| # taz.de -- Wir waren dabei. Mehr nicht | |
| > Am 9. November 1989 öffnen die Bürger der DDR die Berliner Mauer. Dann | |
| > verkommt die Revolution schnell zur „Wende“. Alles Flausen, was 1989 für | |
| > die Besserung des Weltzustandes gedacht wurde? | |
| Wo warst du am 9. November 1989, als die Berliner Mauer fiel? Jedem, der | |
| dabei war, fällt bei diesem Gesellschaftsspiel eine gute Geschichte ein. | |
| Und wie immer, so gilt auch hier: Selbst wenn nicht wahr, so doch gut | |
| erfunden. Die große weltgeschichtliche Umwälzung von 1989, die „Große | |
| Erzählung“, überkreuzt sich mit den vielen kleinen Erzählungen. Ob auf der | |
| Straße oder ängstlich hinter der Gardine – wir, die ZeitgenossInnen von | |
| damals, können heute sagen: Wir sind dabei gewesen. | |
| Das war’s aber auch schon. Die großen Ereignisse des Jahres 1989 haben in | |
| Deutschland das historische Bewusstsein nicht umgepflügt. Zu Ende des | |
| Jahres 1989 war für die öffentliche Meinung in den beiden deutschen Staaten | |
| noch klar, dass in der DDR etwas Unerhörtes geschehen war, eine | |
| demokratische Revolution, noch dazu keine steckengebliebene wie die von | |
| 1848 oder von 1918, deren Niederlage von vorneherein besiegelt war. | |
| Auch als bei den Leipziger Montagsdemonstrationen des Herbsts 1989 sich der | |
| entscheidende Parolenwechsel von „Wir sind das Volk“ zu „Wir sind ein Vol… | |
| vollzog, hofften die DDR-Revolutionäre doch, im dann anlaufenden Prozess | |
| der Einigung auf gleicher Augenhöhe mit der Bundesrepublik verhandeln zu | |
| können und ein eigenständiges Gut einzubringen, eben die geglückte | |
| demokratische Revolution. | |
| Für den Fehlschlag dieser Hoffnung ist kein Ereignis kennzeichnender als | |
| der vergebliche Versuch, eine gemeinsame Verfassung für die zukünftig | |
| vereinte Republik zu erarbeiten. Das Unternehmen, durchgeführt von | |
| demokratischen Oppositionellen der DDR und einer Reihe westdeutscher | |
| Staatsrechtler, mündete in einem Verfassungstext, der zwei Grundelemente | |
| der demokratischen Opposition in den realsozialistischen Ländern | |
| Ostmitteleuropas und der DDR aufnahm: die Einarbeitung der | |
| Bürgergesellschaft, der „Civil Society“, als eigenständiger Akteur | |
| gegenüber der Staatsmacht und der umfassende Bezug auf die Menschenrechte – | |
| und nicht nur auf die Grundrechte der Deutschen. „Jeder schuldet Jedem die | |
| Anerkennung als Gleicher“, wie es im Entwurf des Verfassungstextes hieß. | |
| Als Ursache für diesen Fehlschlag ist oft benannt worden, dass die | |
| übergroße Mehrheit der DDR-Bevölkerung den „Anschluss“ ohne Wenn und Aber | |
| einklagte. Sie sah in der Bundesrepublik die Antwort auf eine doppelte | |
| Forderung: die nach rascher Verbesserung ihrer materiellen | |
| Lebensbedingungen und die nach Einführung eines demokratischen | |
| Rechtsstaats. Zweifellos war die Forderung nach der Währungseinheit, die | |
| der politischen Einheit präludierte und die wider alle ökonomische Vernunft | |
| 1990 beschlossen wurde, von den Einwohnern der DDR gewünscht. Die ultimativ | |
| vorgebrachte Losung lautete: Entweder die D-Mark kommt zu uns oder wir | |
| kommen zur D-Mark. | |
| Aber rechtfertigt dieser historische Befund die Dampfwalz-Methode, mit der | |
| alles, was in 40 Jahren DDR entwickelt worden war, plattgedrückt wurde? | |
| Einschließlich des Stolzes der DDR-Bürger auf ihre Revolution, die rasch | |
| zur „Wende“ verkam? | |
| Kein Theoretiker hat eindringlicher als Jürgen Habermas schon 1990 das | |
| Schicksal der demokratischen Revolution in der DDR und in Ostmitteleuropa | |
| beschrieben. Er erkannte in ihr eine „rückspulende Revolution, die den Weg | |
| freimacht, um versäumte Entwicklungen nachzuholen“. Es artikuliert sich der | |
| Wunsch, an das Erbe der bürgerlichen Revolutionen und | |
| gesellschaftspolitisch an die Verkehrs- und Lebensformen des entwickelten | |
| Kapitalismus, insbesondere an die EG, Anschluss zu finden. Für Habermas war | |
| augenfällig, dass die demokratischen Revolutionen in der DDR und in | |
| Ostmitteleuropa durch einen „fast vollständigen Mangel an innovativen, | |
| zukunftsweisenden Ideen“ gekennzeichnet waren. | |
| Dagegen wurde später, zum Beispiel von dem Historiker Timothy Garton Ash, | |
| eingewandt, das Neue an den Revolutionen von 1989 liege nicht so sehr in | |
| deren Zielen, sondern in den praktizierten Methoden. Grundlegend sei deren | |
| durchgehalten gewaltfreier Charakter gewesen, die Mischung aus | |
| Massenaktionen des zivilen Ungehorsams und der Bereitschaft, in | |
| Verhandlungen mit der Staatsmacht Kompromisse einzugehen und den | |
| Realsozialisten einen gangbaren Ausweg zu zeigen. So richtig diese Analyse | |
| ist, sie vergisst doch, wie genau Mittel und Ziele zusammenhängen. Im Fall | |
| der polnischen Solidarność beispielsweise, wo erstmals 1980/81 die | |
| Strategie der „sich selbst begrenzenden“ Revolution angewandt wurde, | |
| beschloss die Gewerkschaft gleichzeitig als Ziel die „sich selbst | |
| verwaltende“ Republik, mit der Arbeiterselbstverwaltung in den Betrieben | |
| als Kernstück. Nach 1990 wurde diese Programmatik als pure Taktik gegenüber | |
| den realsozialistischen Machthabern bezeichnet, und dies gerade von einer | |
| Reihe von Intellektuellen, die sich zur Zeit der legalen Solidarność | |
| 1980/81 dem Solidarność-Programm verschrieben hatten. Jetzt, nach 1990, | |
| galt nur noch die Minimalposition „Kapitalismus mit menschlichem Antlitz“. | |
| Zweifellos waren die Ideen eines „Dritten Weges“ zwischen Kapitalismus und | |
| realem Sozialismus 1989 diskreditiert, nicht zuletzt wegen der tiefen | |
| ökonomischen Krise im sowjetischen Hegemonialbereich. Aber war Ende 1989 | |
| plötzlich jeder Gedanke an die Arbeiterselbstbestimmung weggefegt? Hatte | |
| sich der ungarische Theoretiker Ferenc Fehér nur schlicht geirrt, als er | |
| prognostizierte, jeder Versuch der Privatisierung von Staatsbetrieben hätte | |
| mit dem Widerstand der ArbeiterInnen zu rechnen? Die Einförmigkeit, mit der | |
| über den „Dritten Weg“ das historische Urteil verkündet wird, stimmt | |
| bedenklich. Sie hat den strengen Geruch einer Propagandaformel, mit der | |
| jede Alternative zum Kapitalismus als erledigt abgetan werden soll. | |
| II | |
| Wer die weltweiten Kriege und Bürgerkriege der letzten 20 Jahre, wer den | |
| Ausbruch nationalistischer Leidenschaften auch in Europa selbst miterlebt | |
| hat, der kann es kaum noch nachvollziehen, welche heißen Hoffnungen das | |
| Jahr 1989 begleiteten. Mit dem Ende der ost-westlichen Systemkonfrontation | |
| und des Kalten Krieges sah man auch das Ende der Militärblöcke | |
| heraufziehen. Schluss mit Nato und Warschauer Pakt. An deren Stelle sollte | |
| in Europa ein System umfassender Kooperation treten. Wie auch global ein | |
| Zeitalter des Friedens avisiert wurde, mit den Vereinten Nationen als | |
| effektiver Friedensmacht. Die Schrift eines Königsberger Philosophen war | |
| plötzlich en vogue. Deren Titel nahm den Namen einer Kneipe in der Nähe des | |
| heimatlichen Friedhofs ironisch auf: „Zum ewigen Frieden“. Immanuel Kant, | |
| der Verfasser der Schrift, war kein Utopist. Er glaubte, auch eine Welt | |
| voller Teufel, sofern sie nur rationalen Argumenten aufgeschlossen wäre, | |
| würde aus wohlverstandenem Eigeninteresse seine Vorschläge zur | |
| Friedenssicherung aufnehmen. Auch die Friedensfreunde des Jahres 1989 | |
| machten realistische Vorschläge. Jetzt, wo die Blockade durch die | |
| Konkurrenz zweier Supermächte, der USA und der Sowjetunion, beseitigt war, | |
| sahen sie die Chance, die einvernehmliche Bearbeitung der globalen Probleme | |
| in Angriff zu nehmen: Stärkung der UNO-Institutionen, Errichtung | |
| internationaler Regime im Bereich des Umweltschutzes und der | |
| Ressourcenschonung, eine neue, gerechtere Ordnung der internationalen | |
| Wirtschaftsbeziehungen, effektive internationale Institutionen für den | |
| Schutz der Menschenrechte. All diese Reformen entsprächen den Interessen | |
| jedes Mitglieds der Staatengemeinschaft. Auf das Jahr der Hoffnung 1989 | |
| folgten die Jahre der Bitternis. Konflikte, die zur Zeit des Kalten Krieges | |
| von den Supermächten unter Kontrolle gehalten worden waren, brachen jetzt | |
| aus. Statt der Herrschaft des Rechts in den internationalen Beziehungen der | |
| Rekurs auf militärische Gewalt, statt des Multilateralismus | |
| gleichberechtigter Staaten der Unilateralismus der USA als führender | |
| Militärmacht. Statt Entschärfung von Krisen der vorsorgliche Militärschlag, | |
| der „preemptive strike“. Das Freiheitspathos des Jahres 1989 wurde jetzt | |
| von Präsident George W. Bush in den Dienst einer verlogenen Propaganda im | |
| „Krieg gegen den Terrorismus“ gestellt. | |
| Alles Flausen, was 1989 für die Besserung des Weltzustandes gedacht wurde? | |
| So sehen es die Anhänger der „realistischen Schule“ in den | |
| Staatenbeziehungen. Hier, meinen sie, gilt nur der Naturzustand, das | |
| Wolfsgesetz. Aber erfreulicherweise wird diese Einladung zum Zynismus nicht | |
| überall begeistert aufgenommen. Das Beispiel des langen, letztlich | |
| erfolgreichen Kampfs um die Errichtung eines internationalen | |
| Strafgerichtshofs zeigt, dass die Ideen von 1989 nicht allesamt mausetot | |
| sind. Baltasar Gracián, ein spanischer Jesuit des 17. Jahrhunderts, hat uns | |
| eine Anleitung zur Weltklugheit hinterlassen. In ihr schlägt er vor, das | |
| Wort Enttäuschung auseinanderzuschreiben: Ent-Täuschung. Getäuscht haben | |
| sich die Protagonisten des Jahres 1989 hinsichtlich der Mühen des Weges. | |
| Hinsichtlich ihres Ziels brauchen sie sich nicht zu ent-täuschen. | |
| CHRISTIAN SEMLER, 69, taz-Autor, damals Osteuropa-Redakteur, setzte sich im | |
| Jahresverlauf 1989 nach Berlin in Bewegung, um nichts zu verpassen. | |
| 27 Sep 2008 | |
| ## AUTOREN | |
| CHRISTIAN SEMLER | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA |