| # taz.de -- Wave-Gotik-Treffen: Identität stiftender Laufsteg | |
| > Am Wochenende langweilte das Wave-Gotik-Treffen in Leipzig mit | |
| > Mittelaltermarkt und Gottesdienst über alle Maßen. Da half auch kein | |
| > schwarzes Leder. | |
| Bild: Trotz kompliziertem Styling "janz normale Leute": Besucherin des Wave-Got… | |
| Liebe Leserin, lieber Leser, werte Kolleginnen und Kollegen, senkt voller | |
| Ehrfurcht die Köpfe, denn ich habe es getan. Ich habe mich im Dienste des | |
| investigativen Kulturjournalismus ein Wochenende lang auf dem 18. | |
| Wave-Gotik-Treffen (WGT) in Leipzig an einer massiven Eisenkette, die an | |
| meiner Nase befestigt war, auf dem Boden krabbelnd fortbewegt, immer | |
| dorthin, wo meine Herrin es befahl. Habe mit Schafsblut gegurgelt und in | |
| Menschenblut gebadet. Habe mir mit Met sauber einen umgehängt und | |
| anschließend wild brüllend an einer Orgie von Rittersleut teilhaben dürfen. | |
| Zu guter Letzt bin ich zu meiner Wohnung gerobbt, wo ich mich abgeschminkt | |
| und aus meinen schwarzen Lack- und Lederklamotten geschält habe. Seither | |
| ruhe ich mit gefalteten Händen auf einer Wolke aus Patschuli und träume vom | |
| weltgrößten Festival seiner Art, welches das WGT ist. | |
| Liebe Leserinnen und Leser, werte Kolleginnen und Kollegen, das war alles | |
| glatt erfunden. Das vergangene Wochenende auf dem WGT gehört zu den | |
| fadesten, die ich je erlebt habe, abgesehen von denen, die ich in einem | |
| Einzelzimmer im Krankenhaus verbracht habe. Eben weil all die eingangs | |
| erwähnten Klischees über WGT-Besucher, die Befürchtungen, man könnte | |
| gefressen werden oder wenigstens angeknabbert - schließlich sind es ja | |
| alles teuflische Menschenfresser auf dem WGT - , weil all diese Klischees | |
| nicht eingetreten sind. Weil alles so nett war. | |
| Okay, der Pressesprecher des WGT war es wirklich nicht. Aber die 20.000 | |
| Besucher, die waren schrecklich nett und friedlich. Da gab es zum Beispiel | |
| Goths, die ihre Kinder mitgebracht hatten, die sogar grundschultaugliche, | |
| bunte Kleidung anhatten. Und die nicht grenzdebil und messerschwingend | |
| durch die Heide liefen, sondern sich mit den Kindern anderer Besucher, die | |
| keine Goths waren, sondern "janz normale Leute", Fußball spielten und | |
| rauften. Wie normale Kinder. Überraschend. | |
| Und dann gab es diesen Mittelaltermarkt, den sie allerdings "Heidnisches | |
| Dorf" nennen auf dem WGT und für den einem satte acht Euro Eintritt | |
| abgeknöpft wurden. Dafür, dass man auf matschigem Boden an Ständen | |
| vorbeischlendern konnte, die es auf jedem ordentlichen Weihnachtsmarkt | |
| gibt, sogar in Leipzig: mittelalterliche Stände, an denen man Met und | |
| Trinkhörner kaufen kann, Flammkuchen und allerlei Kram aus Filz und Leder | |
| und Leinen. Zugegeben: Stände mit Totenköpfen, Wahrsagerkugeln mit | |
| Totenköpfen und Gehstöcken mit Totenkopfknäufen sucht man auf | |
| Weihnachtsmärkten vergebens. Sie sind auch interessant und spannend | |
| anzusehen, keine Frage. Aber nach dem dritten Totenkopfknauf verliert eben | |
| auch der Tod an Schrecken, zumal wenn sich die Pfingstsonne darin spiegelt. | |
| Ähnlich entwickelt sich auch die abgestumpfte Haltung, mit der man schon | |
| nach wenigen Stunden den Besuchern des WGT nicht mehr hinterherschaut. Die | |
| sich unter dem Dach des WGT versammelnden Subsubsubkulturen mögen zahlreich | |
| und ihr Erscheinungsbild zuweilen krass sein. Gewöhnen kann man sich an sie | |
| aber schnell und völlig schmerzfrei. Zum Beispiel an die lustigen | |
| Cyber-Industrial-Anhänger, denen neonfarbene Röhren und Schläuche aus dem | |
| auf 18 Zentimeter hohen Plateauschuhen ruhenden Körper zu wachsen scheinen. | |
| Oder an die in Leinensäcke, Burgfräuleinkleider und Ritterrüstungen | |
| gehüllten Mittelalterfans, die noch dazu - welch Graus! - die verstaubte | |
| Sprache ihrer Lieblingszeit zu sprechen pflegen, dazu Met hinunterstürzen, | |
| rülpsen und übereinander herfallen. | |
| Und dann gibt es schließlich noch die, die sich als Basis des WGTs | |
| verstehen: die Gruftis. Doch wer ist das eigentlich? Sind das die | |
| elfengleichen Frauen mit den akkurat weiß geschminkten Gesichtern und den | |
| Reifröcken, die man in den Online-Bildergalerien großer Nachrichtenmagazine | |
| präsentiert bekommt? Die Marilyn-Manson-Teenager mit Militärmütze, | |
| Horrorkontaktlinsen und ausgemergelten Körpern? Oder sind es vielleicht | |
| doch die fast schon konservativ anmutenden Letzte-Instanz- und | |
| Goethes-Erben-Anhänger, die sich hauptsächlich durch die Kleiderfarbe | |
| Schwarz hervortun? Die Gothic Lolitas in ihren Corsagen? Die alternden | |
| Goths mit gestärktem schwarzem Hemd, Springerstiefeln und Seitenscheitel? | |
| Für den groben Überblick über Trends und Strömungen der trotz Buntheit | |
| schwarzen Szene taugt das WGT sehr gut. Einen tiefergehenden Einblick | |
| bekommt man freilich nicht. Doch am Ende ist das WGT ohnehin nur der | |
| identitätstiftende Laufsteg für alle Subsubsubkulturen, die aufgrund der | |
| physischen Erscheinung ihrer Mitglieder von vielen zu Unrecht als | |
| schockierend bezeichnet wird, ein Laufsteg, der gleichsam Schutzraum ist | |
| und dem zufällig noch 192 Konzerte, zahlreiche Lesungen, Filme und sogar | |
| ein Gottesdienst beigefügt wurden. | |
| 1 Jun 2009 | |
| ## AUTOREN | |
| Dominik Schottner | |
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| Rock | |
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