# taz.de -- der krieg ist aus: Orte im Wandel (4): Unterschlupf bei „Onkel Em… | |
> In einer Wohnung in Steglitz versteckten Ruth Friedrich und Leo Borchard | |
> Naziverfolgte. Heute leben dort unerkannte Künstler | |
Vor 60 Jahren begann in Berlin der Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg. | |
Die taz stellt Orte vor, die während der Nazidiktatur eine besondere | |
Bedeutung hatten, und sagt, was aus ihnen geworden ist. | |
Die erste voll elektrifizierte Wohnsiedlung, die die Gehag in den | |
30er-Jahren in Steglitz erbauen ließ, ist eine Kampfansage an die | |
Individualität. Beige an beige schichten sich schmucklose, viergeschossige | |
Wohnzeilen soweit der Blick reicht. Auch das Haus Nummer 6 am Hünensteig | |
reiht sich bruchlos in die Siedlung ein. Nur eine Gedenktafel neben dem | |
Klingelschild zeugt heute vom Anderssein. Die Tafel erinnert an Ruth | |
Friedrich und Leo Borchard, die Begründer der Widerstandsgruppe „Onkel | |
Emil“, die von hier aus vielen Verfolgten des Naziregimes half. | |
60 Jahre später ist es Zeit für ein Experiment: Es interessiert die Frage, | |
ob sich die heutigen Mieter in den Wohnungen der Widerstandskämpfer | |
irgendwie besonders fühlen. Ein klein wenig ist da natürlich auch die | |
Hoffnung, dass etwas vom Geist dieser außergewöhnlich mutigen Menschen am | |
Ort ihres Wirkens weiterlebt. Jeder Einzelne im Freundeskreis um die | |
Schriftstellerin Ruth Friedrich und ihren Lebensgefährten Leo Borchard | |
riskierte ab 1938 sein Leben. Mitten in der Nazihochburg Steglitz | |
versteckten sie Juden und Regimegegner, versorgten sie mit Essen und | |
falschen Pässen. Sie druckten Flugblätter und malten antinazistische | |
Parolen an die Häuserfassaden. Entdeckt wurde die Gruppe „Onkel Emil“, wie | |
sie erst nach dem Krieg getauft wurde, nie. | |
Auf der Klingel von Leo Borchards ehemaliger Wohnung im dritten Stock steht | |
heute der polnische Name Kubath. Maria Kubath öffnet die Tür, sie trägt ein | |
Nachthemd und viele Lockenwickler. Hinter ihr, im engen Flur steht Cesary, | |
ihr Mann. Seit sie 1995 hier eingezogen, sind sie tausende Male an der | |
Gedenktafel am Hauseingang vorbeigegangen. Dass Leo Borchard in ihrer | |
Wohnung lebte, wussten sie aber nicht. Nur geahnt habe er es, sagt Cesary | |
Kubath und entdeckt sofort eine Parallele: Auch er hat sich im Widerstand | |
geübt – in Polen – gegen die Kommunisten. Auf einer Reise habe er sich 1987 | |
schließlich von Polen nach Hamburg abgesetzt. Ohne Deutschkenntnisse und | |
ohne fremde Hilfe ein neues Leben aufgebaut. „Mut lohnt sich eben“, sagt | |
er. Seine Frau nickt. | |
Die Kubaths gewinnen zusehend Spaß am Experiment. Als Frau Kubath hört, | |
dass Leo Borchard ein berühmter Dirigent war, deutet sie auf die Staffelei, | |
die gegen die Vitrine im Wohnzimmer lehnt. „Auch ich habe einen kleinen | |
Künstler zu Hause“, sagt sie und blickt stolz auf ihren Mann. Wenn Cesary, | |
der gelernte Bauzeichner, Monets und Motive von Postkarten nachmalt, muss | |
Maria den Wohnzimmertisch zusammenklappen. Jeder Zentimeter der nur 55 | |
Quadratmeter großen Wohnung wird effektiv ausgenutzt. Eng ist es trotzdem | |
und war es bei den regelmäßigen Treffen der Gruppe, die sich hier über ihre | |
Aktionen absprachen, auch damals. | |
Wie das Kommen und Gehen der Freunde unentdeckt bleiben konnte, ist den | |
Kubaths rätselhaft. Das Haus ist sehr hellhörig. Von der Nachbarin nebenan | |
können sie manchmal jedes einzelne Wort verstehen. Und unter ihnen, wissen | |
sie, spielt jemand oft auf seiner Gitarre. | |
Der Mann mit der Gitarre heißt Steve Lasky und ist Englischlehrer. In | |
seiner freien Zeit tourt er mit seiner Jazzband. Als er vor sechs Jahren | |
hier einzog, erzählte ihm ein Handwerker, dass dies die Wohnung der | |
Widerstandskämpferin Ruth Friedrich war. Die Schriftstellerin hatte eine | |
Tochter von ihrem ersten Mann, mit Borchard lebte sie in „wilder Ehe“. Um | |
nicht unnötig aufzufallen, bezog das Liebespaar die zwei getrennten, aber | |
übereinander liegenden Wohnungen. Bei Ruth Friedrich schliefen oft tagelang | |
untergetauchte Personen. „Full respect“, sagt Lasky, habe er für das, was | |
sie getan hat. | |
Aber – ehrlich gesagt – mache es für ihn keinen großen Unterschied. Er | |
schätzt seine winzige Wohnung vor allem, weil sie billig ist. Alles andere | |
ist eine schöne, aber alte Story. TINA HÜTTL | |
13 May 2005 | |
## AUTOREN | |
TINA HÜTTL | |
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