# taz.de -- Zum Nichtstun verdammt | |
VON SUSANNE GANNOTT | |
Auf dem Rasenstück vor der Haustür sitzen sechs Männer in der Herbstsonne. | |
Es ist Sonntag, man spielt Karten. Im Vorgarten nebenan sortiert eine Frau | |
bunte Wäsche. Zwei Kinder fahren auf ihren Fahrrädern vorbei. Die | |
eingeschossigen Reihenhäuschen machen einen gepflegten Eindruck: Die | |
Fassaden sind fast frisch geweißt, vor einigen Haustüren blühen die letzten | |
Herbstblumen. Und doch spürt jeder Besucher schon bei der Anreise, dass der | |
Poller Holzweg 10 keine gewöhnliche Adresse ist. | |
Der Weg hierher führt durch das Niemandsland von Köln-Poll, vorbei an einem | |
trostlosen Gewerbegebiet und Unkraut überwucherter Stadtwildnis. Das | |
gesamte Grundstück mit den vier Häuserreihen ist umzäunt, am ersten Haus | |
neben dem Eingang hängen Schilder der Stadt Köln und der Sicherheitsfirma | |
„Adlerwache“. Der Platz mit den Mülltonnen schräg gegenüber ist | |
videoüberwacht. Das „Lager“, wie eine Bürgerin der weit entfernten | |
Nachbarschaft sagt, ist ein städtisches Flüchtlingsheim. 115 Menschen leben | |
hier, die meisten sind Roma aus dem ehemaligen Jugoslawien. | |
In der letzten Wohnung der dritten Häuserreihe sitzt Laloc Selimovic, | |
genannt Lolo, im Wohnzimmer. Es ist zugleich Küche und Schlafraum für den | |
Vater. Lolos Schwestern Sladjana und Dragana räumen die Reste vom | |
Mittagessen weg und kochen Kaffee für den Besuch. Zwei Onkel mit ihren | |
Frauen und ein paar andere Verwandte sind vorbei gekommen. Fast keiner aus | |
der Familie hat eine Arbeitserlaubnis – und daher auch keine Arbeit. Fast | |
alle leben sie in Heimen. Da hat man viel Zeit für gegenseitige Besuche. | |
## Arbeiten ist nicht erlaubt | |
„Was soll man hier schon groß anderes machen?“, fragt Lolo und weist mit | |
dem Kopf Richtung Fenster auf die Männergruppe vor der Tür. „Mein Vater | |
spielt den halben Tag Poker. Ich gucke Fernsehen, gehe spazieren oder auf | |
den Sperrmüll.“ Auch die beiden Wohnzimmersofas, die mit weißen und roten | |
Spitzendeckchen vor dem Durchsitzen bewahrt werden, hat der 22-Jährige | |
besorgt. Ebenso den Couchtisch und den Glasschrank in der Ecke, der voll | |
steht mit buntgemalten Porzellanfigürchen. Dass er mit seinen | |
Sperrmüllgängen etwas für die Familie tun kann, macht Lolo schon ein wenig | |
stolz. Aber viel lieber würde er arbeiten gehen: eigenes Geld verdienen, | |
eine richtige Wohnung haben, ein ganz normales Leben führen. „Wenn wir nur | |
ein Bleiberecht und eine Arbeitserlaubnis hätten, dann wäre alles gut.“ | |
Genau darum geht es ab morgen bei der halbjährlichen | |
Innenministerkonferenz: um ein Bleiberecht für Flüchtlinge, die seit Jahren | |
in Deutschland leben, aber eigentlich ausreisepflichtig sind und immer nur | |
eine kurzfristige „Duldung“ bekommen. Rund 80.000 sind es allein in | |
Nordrhein-Westfalen, bundesweit spricht man von etwa 186.000 Menschen. Weil | |
aber vor allem konservative Politiker fürchten, dass allzu viele von ihnen | |
hier bleiben, haben sich die Minister in Vorgesprächen auf eine ganze Latte | |
von Bedingungen geeinigt, die Flüchtlinge für ein Bleiberecht erfüllen | |
müssen: Familien müssen mindestens sechs Jahre hier sein und ihre Kinder in | |
die Schule beziehungsweise den Kindergarten schicken. Erwachsene ohne | |
Kinder müssen sogar seit acht Jahren in der Bundesrepublik leben. Natürlich | |
darf man nicht straffällig geworden sein. Und: Die Flüchtlinge müssen ihren | |
Lebensunterhalt selber verdienen, dürfen nicht von der – für Flüchtlinge | |
ohnehin reduzierten – Sozialhilfe abhängig sein. | |
Auf die Selimovics trifft davon nur zweierlei zu: Sie haben sich nichts zu | |
schulden kommen lassen und sie leben seit elf Jahren hier. Ende 1995 flohen | |
die Eltern mit ihren sechs Kindern aus Montenegro nach Deutschland, weil | |
sie, wie viele Roma, im damaligen Jugoslawien bedroht und verfolgt wurden. | |
Seitdem lebt die Familie – die Mutter starb vor vier Jahren an Krebs – im | |
Flüchtlingsheim Poller Holzweg: immer nur geduldet, immer mit der Angst vor | |
der Abschiebung. Eine Arbeitserlaubnis hat Vater Zumber nie bekommen. Zwar | |
wäre es für ihn ohnehin nicht einfach, eine Arbeit zu finden, denn der | |
52-Jährige hat keinerlei Berufsausbildung, ist stark schwerhörig und hat – | |
vor allem deshalb – bis heute kein Deutsch gelernt. „Aber er würde gerne | |
arbeiten, er würde alles machen“, beteuert Lolo. | |
Den Kartenspielern vor der Tür ist es offenbar zu kalt geworden; der Vater | |
und zwei der Männer kommen herein, ziehen die Schuhe aus und setzen sich an | |
den Couchtisch. Die 24-jährige Dragana bringt kleine Tässchen mit Mokka, | |
stellt Gebäck, Limo und Chips auf den Tisch. Als die beiden Onkel hören, | |
dass es um Arbeit geht, wollen auch sie ihre Geschichte loswerden. „Überall | |
bin ich schon gewesen“, erzählt der eine, der immerhin eine | |
Arbeitserlaubnis hat. „Ich kann Laster fahren, Kisten schleppen. Alles.“ | |
Der kräftige Mittdreißiger macht eine Faust, zeigt seine Unterarmmuskeln. | |
„Aber nix geht.“ | |
Auch bei dem anderen Onkel geht „nix“. Sein Lächeln, das ein paar blitzende | |
Goldzähne freilegt, wirkt fast wie eine Entschuldigung. Vor drei Jahren | |
wurde er abgeschoben, nach über 15 Jahren in Deutschland. Seit zwei Jahren | |
ist er wieder da, lebt wieder im Heim, hat weder Arbeit noch die Erlaubnis | |
zu arbeiten. | |
Auch Lolo hatte noch nie eine Arbeit. Dabei sind seine Wünsche durchaus | |
bescheiden: Barmann in einer Diskothek wäre er am liebsten oder Bedienung | |
bei McDonalds. Zur Not ginge er auch putzen in einem Hotel. Ob er noch nie | |
über einen „richtigen“ Beruf nachgedacht, den er gerne erlernen möchte? Er | |
streicht sich nachdenklich mit der Hand über seine kürzlich rasierte | |
Glatze. „Das habe ich mir noch nie richtig überlegt“, sagt er. „Wozu auc… | |
wenn wir sowieso nicht arbeiten dürfen.“ | |
So wie den Selimovics geht es den meisten nur geduldeten Flüchtlingen. | |
Genaue Zahlen, wie viele von ihnen arbeiten dürfen, gibt es allerdings | |
nicht; das Landesinnenministerum spricht vorsichtig von „einigen Tausend“. | |
Auch in Köln führt man darüber keine Statistik, bedauert Dagmar Dahmen, die | |
Leiterin des Ausländeramts. 3.800 Flüchtlinge leben zur Zeit in der Stadt, | |
eine Arbeitserlaubnis bekommen sie „in Einzelfällen, das geht nicht | |
automatisch“ – wegen der Vorrangprüfung des Arbeitsamts. Das muss klären, | |
ob nicht schon ein Deutscher oder ein EU-Bürger für den Job parat steht. | |
## Aufenthalt „auf Probe“ | |
Weil daher ziemlich viele Flüchtlinge das strenge Kriterium der | |
„wirtschaftlichen Integration“ bislang gar nicht erfüllen könnten, hatte | |
der nordrhein-westfälische Innenminister Ingo Wolf (FDP) vorgeschlagen, den | |
Flüchtlingen mit der Bleiberechtsregelung eine „angemessene Frist“ zu | |
setzen, binnen derer sie Arbeit gefunden haben müssen. Sein bayerischer | |
Kollege Günther Beckstein (CSU) hat das am vergangenen Wochenende | |
präzisiert: Nur wer bis zum 30. September 2007 einen Arbeitsplatz | |
nachweise, dürfe eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten. Die Große Koalition | |
in Berlin hat diesem Modell gestern im Prinzip zugestimmt – einer | |
endgültigen Einigung bei der morgigen Konferenz der Innenminister steht | |
damit eigentlich nichts im Wege. Auch der nordrhein-westfälische Landtag, | |
der die Frage heute diskutiert, wird sich dieser Lösung – Bleiberecht ja, | |
aber nur, wenn man binnen kurzer Zeit eine Arbeit findet – wohl nicht | |
verschließen. Schließlich hatte Innenminister Wolf einen ähnlichen | |
Vorschlag bereits vor einem Jahr auf‘s Tapet gebracht, konnte sich damals | |
allerdings nicht bei seinen Kollegen durchsetzen. | |
Für Stefan Keßler, Vorstandsmitglied des NRW-Flüchtlingsrats, wäre eine | |
solche Einigung zwar grundsätzlich „ein Fortschritt“ zur bisherigen | |
Situation. Dennoch kann er den Wolf-Beckstein-Plänen nicht allzu viel | |
abgewinnen. Angesichts der angespannten Arbeitsmarktlage sei es | |
unrealistisch, dass viele der Flüchtlinge binnen kurzer Zeit Arbeit finden. | |
Daher wäre es besser, wenn schon der Nachweis genüge, dass sich die | |
Betroffenen ernsthaft um Arbeit bemühen. „Wenn sie es trotzdem nicht | |
schaffen, sollte ihnen das nicht zum Nachteil ausgelegt werden“. | |
Auch Lolo weiß, dass es schwierig für ihn wird, eine Arbeit zu finden, wenn | |
er sich vielleicht tatsächlich bald eine suchen darf. „Die Politiker sagen | |
immer, dass wir nicht arbeiten wollen. Aber das stimmt nicht. Es gibt | |
einfach zu wenig Arbeitsplätze – und auch viele deutsche Leute, die Arbeit | |
suchen.“ Dazu kommt noch ein Problem: Weder Lolo noch seine Geschwister, | |
die zum Zeitpunkt der Einreise zwischen einem und 23 Jahre alt waren, sind | |
je in der Bundesrepublik zur Schule gegangen. „Unsere Eltern wussten nicht, | |
wie das läuft mit der Schule, wo man sich anmeldet. Und keiner ist gekommen | |
und hat uns gesagt, wie das geht“, erzählt Lolo. | |
So wie ihnen ging es vielen Flüchtlingen in Köln, die als Kinder hierher | |
kamen. Der Grund: Eine Schulpflicht für Flüchtlingskinder gibt es in NRW | |
erst seit dem 1. Februar 2005. Vorher gab es für sie lediglich ein | |
Schulrecht. Für das jedoch hätten die Kölner Behörden nicht wirklich | |
geworben, berichtet Claus-Ulrich Prölß vom Kölner Flüchtlingsrat: „Das | |
Schulamt ist zwar immer wieder in die Wohnheime gegangen und hat den Eltern | |
erklärt, wie wichtig Schule für ihre Kinder ist, aber weiter haben sie dann | |
nichts gemacht.“ Auch bei den Selimovics kam einmal, vor vielen Jahren, | |
jemand vom Schulamt vorbei, fällt Lolo ein. „Aber damals konnte keiner von | |
uns richtig Deutsch, so dass wir gar nicht verstanden haben, was der Mann | |
von uns wollte.“ | |
Schwester Dragana, die gerade die dritte Runde süßen Mokka einschenkt und | |
sich dann dazusetzt, nickt: „Außerdem mussten sich die Eltern um Elvis und | |
Damian kümmern.“ Damian, mit 34 Jahren der Älteste der Geschwister, ist | |
geistig und körperlich schwerbehindert und muss rund um die Uhr betreut | |
werden. Der Jüngste, der 13-jährige Elvis, leidet von klein auf an | |
Epilepsie und Hepatitis B. Lolo wird fast ein wenig wütend, wenn er Elvis‘ | |
Krankengeschichte erzählt. „Bis letztes Jahr bekam er falsche Tabletten und | |
hatte andauernd Krämpfe. Bestimmt dreißig Mal waren wir schon mit ihm im | |
Krankenhaus.“ | |
Wenn Flüchtlingseltern in einer solchen Situation ihre Kinder nicht zur | |
Schule schicken, kann man ihnen das nicht unbedingt zum Vorwurf machen, | |
sagt Flüchtlingsrat-Geschäftsführer Prölß: „Man muss individuell prüfen… | |
ein ‚böser Wille‘ vorliegt, oder ob die Gründe vielleicht in psychischen | |
Problemen liegen, weil die Eltern überfordert oder orientierungslos sind | |
oder an der Perspektivlosigkeit ihrer Situation verzweifeln.“ | |
## Post vom Schulamt | |
Vor ein paar Tagen kam ein Schreiben vom Schulamt. Lolo holt den Brief aus | |
einem Ordner, in dem er alle Dokumente der Familie säuberlich in | |
Klarsichtfolien geordnet hat. Er bittet seinen deutschen Gast darum, den | |
Brief zu lesen und zu erklären. Keiner in der Familie kann genug Deutsch, | |
um die Behördensprache zu verstehen. In dem Brief steht, dass Elvis | |
schulpflichtig aber bislang an keiner Schule angemeldet ist. Die Eltern | |
werden aufgefordert zum Amt zu kommen, um zu besprechen wie es weiter gehen | |
soll mit Elvis. Lolo rückt näher an seinen Vater heran und hebt die Stimme, | |
um zu übersetzen. Zumber Selimovic knetet mit den Händen aufgeregt seine | |
Knie und schaut seinen Sohn fragend an. Es dauert ein paar Sekunden, bis | |
der Vater begreift, dass dieser Brief vom Amt nichts Schlimmes verheißt. | |
„Ich kümmere mich drum, ich rufe da an“, sagt Lolo. Der Vater nickt | |
erleichtert. | |
Kurz bevor die Sonne untergeht, macht Lolo seinen abendlichen Rundgang | |
durch die „Siedlung“. Die Nachbarin faltet ihre steif gewordene Wäsche | |
zusammen, am Grillplatz neben den Mülleimern lümmelt sich ein gutes Dutzend | |
Kinder und Jugendliche. Fast alle gehen inzwischen in Kindergarten oder | |
Schule – oder in das Kölner Roma-Vorschulprojekt „Amaro Kher“, das sie a… | |
die Schule vorbereiten soll. „Ich wäre sehr froh, wenn mein Bruder auch zur | |
Schule geht“, sagt Lolo. Die Idee, dass sich jemand um Elvis‘ Zukunft | |
Gedanken macht und er etwas lernen soll, gefällt ihm. „Ich wäre auch gerne | |
zur Schule gegangen. Dann hätt‘ ich es jetzt einfacher.“ | |
15 Nov 2006 | |
## AUTOREN | |
SUSANNE GANNOTT | |
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