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# taz.de -- Zum Tod von Alexander Solschenizyn: Visionär des Vergangenen
> Mit seinem Roman "Archipel Gulag" setzte er den Opfern des Stalinismus
> ein Denkmal. Nun starb der Literaturnobelpreisträger im Alter von 89
> Jahren in Moskau.
Bild: Alexander Solschenizyn bei der Rückkehr aus dem Exil, 1994.
MOSKAU taz "Ich habe zwei Nächte nicht geschlafen, ich habe Ihre Erzählung
gelesen, noch einmal gelesen, mich zurückerinnert … Die Erzählung ist wie
ein Gedicht, alles an ihr ist vollkommen. Erlauben sie mir, Ihnen, mir
selbst und den tausenden Überlebenden zu gratulieren, und auch den
hunderttausenden (wenn nicht Millionen) Gestorbenen, denn auch sie sind mit
dieser wahrhaftig bewundernswerten Erzählung lebendig", schrieb Warlam
Schalamow, ein Häftling und Gulag-Schriftsteller wie Solschenizyn, als
dessen Lagererzählung "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" 1962 in der
Literaturzeitschrift Nowij Mir erschien. Es war der erste Text über den
bolschewistischen Lagerterror, der in der Sowjetunion sechs Jahre nach dem
XX. Parteitag, auf dem Chruschtschow den Stalinismus anprangerte,
erscheinen konnte.
Mit der Erzählung wurde Solschenizyn zum Mahnmal und Inbegriff des
sowjetischen Dissidenten. Er blieb aber ein Einzelkämpfer, der sich um die
Solidarität der Moskauer Dissidentenszene nicht kümmerte. Auch in seinen
späteren Memoiren würdigte er die Regimegegner, die zu ihm hielten, keines
Wortes. Dank hatten sie von ihm nicht zu erwarten.
Das mag die Tragik der Figur Alexander Solschenizyns sein, der sich schon
zu Lebzeiten zu einem Titanen stilisierte, der niemanden neben sich gelten
ließ. Die moralische Integrität, die er sich als Schriftsteller erworben
hatte, nutzte Solschenizyn nicht, um den tiefer liegenden Ursachen des
politischen Terrors der Sowjetunion auf den Grund zu gehen. Auch nach
seiner Rückkehr aus dem amerikanischen Exil blieb Solschenizyn auf Distanz
zur ehemaligen Dissidentenszene. Statt sich an der Aufarbeitung der
totalitären russischen Vergangenheit zu beteiligen, wie es die
Nichtregierungsorganisation Memorial unermüdlich versucht, zog sich
Solschenizyn zurück. In seinen Werken erschien die bolschewistische
Revolution als Betrug am russischen Volk. Dessen Tragödie sei Russland von
außen aufgezwungen worden. Der Kommunismus war in seinen Augen eine
Emanation des westlichen rationalistischen Humanismus, der seit der
Aufklärung seinen verhängnisvollen Lauf nahm.
Als Solschenizyn 1994 nach zwanzig Jahren Exil in die Heimat zurückkehrte,
sahen viele in ihm nicht nur einen Bezwinger des Kommunismus. Man erwartete
von ihm geistige Führung wie sie Václav Havel in Tschechien leistete. Aber
Solschenizyn war kein Havel und Russland nicht Tschechien.
Im Exil hatte sich Solschenizyn der Verherrlichung und einem Traumbild des
zaristischen Russlands hingegeben. Der Westen und dessen Verrechtlichung
der menschlichen Existenz waren ihm ein Gräuel, das er einem religionslosen
Bewusstsein gleichsetzte. Seine politischen und publizistischen Arbeiten
standen im krassen Widerspruch zu dem Zeitgeist in Russland, das in den
Neunzigerjahren des Umbruchs auf der Suche nach sich selbst und etwas Neuem
war. Aus dem Recht des moralisch Überlegenen machte er ein Recht auf
Unbelehrbarkeit. Damit stellte er sich in die Tradition der russischen
Intelligenz, deren Maximalismus seit Ende des 19. Jahrhunderts keine
Kompromisslösungen zulässt.
Der Bezwinger des Kommunismus konnte nicht verhehlen, dass auch er sich der
Sowjetsozialisation nicht hatte entziehen können. Mehrfach unternahm er
danach noch Versuche, sich publizistisch einzumischen. Solschenizyns
Zukunftsentwürfe für seine Heimat bewegten sich unterdessen im reaktionären
Gedankengut des 19. Jahrhunderts. Der Verrechtlichung und der Legitimation
durch Verfahren im Westen stellt er ein organizistisches Weltbild
gegenüber, das Anleihen bei den Ideologen der konservativen Revolution der
Weimarer Republik gemacht haben könnte. Das überaus humane Menschenbild des
Schriftstellers Solschenizyn gerann zu einem Traktat, das dem Menschen
wieder das Subjektsein abspricht - im Interesse höherer Werte wie denen des
Staates oder der orthodoxen Kirche. Ein verhängnisvolles Erbe, dem große
Schriftsteller wie Fjodor Dostojewski den Weg ebneten.
In einem Interview mit der Perestroika-Zeitung Moskowskije Nowosti meinte
Solschenizyn 2003 zur westlichen Kritik an Russland: "Unbeschränkte
Menschenrechte sind genau das, was unsere in Höhlen lebenden Vorfahren
hatten: Nichts konnte sie davor bewahren, vom Nachbarn Fleisch zu stehlen
oder ihn mit einem Knüppel niederzumachen."
Solschenizyn durchlebte die Hölle der Lager, 50 Jahre später erteilte er
allgemein gültigen Menschenrechten eine Absage.
Im Rückgriff auf das Anderssein Russlands rechtfertigte Solschenizyn den
Abbau der Demokratie unter Expräsident Wladimir Putin. Jede Gesellschaft
brauche eine Autorität und eine Elite, die sich "volle Rechte" verschaffe,
während die Rechte der Massen beschränkt würden.
Wie Premier Putin und viele Landsleute verwand auch Solschenizyn den
Zerfall des Imperiums nicht. Ein unteilbares Großrussland, dem die Ukraine,
Weißrussland und Nordkasachstan angehören, war für ihn genauso
selbstverständlich wie die Existenz eines starken Staates. Solschenizyn
blieb ein Visionär der Vergangenheit.
5 Aug 2008
## AUTOREN
K.-H. Donath
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