# taz.de -- Wiederaufbau nach dem Erdbeben in Haiti: "Man hat uns vergessen" | |
> 300.000 Menschen sind beim Erdbeben in Haiti gestorben, Millionen wurden | |
> obdachlos. Port-au-Prince gleicht noch immer einem riesigen Notlager. Wie | |
> geht der Wiederaufbau voran? | |
Bild: 24 Mai 2010: Eine Frau betet vor der zerstörten Notre-Dame-Sept-Douleurs… | |
PORT AU PRINCE taz | Aus der Luft sieht die haitianische Hauptstadt aus wie | |
eine riesige Flickendecke. Blau schimmernde Vierecke wechseln sich mit | |
rötlich rostbraunen und weißen ab, die in der prallen Sonne aufblitzen. Der | |
Blick von oben auf scheinbar wohlgeordnete geometrische Formen, auf | |
Rechtecke, Rauten und Dreiecke, täuscht darüber hinweg, wie sich die | |
Wirklichkeit auf dem Boden darstellt. | |
Auch mehr als vier Monate nach dem Beben vom 12. Januar stehen blaue, weiße | |
und rostbraune Zelte kreuz und quer im gesamten Stadtgebiet, um mehr als | |
einer Million Obdachlosen Unterkunft zu geben. Port-au-Prince gleicht noch | |
immer nach der Landung auf dem Flugfeld des Aéroport International | |
Toussaint Louverture einem riesigen Notlager. | |
Weite Teile des Hauptgebäudes des Flughafens sind wegen Einsturzgefahr | |
nicht nutzbar. Die Flugleitung ist nach wie vor provisorisch in der Nähe | |
der Landebahn eingerichtet. Auf der Rasenfläche im Westen stehen Dutzende | |
von Zelten für die US-amerikanischen Truppen, die das Areal schützen | |
sollen. Keine zwanzig Meter entfernt und nur durch eine kaum zwei Meter | |
hohe Mauer getrennt beginnt die Katastrophenatmosphäre, die die | |
3-Millionen-Metropole Port-au-Prince seit dem schweren Beben dominiert. | |
Stephanie Guilleaume lugt halbversteckt hinter der Eingangsplane ihres | |
kleinen Zeltes auf dem Gelände hervor, das von einem stinkenden | |
Abwasserkanal umflossen wird. Fünf Personen - Stephanie, ihre Schwester, | |
ihre Mutter, eine Cousine und die fünf Jahre alte Johanna Joseph, eine | |
Waise, die die Familie aufgenommen hat - drängen sich auf den knapp zehn | |
Quadratmetern. "Man hat uns vergessen", sagt die 17-jährige Schülerin mit | |
dem zusammengeknoteten orangefarbenen Kopftuch. "Die Behörden wollen uns | |
weghaben, aber niemand sagt uns, wo wir hin sollen." | |
Fünf Kilometer weiter südlich, über dem Zentrum der haitianischen Kapitale, | |
liegt gräulicher Staub in der Luft, der den Blick durch die Straßen | |
vernebelt. Lautsprecher mit ihren überdrehten Bässen schicken Kompa- und | |
Raprhythmen aus den bunt bemalten und laut hupenden Tap-Tap-Bussen in die | |
Umgebung. Den Takt dazu schlagen die haitianischen Betonspechte, die sich | |
von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang daran machen, die in sich | |
zusammengestürzten Gebäude in der Innenstadt zu pulverisieren bis nur noch | |
die Moniereisenskelette übrig sind. | |
Margerita Laguere hat in der Rue des Miracles ihren fliegenden | |
Alteisenankauf errichtet. Die Hängewaage bedient einer ihrer Arbeiter. | |
Kritisch beobachtet Luisel Jean den sich bei 29,5 Kilogramm einpendelnden | |
Zeiger. Der 32 Jahre alte Mann hat den ganzen Tag dafür gearbeitet, um zwei | |
Säcke mit Schrott von den Trümmergrundstücken einzusammeln. Für die | |
insgesamt 61 Kilo bekommt er 200 Gourdes. "Ein gutes Geschäft", freut sich | |
Margerita Laguere, die das Alteisen an einen Großhändler am Hafen verkauft, | |
der es in die Schmelzen in den USA transportieren lässt. Und auch Jean ist | |
mit seinen knapp vier Euro zufrieden, "damit komme ich einen Tag aus", sagt | |
der Familienvater von vier Kindern. | |
Betonspechte wie Jean François Frantz und seine sechs Kollegen, die in der | |
Rue Turgeau 108 mit Vorschlaghammer, Bolzenschneider und Schaufeln für 800 | |
Euro in drei Wochen das zweigeschossige Haus zerlegen und abtragen sollen, | |
dominieren das Bild in der Metropole. In Stadtteilen wie Nazón, Bel Air und | |
Morne a Tuf, in denen die kleinen Leute der Stadt wohnen, ist Handarbeit | |
angesagt, regieren Fäustel das Aufräumprogramm. "Wenn es so weitergeht", | |
kommentiert ein Spötter, "dann wird das Abrissprogramm noch Jahre in | |
Anspruch nehmen." | |
Millionen für den Palast | |
Welche Prioritäten beim Wiederaufbau der Erdbebenregion dagegen die | |
haitianische Regierung und Staatspräsident Réne Préval setzen, sieht man am | |
eingestürzten Präsidentenpalast. Schweres Räumgerät wird nur bei den | |
Ministerien und öffentlichen Einrichtungen eingesetzt - und bei | |
Privatleuten, die über das nötige Kleingeld und die Verbindungen verfügen, | |
um die Bagger mieten zu können. Der dem Washingtoner Capitol nachempfundene | |
weiße Prachtbau soll nach dem Willen Prévals schon bald wieder im alten | |
Glanz der Amtssitz des Staatschefs sein. 120 Millionen Euro soll das | |
zwischen 1914 und 1921 gebaute Herrschaftsmonument kosten. 41 Millionen | |
davon möchte Frankreich seiner ehemaligen Kolonie Haiti stiften. | |
In der Provinz sieht der Besucher jedoch die Fortschritte, die erreicht | |
werden konnten - durch eine aktive Stadtverwaltung und mithilfe | |
ausländischer Nichtregierungsorganisationen. In Jacmel wimmelt es von | |
Helfern, die Abwassergräben säubern, Abfall auf Lastwagen schaufeln und vor | |
allem Trümmer beiseite räumen. Das einstige Ferienzentrum und der | |
Kaffeehafen in der Karibik mit seinen zweigeschössigen Kolonialbauten mit | |
den hohen Arkaden ist weitgehend zerstört. Von der pittoresken "Perle der | |
Karibik", die mit ihrem Karneval kulturelle Akzente in der Region setzte, | |
ist wenig übrig geblieben. | |
Aber es wurden die Ärmel aufgekrempelt: Gelbe Bauhelme und hellgrüne | |
T-Shirts mit dem Logo der Deutschen Welthungerhilfe tragen die einen, | |
dunkel-grüne Shirts mit der Stadtaufschrift und dem Symbol der | |
US-amerikanischen staatlichen Hilfsorganisation USAID andere, die mit | |
Schaufeln, Mistgabeln und Schubkarren dem Schutt zu Leibe rücken. Fast | |
2.000 Männer und Frauen werden mit dem staatlichen Tagesmindestlohn von 200 | |
Gourdes, rund vier Euro, dafür bezahlt, dass sie eingestürzte Häuser | |
abreißen, brauchbare Steine vom Zement säubern und die Trümmer beseitigen. | |
"Cash for Work" heißt das Beschäftigungsprogramm, das den Beteiligten Geld | |
verschaffen und damit indirekt die lokale Wirtschaft ankurbeln soll. | |
"Mit dem Beschäftigungsprogramm garantieren wir den Betroffenen ein | |
minimales Einkommen. Damit können sie Lebensmittel und andere Bedarfsgüter | |
selbst kaufen", betont Rüdiger Ehrler, der Koordinator der Welthungerhilfe | |
für die Nothilfe in Haiti. Die Stärkung der Kaufkraft helfe der | |
Normalisierung des Wirtschaftslebens in der Region. "Wir sind froh, dass | |
wir die Hilfe aus dem Ausland bekommen. Wir könnten das nicht finanzieren", | |
sagt der Sprecher des Bürgermeisters, Frantz Pierre-Louis. "Wir | |
koordinieren gemeinsam wo, wann und was abgerissen wird." | |
Zwei Tage für ein Haus | |
Elisabeth Pierre ist eine der Trümmerfrauen. Zwei Wochen arbeitet die | |
53-jährige Mutter von drei Kindern in dem Programm. Der Mann der | |
Obdachlosen kam bei dem Erdbeben ums Leben. Pierre ist eine von 20 | |
Personen, die einen Bautrupp bilden und innerhalb von zwei, drei Tagen ein | |
Haus abreißen. Auf der Freifläche wird ein Zelt errichtet, damit dort dann | |
die Besitzerfamilie provisorisch wohnen kann. Zwar gibt es internationale | |
Standards für erdbebensichere Unterkünfte, aber die Bau- und | |
Konstruktionspläne müssen noch auf die regionalen Gegebenheiten und | |
Erfordernisse in Haiti angepasst werden. | |
In einem Hinterhofkarree an der Rue de la Comédie sitzt auf einem | |
Treppenabsatz Doudline Casimir. Die zweifache Mutter schaut auf die Reste | |
ihres Besitzes, zwei bereits angeschimmelte zerrissene Matratzen, | |
zerbrochenes Geschirr, zerrissene Kleidung und Steine, Steine. Die | |
24-Jährige schlief, als bei dem Beben das Dach einstürzte. Sie konnte sich | |
retten, obwohl sie verletzt war. Ihre beiden vier- und zehnjährigen Kinder | |
und ihre beiden Geschwister gruben Nachbarn unverletzt aus den Trümmern | |
aus. Sie selbst wurde am Kopf und am Arm verletzt, die Narben sind noch | |
immer sichtbar. Ihr Mann, der bei einer Behörde in Port-au-Prince | |
arbeitete, wurde von einem einstürzenden Gebäude erschlagen. | |
Zwei Wochen hat Doudline Casimir Trümmer weggeräumt, jetzt ist die junge | |
Frau selbst Nutznießerin der bezahlten Nachbarschaftshilfe. 15 Männer und | |
Frauen sind dabei, die sechs mal vier Meter große Fläche ihrer ehemaligen | |
Unterkunft leerzuräumen. Aber wie soll es weitergehen, fragt sie immer | |
wieder. Gelernt hat die junge Frau nichts, sie ist pleite und noch viel | |
schlimmer: inzwischen bis über beide Ohren verschuldet. In der nahe | |
gelegenen kleinen Bude an der Komödienstraße kann sie anschreiben lassen, | |
wenn sie Reis, Bohnen, Öl und Gemüse für das Mittagessen einkauft. "Aber | |
für zehn Tage bezahle ich zehn Prozent Zinsen." | |
Anschreiben beim Händler | |
Wer jetzt etwas Geld hat und es verleihen kann, verdient sich in Haiti eine | |
goldene Nase. Oft sind es die kleinen Händlerinnen und Händler wie Alphone | |
Paris, die an der Straßenecke Obst, Gemüse und Kräuter verkaufen, die | |
anschreiben, damit ihre Kunden ihr überhaupt etwas abkaufen, und die sich | |
selbst dafür bei ihrem Großhändler verschulden müssen. Und so ist das Geld, | |
das die Hilfsorganisationen an die Teilnehmer des | |
"Geld-für-Arbeit-Programms" auszahlen, für viele Familien das einzige | |
Einkommen, aber oft auch nur ein Tropfen auf dem heißen Stein der | |
Familienkasse. | |
In Petit-Goâve, rund 85 Kilometer nördlich von Jacmel und 70 Kilometer von | |
Port-au-Prince gelegen, ist auf vielen Mauern im Stadtzentrum ein roter | |
Kreis mit einem Punkt gesprüht: "A Demolir". In der Grand Rue trägt fast | |
jedes Haus, das noch nicht in sich zusammengebrochen ist, das Kainsmal der | |
angekündigten endgültigen Zerstörung. Die ehemals quirlige Hauptstraße der | |
Hafenstadt liegt auch am Nachmittag wie ausgestorben da. Ziegen haben es | |
sich auf der schattigen Arkade der "Pharmaci du Peuple" bequem gemacht, die | |
Eingangstüren sind notdürftig mit Brettern und Ketten verrammelt. | |
Auch in Petit-Goâve, das in der Nähe des Epizentrums vom 12. Januar liegt, | |
beschränken sich die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen aufs "Demolieren". Die | |
Glücklichsten leben inzwischen auf ihrem freigeräumten Grundstück und | |
hoffen darauf, dass endlich Beschlüsse im fernen Port-au-Prince fallen. | |
"Wir warten auf eine Entscheidung der Regierung", schimpft Marie Ilamise, | |
die in einer der einsturzgefährdeten Ruinen lebt, "aber niemand beschließt | |
etwas." | |
30 May 2010 | |
## AUTOREN | |
Hans-Ulrich Dillmann | |
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