| # taz.de -- Warum sie aufbrachen | |
| > Die eigenen Ansprüche nicht ganz eingelöst: Eine Sonderausstellung im | |
| > Internationalen Maritimen Museum beschäftigt sich mit der „Flucht übers | |
| > Meer“ seit der Antike | |
| Bild: Frühes Beispiel für zivile Fluchthilfe: Boat People aus Vietnam verlass… | |
| Von Julika Kott | |
| Das Buch in der Vitrine sieht vielgelesen aus: Der Rücken ist zerfasert, | |
| der graue Einband mit der blauen Frakturschrift verblasst. Dieses | |
| „Wörterbuch der Englischen und Deutschen Sprache“ hatte Kurt Lazarus dabei, | |
| als er 1939, kurz vor Kriegsausbruch, der nationalsozialistischen | |
| Verfolgung entkam – mit einem „Kindertransport“ nach Großbritannien. Der | |
| Weg des damals 14-Jährigen über den Ärmelkanal ist eine von elf | |
| Fluchtgeschichten in der Ausstellung „Flucht übers Meer – von Troja nach | |
| Lampedusa“ im Internationalen Maritimen Museum Hamburg (IMMH), bekannter | |
| vielleicht als „Tamm-Museum“, nach dem langjährigen Springer-Manager Peter | |
| Tamm (1928–2016), einem so passionierten wie bestens vernetzten Sammler von | |
| Dingen, die mit Meer und Schiffen zu tun haben. | |
| Die Initiative zu dieser Sonderausstellung kam von dem Berliner Historiker | |
| Erik Lindner, der auch den begleitenden, zweisprachigen Band dazu verfasste | |
| (Koehler Mittler 2019, Dt./Eng., 288 S., 24,95 Euro). Mittels rund 50 | |
| Exponaten und mehr als 40 Fotos setzt sich die Ausstellung mit | |
| Fluchtbewegungen auseinander, will auch deren Ursachen auf den Grund gehen | |
| – beides ohne Anspruch auf Vollständigkeit. | |
| Chronologisch organisiert, beginnt sie tatsächlich im antiken Troja, also | |
| vor über 3.000 Jahren, und führt im weiteren Verlauf über die USA, Irland, | |
| Deutschland, Frankreich, Palästina, Vietnam und Kuba bis nach Lampedusa, | |
| jenem italienischen Vorposten, bekannt aus den Abendnachtrichten – und | |
| vielleicht das Symbol für die heutigen Fluchtbewegungen über das | |
| Mittelmeer. | |
| Das erwähnte Wörterbuch „war Kurt Lazarus’ wichtigster Gegenstand auf der | |
| Flucht“, sagt Gerrit Menzel. „Es ermöglichte ihm, sich in England zu | |
| verständigen“ – aus Sicht des IMMH-Historikers vergleichbar einem heutigen | |
| Objekt, das immer wieder in den Debatten aufscheint: Wer kennt nicht die | |
| vorurteilsbehaftete Rede von den Mobiltelefonen angeblich neuester Bauart, | |
| die sie alle dabei hätten, die Geflüchteten? Und – also könne es ihnen doch | |
| so schlecht nicht gegangen sein in ihren Herkunftsländern. „Egal ob in den | |
| 1930ern aus Deutschland oder 2019 aus Syrien“, sagt dagegen Menzel: „Auf | |
| der Flucht können Menschen nur eine sehr begrenzte Anzahl an Gegenständen | |
| mitnehmen.“ Da seien sich Wörterbuch und Handy „nicht so unähnlich“, f�… | |
| der Historiker aus: „Sie verbinden Geflüchtete mit ihrem Herkunftsland und | |
| wirken sogar lebensrettend.“ | |
| Noch weitere persönliche Objekte und Gegenstände der Flucht sind | |
| ausgestellt: Das Messing-Steuerrad des Frachters „Skyluck“ etwa, der 1979 | |
| mit mehr als 2.000 „Boat People“ an Bord vor Hongkong strandete. In einer | |
| anderen Vitrine: versandete Helme, auch Waffen, eine Gasmaske – und eine | |
| Flasche belgisches Bier; Hinterlassenschaften britischer und französischer | |
| Soldaten, zurückgelassen im Frühjahr 1940 am Strand bei Dünkirchen – auch | |
| eine Flucht, nämlich vor der deutschen Wehrmacht. | |
| Auf einem Schwarz-Weiß-Foto verabschiedet sich eine Gruppe | |
| südostasiatischer Menschen lächelnd und winkend von der Crew der [1][„Cap | |
| Anamur“], Heimathafen Hamburg: Es sind Vietnames*innen, einige der | |
| insgesamt rund 1,6 Millionen „Boat People“, die sich am Ende des dortigen | |
| Krieges vor den vorrückenden nordvietnamesischen Kräften zu retten suchten. | |
| Ein frühes, ein besonderes Beispiel für die zivile Seenotrettung: Die „Cap | |
| Anamur“ etwa rettete zwischen 1979 und 1986 über 10.000 Menschen auf See. | |
| Diesen zivilen Rettungsschiffen seien dieselben Vorwürfe gemacht worden wie | |
| heutigen Seenotretter*innen, sagt Menzel: Es hieß, ihre Anwesenheit würde | |
| die Vietnames*innen dazu ermutigen, den gefährlichen Weg über das | |
| Chinesische Meer anzutreten; ja: Sie würden als Schlepper fungieren. | |
| Diesen heutigen, den ach so umstrittenen heutigen Fluchten widmet sich die | |
| Schau am Schluss. Einerseits durch die Darstellung individueller | |
| Fluchterfahrungen, etwa der von Yusra Mardini aus Syrien, die nun | |
| olympische Schwimmerin ist; oder der von Bashir Zakaryau, ein über Libyen | |
| und Lampedusa nach Berlin gelangter Aktivist, der 2016 verstarb. | |
| Daneben deckenhohe Bilder der Seenotrettung auf dem Mittelmeer: kaputte | |
| Schlauchboote, Dutzende orangefarbene Rettungswesten an irgendeinem Strand, | |
| Helfende auf hoher See. Die Fotos stammen von der Bundesmarine, die vor | |
| vier Jahren für 55 Tage dort im Einsatz war. Kaum ein Thema dagegen: die | |
| zivilen Organisationen. Das schwächt den von Menzel formulierten Anspruch: | |
| historisch positionieren wolle man sich mit der Ausstellung. | |
| Ist die aber am richtigen Ort? Das Museum hat seit seiner Eröffnung 2008 | |
| immer auch mit Kritik zu kämpfen gehabt wegen seines unkritischen Umgangs | |
| mit Militaria, auch nationalsozialistischen. Auch jetzt kann, wer die | |
| Fluchtschau auslässt oder damit fertig ist, weiter oben in dem umgebauten | |
| Kaiserspeicher prachtvolle Uniformen bestaunen und Dienstgradabzeichen aus | |
| diversen Epochen deutscher Kriegsmarine – bei bemerkenswert wenig | |
| Erklärung. Die Bestände des langjährigen Springer-Vorstandsmitglieds Tamm, | |
| der Grundstock für das Museum, werden weiter präsentiert ohne einen Hinweis | |
| auf die Umstände, unter denen so manches schmucke Schiff erbaut und | |
| eingesetzt wurde. | |
| „Flucht übers Meer“: bis 2. 2. 2020, Internationales Maritimes Museum | |
| Hamburg; www.imm-hamburg.de | |
| 10 Aug 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Cap_Anamur/Deutsche_Not-%C3%84rzte | |
| ## AUTOREN | |
| Julika Kott | |
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