# taz.de -- Weiblich, obdachlos, unsichtbar: Die Würde mit Füßen getreten | |
> Maria Ziegler, seit 20 Jahren obdachlos, erzählt vom Leben auf der | |
> Straße, wünscht sich Veränderung beim Schutz wohnungsloser Frauen. | |
Bild: Eine Suppe ist der Anfang, doch in Sachen Obdachlosigkeit müssen die Hil… | |
Interview von [1][ANASTASIA TIKHOMIROVA] | |
taz: Frau Ziegler, wie sind Sie obdachlos geworden? | |
Maria Ziegler: Ich war 30 Jahre lang verheiratet und Hausfrau. Ich komme | |
aus einem bürgerlichen Haushalt. Dann ließ mich mein Mann ohne alles | |
sitzen. Er verkündete, dass er eine jüngere Partnerin habe und wir uns | |
scheiden lassen werden. Ich hatte kein Zuhause mehr. Mein Anwalt meinte, | |
ich hätte keine Chance im Rechtsstreit. | |
Man riet mir in ein Frauenhaus zu gehen, doch da schickten sie mich wieder | |
weg, weil ich nicht von häuslicher Gewalt betroffen, sondern „nur“ | |
wohnungslos war. 2003 war meine erste Nacht auf der Straße. Von meinen | |
Restgroschen quartierte ich mich in einer Pension ein. Für drei Wochen, | |
länger reichte es nicht. Anspruch auf Arbeitslosengeld hatte ich nicht, da | |
ich zuvor nicht gearbeitet hatte. | |
Wie ging es weiter? | |
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“ ist für mich nur eine Floskel, | |
[2][meine wurde missachtet. Gerade die von Frauen wird mit Füßen getreten]. | |
Sozialämter brachten mich zeitweise in Einrichtungen unter, aber das sind | |
nur vorübergehende Lösungen. Inzwischen ist es für mich sogar angenehmer | |
draußen zu schlafen als in einer Unterkunft. | |
Wieso? | |
In den Notunterkünften sind viele unterschiedliche Menschen. Über [3][90 | |
Prozent der Obdachlosen sind psychisch krank], manche sind betrunken. | |
[4][Man hat kaum Privatsphäre.] Es ist schwierig zur Ruhe zu kommen, man | |
steht unter Dauerstress. Viele haben zum Schutz auch Tiere, die meist nicht | |
mitgenommen werden dürfen. Diese Einrichtungen sind ein Notbehelf, keine | |
langfristige Lösung. Immer mehr Menschen werden obdachlos, [5][vor allem | |
mehr Frauen als früher.] | |
Sind die Unterkünfte geschlechtergetrennt? | |
Die Schlafzimmer schon, inzwischen gibt es auch einige Betten für | |
nichtbinäre Menschen, aber die Einrichtungen sind meistens gemischt. | |
Das erhöht die Gefahr sexualisierter Gewalt. | |
Richtig. Außerdem gehen viele Frauen eine Beziehung ein oder mit jemandem | |
mit, um nicht auf der Straße schlafen zu müssen. Das sind die sogenannten | |
Sofaschläfer. Ihre Not wird ausgenutzt. Viele bekommen außerdem vom Amt den | |
Rat sich einen Mann zu suchen und ein Kind zu kriegen, so auch ich. Ich war | |
über 50, ohne Wohnung – das kann doch keine Alternative sein. | |
Hatten Sie nie Angst, auf der Straße zu schlafen? Waren Sie in Gruppen | |
unterwegs? | |
Einmal hat jemand meine Sachen, während ich schlief, in den Matsch | |
geschmissen. Ich musste mir alles neu zusammensuchen. Ich bin allein | |
unterwegs, da in Gruppen Männer dominieren. Sexismus lebt auch hier weiter | |
fort. | |
Gibt es Freundschaften auf der Straße? | |
Wenn überhaupt, dann nur im Ausnahmefall. Man kann niemandem vertrauen. Die | |
Leute werden gegeneinander ausgespielt, es geht ums Überleben. Auch | |
Beziehungen gestalten sich schwierig. Zum Beispiel bekommt man nur ein | |
gemeinsames Bett in der Unterkunft, wenn man verheiratet ist. | |
Haben Sie versucht, aus der Obdachlosigkeit herauszufinden? | |
Bedürftig zu sein ist demütigend. Es hat gedauert, bis ich Sozialhilfe | |
beantragt habe. Ich arbeitete in mehreren befristeten Ein-Euro-Jobs, 2005 | |
kam Hartz IV. Ich habe eine Weiterbildung gemacht, aber keinen Job | |
gefunden. Mir wurde eine Dauerbetreuung im Altenheim vorgeschlagen. | |
Aussicht auf eine Wohnung habe ich kaum. Ich werde dreifach diskriminiert, | |
weil ich eine Frau, obdachlos und alt bin. | |
Wie sieht Ihr Alltag aus? | |
Wir werden um 7:30 Uhr aus der Unterkunft rausgeschmissen und dürfen erst | |
gegen 19 Uhr wieder rein. Vor allem im Winter bin ich tagsüber immer viel | |
gelaufen, deswegen sind meine Füße ein bisschen lädiert. Bei der Kälte | |
musst du dich bewegen, länger als eine halbe Stunde konntest du nicht auf | |
einer Parkbank sitzen und lesen, wenn du mal eine Zeitung gefunden hast. | |
Ich habe immer versucht so viel Geld zusammenzubringen, dass ich eine | |
Fahrkarte kaufen kann, um keinen Ärger mit der BVG zu bekommen. Wenn man | |
als Obdachlose ohne Fahrkarte erwischt wird, muss man trotzdem ein Bußgeld | |
bezahlen, teilweise wird das in Raten vom Hartz IV abgezogen. Wenn du nicht | |
zahlst, droht dir das Gefängnis. | |
Ich bin viel mit der Bahn gefahren, um mich aufzuwärmen. Aktuell kann man | |
kann ja sonst nirgendwo rein. Vor Corona gab es auch Tagesaufenthalte, aber | |
dadurch, dass nun alles zu hat, sind Räume der Begegnung weggefallen. | |
Wenn du auf der Straße bist, ist es schwer Informationen zu beschaffen. Du | |
kannst dich nicht mal erkundigen, wo ein Bett frei ist, geschweige denn, | |
dass du online Sichtbarkeit hast. | |
Hatten Sie immerhin genug zu essen? | |
Es gab auch eine Zeit, in der ich gar kein Geld hatte. Das waren dann 5 | |
Tage Nulldiät, da ich nichts außer harten Linsen zu essen hatte und | |
nirgendwo etwas kochen konnte. Die Tafel, Fairteilungen und Suppenküchen | |
gab es damals noch nicht in dem Maße wie heute. Außerdem ist es schwierig | |
an Informationen zu kommen, wo sich solche Punkte befinden. Wir haben ja | |
keine Möglichkeit uns zu vernetzen. | |
Was hat sich seit Corona verändert? | |
In den Unterkünften wurde versucht Abstände einzuhalten. Wir haben Masken | |
und Desinfektionsmittel bekommen, aber ich habe gehört, dass nur in Berlin | |
so gut läuft – auf dem Land hatten sie anscheinend nicht einmal genug | |
Masken. Es fallen natürlich wegen Corona Schlafplätze weg, weil nicht mehr | |
so viele Personen in einem Raum schlafen dürfen. | |
Der Berliner Senat hat seit Corona neue Unterbringungsplätze angemietet, | |
die muss man jedoch noch immer tagsüber verlassen. Die grundlegende Frage | |
ist: Wie kann man Zuhause bleiben, wenn man keines hat? Wie kann man sich | |
an die Ausgangssperre halten, wenn man nirgendwo hingehen kann? | |
Haben Sie Forderungen an die Politik? | |
[6][Es braucht kostenlose Toiletten, vor allem für Frauen.] Außerdem | |
Einzelzimmer für Bedürftige – selbst im Gefängnis gibt es welche. Wir haben | |
ein Recht auf Unterbringung. Es ist schwer an Informationen zu kommen, wir | |
brauchen Handys, Simkarten und Aufladestationen. Es ist jedoch schwer einen | |
Handyvertrag abzuschließen, wenn man keine Adresse hat. | |
Obdachlose dienen noch immer als Abschreckungsbeispiel dafür, was passieren | |
kann, wenn man nicht arbeitet. Dabei ist jede Geschichte anders, es kann | |
jede*n treffen. Natürlich habe ich auch Fehler gemacht, aber diese | |
Schuldabwälzung auf Individuen muss aufhören. Es ist außerdem unheimlich | |
schwierig aus der Obdachlosigkeit herauszukommen. Wenn du keine Wohnung | |
hast bekommst du keine Arbeit und umgekehrt. Es ist ein Teufelskreis. Man | |
rutscht immer tiefer in die Schuldenfalle. | |
Die Sozialarbeiter:innen und die Gesellschaft haben keine Vorstellung | |
davon, was wir durchleben und sollten mehr dafür sensibilisiert werden. Die | |
Behördengänge und Schikane auf den Ämtern müssen aufhören, die Bürokratie | |
vereinfacht werden. Oft wird man einfach zum nächsten Amt geschickt. Man | |
bekommt dort einen weiteren Flyer in die Hand gedrückt und das war's dann. | |
Ich kann ohne Adresse nicht wählen gehen, dadurch bin ich unsichtbar. | |
Außerdem wünsche ich mir eine soziale Wohnungspolitik – es wird fast nur | |
Wohnraum gebaut, der verkauft oder teuer vermietet werden soll, viele | |
Häuser stehen leer. Es bedarf es einer gesamtgesellschaftlichen | |
Emanzipation der Frauen, damit sie nicht mehr von Männern abhängig sind. | |
Wir haben bei der Obdachlosenselbstvertretung eine Frauengruppe gegründet, | |
um Frauen zu unterstützen und ihnen Mut zu machen. | |
Was hat sich verbessert? | |
Es gibt [7][mehr ehrenamtliche Helfer, genug Essen und Kleidung]. Ich habe | |
das Gefühl, dass wir sichtbarer geworden sind, mehr Empathie aufgebracht | |
und gespendet wird. Es geht nicht darum, Einzelschicksale zu zeigen, | |
sondern darum, Grundsätzliches zu ändern. Es gibt bereits viele Projekte – | |
die meisten guten Ideen fangen mit Utopien an. | |
Maria Ziegler aus Berlin ist seit 20 Jahren obdachlos. Sie ist in der | |
Selbstvertretung wohnungsloser Menschen aktiv und kommt am 24. April 2021 | |
zum taz lab. | |
[8][Anastasia Tikhomirova], Jahrgang 1999, ist taz-lab-Redakteurin, | |
Journalistin und macht gerade ihren Bachelor in Kulturwissenschaft und | |
Philosophie an der Humboldt-Universität in Berlin. | |
29 Mar 2021 | |
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## AUTOREN | |
Anastasia Tikhomirova | |
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