# taz.de -- Wie es ist, mehrere Menschen zu lieben: Du und ich und ich und er | |
> Sie lieben nicht einen Partner, sondern führen mehrere Beziehungen | |
> gleichzeitig - mit Wissen und Einverständnis aller Beteiligten. Macht | |
> Polyamory glücklich? | |
Bild: Ein Bräutigam mehr wäre für den Konditor kein Problem. Für die polyam… | |
Karins zweiter Ehering hängt an einer Kette um ihren Hals. Den anderen, den | |
"richtigen", trägt sie am Ringfinger. So wie es verheiratete Paare eben | |
tun. "Leider", sagt die 47-jährige. "Leider darf man sich in Deutschland ja | |
nicht mit mehreren Partnern verheiraten." Rainer, ihr Ehemann, sitzt am | |
anderen Ende der roten Couch und nickt grinsend. Der 53-Jährige hat | |
"zwischen zwei und fünf Beziehungen, je nachdem, wie man es sieht" neben | |
Karin. Seit 20 Jahren sind die beiden ein Paar und seit neun Jahren | |
verheiratet. Seit etwa fünf Jahren nennen sie sich "polyamor" oder einfach | |
nur "poly". | |
Polyamory, zusammengesetzt aus dem griechischen Wort "poly" (viel, mehrere) | |
und dem lateinischen Wort für Liebe, "ist ein Oberbegriff für die Praxis, | |
Liebesbeziehungen zu mehr als einem Menschen zur gleichen Zeit zu haben, | |
mit vollem Wissen und Einverständnis aller beteiligten Partner". So steht | |
es im Internetlexikon Wikipedia geschrieben. Die erste Version des Eintrags | |
stammt aus dem Jahr 2004. Seitdem wurde er mehrere Male verändert und | |
ausgebaut, sodass der Besucher mittlerweile einen gewaltigen Eintrag von | |
knapp 60.000 Zeichen vorfindet (zum Vergleich: der Artikel über | |
Homosexualität ist mit 70.000 Zeichen nur unwesentlich länger). | |
Karins und Rainers Leben ist geprägt von den Ausläufern sexueller | |
Befreiung. Sie verbrachten ihre Studentenzeit in Seminaren über Wilhelm | |
Reich und diskutierten über alternative Lebensformen. Nach und nach | |
begannen sie schließlich, abseits vom sozialen Mainstream mit seiner | |
Kleinfamilie und gelegentlichen Seitensprüngen, ihr Leben so zu gestalten, | |
wie es ihren Bedürfnissen am ehesten entsprach: keine Monogamie, sexuelle | |
wie emotionale Freiheit, dabei absolute Ehrlichkeit. Sie leben ein sehr | |
offenes Beziehungskonzept, für das es seit kurzem auch einen eigenen Namen | |
gibt. Alles nicht so neu eigentlich. Klingt nach 70ern, freier Liebe und | |
Swingerclub. Aber davon distanzieren sich sowohl Rainer und Karin als auch | |
die Polyamoren insgesamt. Im Gegensatz zur "offenen Beziehung" oder dem | |
Konzept der freien Liebe, bei der die Nichtausschließlichkeit im sexuellen | |
Bereich liegt, geht es ihnen um Liebesbeziehungen mit mehreren Menschen. | |
Sex ist dabei natürlich nicht ausgeschlossen, aber eher natürliche Folge | |
als Ursache einer emotionalen Zuneigung. Die Polyamoren sammeln sich in | |
Internetforen wie [1][polyamory.ch] und [2][polyamory.de], schreiben Blogs | |
und treffen sich in fast jeder größeren Stadt zu einem "Poly-Stammtisch", | |
um ihre Erfahrungen auszutauschen und sich gegenseitig Tipps zu geben. | |
Bücher wie "Frühstück zu dritt" fungieren als Standardwerke - darin kommen | |
zahlreiche Polyamore zu Wort, darunter auch Rainer. | |
Auch das Klischee, wonach Polyamory nur etwas für ältere Paare sei, die ein | |
bisschen Schwung in die angestaubte Beziehung bringen wollen, ist so nicht | |
richtig: "Ich frage mich, was ich getan hätte, wenn ich nicht über dieses | |
Wort gestolpert wäre", sagt Julia. Die 26-Jährige führt seit Anfang des | |
Jahres eine Beziehung zu zwei Männern. "Das war eine Befreiung. Mir wurde | |
klar: Da gibt es Leute wie ich. Das ist keine verrückte Idee." Seit ein | |
paar Monaten schreibt sie in ihrem Blog [3][polyamor.blog.de] über die | |
alltäglichen Gedanken einer jungen, polyamoren Frau. Hier zitiert sie den | |
Dichter Rainer Maria Rilke: "Je mehr Liebe man gibt, desto mehr besitzt man | |
davon." Klingt schön, klingt einfach. Ist es aber nicht. | |
"Gelebte Polyamory ist harte Arbeit", sagt Martin "Jay", 35 und Betreiber | |
der Webseite [4][polyamor.de]. "Eine solche Lebensweise erfordert | |
hundertprozentige Ehrlichkeit und ständige Kommunikation untereinander." | |
Jeder Zweifel, jede Verletzung und Regung von Eifersucht muss thematisiert | |
werden. Martin befindet sich in seiner zweiten polyamoren Beziehung. Seine | |
Freundin lebt in Hamburg, die wiederum hat neben Martin noch einen Freund | |
in Paris. Schwul sei er nicht, aber er habe keine Berührungsängste, wie er | |
sagt. Polyamory muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass alle drei - oder | |
mehr - Partner jeweils Beziehungen untereinander führen. Wichtig ist nur, | |
dass kein Partner hintergangen wird. Ehrlichkeit und absolute | |
Gleichberechtigung sind die Säulen einer solchen Beziehung. Der Kampf gegen | |
das Gefühl der Eifersucht ein ständiger Begleiter: "Unsere Kultur ist | |
durchzogen vom Ideal der monogamen Zweierbeziehung. Dabei bewerten wir | |
Eifersucht sehr eigenartig. Habsucht, die Sucht, Dinge zu besitzen und sie | |
anderen zu missgönnen, ist eindeutig negativ belegt", sagt Martin. | |
"Eifersucht ist der Wille, einen Menschen zu besitzen und ihn anderen zu | |
missgönnen. Die ist gesellschaftlich aber vollkommen anerkannt." | |
Und was ist mit der Intimität, der Exklusivität, dem wunderbaren Gefühl, | |
für einen Menschen alles zu sein? Zerfasert nicht die Liebe, wenn man sie | |
aufteilt, zersplittert, sie teilt? Wird hier nicht der letzte Hort Romantik | |
an die Konsumgesellschaft verschachert? "Meiner Meinung nach kann man nur | |
als Polyamorer einen anderen Menschen zweifelsfrei lieben", sagt Martin. | |
"Angenommen, du bist seit Jahren in einer stabilen Zweierbeziehung. Routine | |
hat sich eingeschlichen. Und dann bist du auf einer Party und triffst eine | |
Person, die du wahnsinnig aufregend findest. Als Monogamer machst du dir | |
Vorwürfe, zweifelst an der Liebe zu deinem Partner und an deinem Partner. | |
Du stehst unter Entscheidungsdruck, du bist unglücklich. Dabei möchtest du | |
einfach mit beiden Personen zusammen sein." | |
In den USA ist aus den Polyamoren eine kleine Bewegung geworden. Sie | |
fordert rechtliche Gleichbehandlung. Dazu gehören: gemeinsames Sorgerecht | |
für Kinder, Regeln für die Erbfolge, Krankenhausbesuche, alles, was | |
monogamen Paaren eben auch zusteht. | |
Auch Karin und Rainer hätten nichts gegen eine rechtliche Gleichstellung | |
mit monogamen Lebensformen. Aber das ist Zukunftsmusik. Einmal hielt Julia | |
Seeliger von der Grünen Jugend eine Rede mit dem Titel "Ist Monogamie die | |
Lösung?". Das sorgte für ein bisschen medialen Wirbel und war dann schnell | |
wieder vorbei. Und die Landrätin Gabriele Pauli (CSU) verharrte mit ihrem | |
Vorschlag, die Ehe auf sieben Jahre zu begrenzen, beim Konzept der | |
seriellen Monogamie. So wichtig ist die gesetzliche Anerkennung für Karin | |
und Rainer allerdings auch nicht. Viel wichtiger ist es, letzte Reste | |
monogamer Prägung loszuwerden: "Früher war unser gemeinsames Bett immer | |
Sperrzone", sagt Karin. "Ich war nicht eifersüchtig auf seine sexuellen | |
Kontakte mit anderen Frauen, aber ich brauchte unser gemeinsames Bett als | |
sicheren Schutzraum, der nur uns gehörte. Aber mittlerweile ist auch das | |
kein Problem mehr." Letztens, erzählt sie, wäre sie gerade in Hamburg bei | |
Holger, ihrem zweiten Mann, gewesen, als Rainer sie am Handy anrief. "Er | |
war so glücklich. Er hatte sich gerade verliebt und musste es mir | |
erzählen." Rainer grinst. Dann erzählt er, wie er zum ersten Mal Karin und | |
Holger beim Sex zusah und er sich dazulegte. Und dann grinsen beide. | |
2 Nov 2007 | |
## LINKS | |
[1] http://polyamory.ch | |
[2] http://polyamory.de | |
[3] http://polyamor.blog.de | |
[4] http://polyamor.de | |
## AUTOREN | |
Philipp Mattheis | |
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