liebsten aber waren ihm Bücher - vor allem solche, die man mit
ausgeknipster Taschenlampe unter der Bettdecke liest. Unablässig
durchsuchten er und seine Agenten Dachböden, Flohmärkte, Antiquariate und
Papiermühlen nach Titeln, die der Rest der Welt vergessen hat.
So schneiderte Borges sich bereits zu Lebzeiten ein Museum auf den Leib -
eine Bibliothek, angefüllt mit lauter Schmökern, Schinken und Schwarten,
die kein Schwein außer ihm und eventuell Umberto Eco je in der Hand gehabt,
geschweige denn gelesen hat. Hunderttausende von sonderbaren Werken, die
einen enormen Magnetismus auf Literaturfetischisten in aller Welt
ausstrahlen. Obwohl kein Baedeker ihnen hilft - manche Bücherwürmer finden
den Weg zu Borges papierenem Monument. Doch selten wieder hinaus.
Mittlerweile gewähren die Behörden bloß Augenlosen und Analphabeten den
Zutritt zur "Bibliothek von Babel". Das hat einen guten Grund: In den
Jahren nach Borges Tod durfte jeder die labyrinthischen Räumlichkeiten
betreten, der sich vorher die Hände geputzt und die Brille gewaschen hatte.
Abertausende verschwanden damals auf Nimmerwiedersehen zwischen den
endlosen Regalreihen, die wie barocke Sätze ineinander verschlungen sind.
Dasselbe geschah den Suchtrupps, die ihnen folgten, darunter Eliteeinheiten
der philologischen Fakultät von Buenos Aires und Offiziere der
US-Kongressbibliothek.
Nur die Putzfrau Elsa Burruchaga, die sich täglich über die Staubberge des
Manuskriptmausoleums hermacht, kehrt stets wohlbehalten zurück. Denn sie
ist Legasthenikerin. Aus ihren konfusen Berichten, den Notizen Borges und
jener wüsten Spekulation, ohne die Literaturwissenschaft keinen Spaß macht,
lässt sich der Bannfluch des Orts einigermaßen rekonstruieren.
So soll es in der "Bibliothek von Babel" einen gewaltigen Folianten geben,
der aus zahllosen hauchdünnen Blättern besteht, die randvoll mit winzigen
Buchstaben bedruckt sind. Forscher vermuten, dieser Band enthalte sämtliche
überhaupt denkbaren Alphabetkombinationen. In ihnen verborgen seien so
viele Geschichten, wie es Menschen auf der Erde gibt und jemals gab. Wer
das Buch aufschlägt, der wird unweigerlich sich selber finden, und das ist
bekanntlich noch keinem bekommen.
An einer anderen Stelle der Lesesäle soll sich ein "Aleph" befinden, ein
Punkt also, in dem sämtliche Punkte der Welt ineinander fallen. Die
Gelehrten streiten derzeit darüber, ob es sich nicht vielmehr um das Komma
aller Kommata handeln könnte. Jedenfalls verschlinge das seltsame Ding
jeden, der auch nur rudimentäre Kenntnisse der Zeichensetzung besitzt.
Nicht minder riskant soll ein Raum sein, der den Worthöllen gewidmet ist:
In ihm, vermutet man, hat Borges sämtlichen Literaturramsch der letzten
zweitausend Jahre versammelt. Die Wirkung des zusammengeballten Labertrans,
heißt es, sei noch lähmender und hirntötender als ein Besuch des
Günter-Grass-Hauses in Lübeck.
Señora Burruchaga behauptet, im Keller seien hunderte Sarkophage
aufgestapelt, die aus Schweinslederbuchrücken zusammengenäht worden sind.
In ihnen lägen die Leichname von blinden Bibliothekaren - auch der von
Borges selbst. Jeden Besucher, der in die "Bibliothek von Babel" kommt,
weil er hier Aristoteles verschollene "Poetik der Komödie" zu finden hofft,
treffe spätestens hier unweigerlich der Schlag.
Den vernichtendsten Effekt jedoch soll ein Raum ausüben, in dem, viele
Meter hoch und breit, ausschließlich Karteikästen stehen. In ihnen sind
nicht nur sämtliche Buchtitel verzeichnet, die Borges Museum zu bieten hat,
sondern auch die Sammlungen der Besucher.
Von der Decke, heißt es, hänge ein Schild mit den Worten: "Wie alle, die im
Besitz einer Bibliothek sind, fühlte sich Aurelian schuldig, dass er sie
nicht bis zum letzten Buchstaben kannte." Dieser Sinnspruch führe bei
Literaturnarren, die auf Borges Spuren wandeln, unweigerlich zu
Zerknirschungsgefühlen. Sie würden fortan vor lauter Scham das Licht der
Welt meiden und sich in die besonders voluminösen Exemplare der Bücherei
als lebende Lesezeichen zurückziehen. Seltsam? Aber so steht es irgendwo in
Buenos Aires geschrieben.
8 Oct 2010
## AUTOREN
Kay Sokolowsky
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