# taz.de -- Wo bleibt der Abgrund im lesbischen Alltag? | |
> ■ Dreizehn authentische, „unspektakuläre“ Lebensgeschichten stellt d… | |
> Band „Lesbisch Leben in Deutschland“ vor | |
Unauffällig, in Jeans und Pullover und kurzem Haarschnitt, sieht sie aus, | |
wie viele der jungen Frauen, die in den vergangenen Jahren in Berlin und | |
anderswo Häuser besetzten und politisch aktiv waren. Nichts signalisiert in | |
ihrem Äußeren, was in ihrem Inneren vor sich geht und was für Interessen | |
sie hat. Nichts verrät ihre Neigung zur Kunst und zur Selbstreflexion...“ | |
Auf dem Regal von Reni R., 22, liegen Bücher, die die Autorin der oberen | |
Zeilen niemals bei einer so jungen Frau vermutet hätte: „Die Blumen des | |
Bösen“ von Charles Baudelaire, das Buch über Selbstmord von Jean Amery und | |
eine „Gebrauchsanweisung zum Selbstmord“ von Claude Guillon und Yves le | |
Boniec. Spannung. Wer ist Reni R.? Was bedeuten die „Blumen des Bösen“? | |
Krimi? Nein, Sachbuch. Reni R., 22, ist lesbisch. Diese Eigenschaft macht | |
sie zum Objekt der Betrachtung einer neugierigen Frau, die sich schon in | |
mehreren Werken durch die lesbische Kultur heutiger und vergangener Tage | |
gefressen hat. Ihr Name ist Ilse K., 43, sie ist ebenfalls lesbisch und auf | |
ihrem Regal liegen Bücher, die wir bei ihr allerdings mit Sicherheit | |
vermutet hätten, denn sie hat sie selbst geschrieben: „Der Kampf gegen | |
Unterdrückung. Materialien aus der deutschen Lesbierinnenbewegung“ (unter | |
dem Pseudonym Ina Kuckuck), „Weibliche Homosexualität um 1900 in | |
zeitgenössischen Dokumenten“ und „Formen lesbischer Subkultur“. Im Regal, | |
steht nun auch „Wir leiden nicht mehr, sondern sind gelitten. Lesbisch | |
leben in Deutschland“. Nicht nur Reni R., 22, kommt zu Wort. Neben ihr | |
dürfen zwölf weitere Frauen ihre Lebensgeschichte erzählen. Laut | |
Verlags–PR–Text sprechen diese Frauen „über ihren Weg der Selbstfindung, | |
über Beziehungen, Schwierigkeiten am Arbeitsplatz und in der Öffentlichkeit | |
- immer noch -, über ihre Kinder, über Treue und Vertrauen, über das Leben | |
im Alter.“ Jede Frau, die Lesben kennt, kennt auch diese Stories über | |
Selbstfindung, über Beziehungen, Schwierigkeiten am Arbeitsplatz etc. usw. | |
s.o. Warum also dieses Buch? Der Verlag gibt keine Antwort. Etwas mehr | |
erfahre ich bei der Autorin selbst: „Ich hatte nicht die Absicht, | |
Spektakuläres aufzuzeigen. Ich wollte dagegen das Spezifische an lesbischen | |
Frauen sichtbar werden lassen. Ein Teil der Identität lesbischer Frauen ist | |
ihre spezifische sexuelle Orientierung, aber das Denken und Fühlen | |
lesbischer Frauen kreist nicht permanent um diese sexuelle Identität.“ | |
(Schade oder nicht schade?) Auf 200 Seiten läßt Ilse Kokula also das | |
Spezifische an lesbischen Frauen sichtbar werden. Die Abgründigkeit des | |
Themas liegt genau darin, die Alltäglichkeiten und Probleme aufzuzeigen, | |
mit denen sich Lesben herumschlagen müssen. Kokula: „Während einer Party | |
erzählte sie einmal die Geschichte ihres Kegelclubs. Ich fand sie span nend | |
und bat Rosemarie K., sie nochmals für dieses Buch zu erzählen.“ Guter | |
Einfall. Aber was erzählt nun Rosemarie K. für einen langweiligen Unsinn | |
von Strümpfe stricken, „Joes Bierhaus“ und ähnlichem Zeug? Es gibt doch | |
viel bessere Horror–Geschichten aus der Hetero–Szene. Kokulas Maxime heißt | |
eben: „Nichts Spektakuläres.“ „Klara P. ist nun seit zwei Jahren Rentner… | |
Ihre Liebe gilt den Tieren, die die Wohnung mit ihr teilen: Muckchen, das | |
Kaninchen, das alles anknabbert, wenn nicht aufgepaßt wird, die drei | |
Schildkröten und die Kanarienvögel.“ Die Frage, die sich in diesem | |
Zusammenhang einfach aufdrängt, heißt: Nach welcher berühmten Lesbe wurde | |
das Kaninchen benannt? Denn irgendwo muß doch der politische Anspruch von | |
Frau Kokula seinen Ausdruck finden. Aber nein. Dies ist ganz und gar eine | |
kleine Galerie lesbischer Persönlichkeiten von Hier und Heute. Allein der | |
Blick über die Mauer in die DDR hin zu Hanne F., 32, und Mary L., 38, macht | |
Lust - und zwar auf Ost–Berlin. Diese Lesben da drüben haben wirklich noch | |
etwas zu erzählen, das spannend ist, und das Interesse weckt. Aber auch | |
diese guten Passagen bleiben in der Wirkung blaß. Es fehlt der Impuls, der | |
zu einer kritischen Weiterverarbeitung führt, der hilft, sich der eigenen | |
spezifischen, lesbischen Situation bewußter zu werden. Kokula reiht die | |
Geschichten der einzelnen Interviewpartnerinnen kritiklos aneinander und | |
führt die Damen lediglich kurz mit eigenen Worten ein: „Rosemarie K. gehört | |
zu den Frauen, die Zuverlässigkeit, Lebensklugheit und Pragmatismus | |
ausstrahlen. Ihr gegenüber hat man das Gefühl, man könne sie nicht | |
anschwindeln, sie würde es sofort merken.“ Na, denn. Wer Rosemarie K. | |
kennenlernen möchte, und wen auch sonst interessiert, wie verschieden (alt) | |
lesbische Frauen sein können, für die ist Kokulas jüngste Publikation | |
sicher eine ansprechende Lektüre. Susanne Matthiessen Ilse Kokula: „Wir | |
leiden nicht mehr, sondern sind gelitten. Lesbisch Leben in Deutschland“. | |
Verlag Kiepenheuer & Witsch. 18.80 DM. | |
25 May 1987 | |
## AUTOREN | |
Susanne Matthiessen | |
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