# taz.de -- Wahlen in der Türkei: Kein Grund zur Verzweiflung | |
> Tausende Ehrenamtliche engagieren sich als Wahlhelfer*innen. Die Angst | |
> vor Wahlmanipulation ist groß, doch die Motivation zu kämpfen ist höher. | |
Bild: Sind bereit: Freiwillige von Oy ve Ötesi | |
Zwanzig Menschen sitzen im zweiten Stock eines Istanbuler Wohnhauses und | |
diskutieren hitzig über die Notizen an einem Whiteboard. Sie kennen sich | |
kaum, engagieren sich aber gemeinsam für die „Seçim Süreci Meclisleri“ | |
(Wahlräte). | |
Die Bürgerbewegung hat sich erst Anfang des Jahres gegründet. Ziel der | |
Ehrenamtlichen ist es, Wahlmanipulationen bei den vorgezogenen | |
Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 24. Juni zu verhindern. Viele | |
glauben, dass es bei den Wahlen nicht mit rechten Mitteln zugehen könnte. | |
Im Istanbuler Büro planen sie deshalb die Arbeit der kommenden Wochen: | |
Wähler*innen aufklären, und am Wahltag die Stimmenabgabe und die Auszählung | |
beaufsichtigen. | |
Mit dem neuen Gesetz steigt die Macht von Provinzverwaltern an der | |
Wahlurne, sowie die Befugnisse von zumeist regierungsfreundlichen | |
Sicherheitskräften. Wahlzettel ohne Siegel können viel leichter für gültig | |
erklärt werden. Daher braucht es viel mehr freiwillige Wahlhelfer*innen, um | |
mögliche Wahlmanipulationen zu verhindern. | |
Der vorgezogene Termin kam für viele überraschend. „Ende Juni hätten wir | |
nicht erwartet“, sagt der 27-jährige Student Eymen Demircan, der sich bei | |
den Wahlräten engagiert. Der frühe Termin sei kein Grund zur Verzweiflung. | |
„Das hat uns nur angestachelt“, fährt Demircan gestikulierend fort. Erst | |
kürzlich wurde er am Hals operiert, Verkehrsunfall. Trotzdem ist er hier – | |
der Wahltag muss über die Bühne. | |
## Die Türkei im Wahlstress | |
Als Mitte April Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan positiv auf den | |
Wahlaufruf von Devlet Bahçeli, Chef der ultranationalistischen MHP, | |
reagierte und vorgezogene Neuwahlen ankündigte, geriet die Türkei in | |
Wahlstress. Gerüchten zufolge wollten Erdoğan und Bahçeli mit ihrem Bündnis | |
und der Verkündung eines derart zeitnahen Wahltermins die Opposition | |
unvorbereitet, also ohne Präsidentschaftskandidaten, erwischen. Dies war | |
nicht nur ein Schlag gegen die zur Wahl antretenden Politiker*innen, | |
sondern auch für alle Bürger*innen, die sich als freiwillige Wahlbeobachter | |
organisierten. | |
Demircan meint, Erdoğan und Bahçeli hätten ihre politischen Gegner in | |
Bedrängnis bringen wollen. Allerdings zeige der Beschluss auch, in welcher | |
Klemme die Regierung stecke. Er nimmt einen Schluck Tee. „Die Wirtschaft | |
bricht ein“, meint er, deshalb die Wahlen. Die pensionierte Bankangestellte | |
Hülya Tutucu mischt sich ein. Mit ihrem eleganten Outfit fällt sie auf | |
unter den leger gekleideten Studierenden und Aktivist*innen. „Beim | |
Referendum vom 16. April 2017 war ich als Beobachterin tätig“, erinnert | |
sich die 55-Jährige. Sicherheitskräfte hätten nach der Wahl die Urnen | |
beschlagnahmt, bevor die Stimmzettel ausgezählt werden konnten. | |
2017, bei dem Referendum zur Verfassungsänderung, waren zweieinhalb | |
Millionen ungültige Stimmzettel am Wahltag als gültige Wahlzettel | |
angenommen worden. Tausende Menschen zogen vor den Hohen Wahlrat und | |
demonstrierten gegen das Wahlergebnis. Dann aber rief Oppositionsführer | |
Kemal Kılıçdaroğlu von der CHP dazu auf, nicht auf die Straße zu gehen. | |
Dadurch legitimierte er letztendlich den Volksentscheid. | |
Hülya Tutucu erinnert sich voller Wut an jene Nacht: „Hätte die CHP nicht | |
interveniert, wären damals Millionen auf die Straße gegangen und nichts von | |
all dem, was heute geschieht, wäre je geschehen.“ Sie ballt die rechte Hand | |
zur Faust: „Diesmal müssen wir noch viel besser acht geben auf die Urnen! | |
Wir werden sie bewachen und die AKP wird verlieren!“ | |
## NGOs für faire Wahlen | |
Die Ressourcen hierfür sind knapp. Auch bei den Wahlräten. Die vom | |
CHP-regierten Bezirk Kadıköy zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten | |
reichen nicht aus. Verlegen erinnert Hülya Tutucu die Teilnehmer*innen | |
daran, dass Tätigkeiten der Initiative allein durch die Spenden der | |
Ehrenamtlichen ermöglicht werden. | |
Die Wahlräte sind nicht die einzige Initiative, die sich um die Sicherheit | |
an den Urnen bemüht. Bereits seit sieben Jahren engagiert sich die NGO Oy | |
ve Ötesi (Wahl und mehr) für faire Wahlen. Zu ihrem diesjährigen ersten | |
Treffen sind etliche Freiwillige in die berühmte Istiklal-Straße gekommen, | |
aus dem Büro hat man einen herrlichen Blick auf den Bosporus. Freiwillige, | |
die sich über die Website melden, werden für die Wahllokale geschult und | |
später für eine Wahlurne in ihrem Wohnbezirk zugeteilt. | |
Gözde Soytürk, Vorsitzende von Oy ve Ötesi und Ökonomin gibt zu: „Der | |
Wahltermin hat uns kalt erwischt.“ Auch bei ihnen ginge es seit der | |
Verkündung hektisch zu. Sie trinkt einen Schluck von ihrem Mokka und kommt | |
auf das Referendum vom 16. April 2017 zu sprechen. An mehr als 20.000 | |
Wahlurnen, hauptsächlich in den südostanatolischen Provinzen konnte die NGO | |
keine ehrenamtlichen Beobachter*innen postieren. An einigen Orten gab es | |
nicht einmal Wahlbeobachter*innen der AKP. Ergebnis: „In diesen Wahllokalen | |
wählten 3,7 Millionen Menschen. 97 Prozent stimmten für Erdoğan.“ | |
Die Zustimmung zum Präsidialsystem, das Erdoğan am 16. April 2017 einführen | |
wollte, lag bei 51,41 Prozent, mit Nein stimmten 48,59 Prozent. Der | |
Unterschied betrug also lediglich 1,8 Prozent. Die Stimmenanzahl der nicht | |
bewachten Urnen könnte den Ausschlag gegeben haben. Angesichts dieser | |
Information wird das Gemurmel in der Runde lauter. Gözde Soytürk ist voller | |
Hoffnung: „Dieses Mal erreichen wir auch die 22.000 Urnen, bei denen wir | |
zuvor nicht waren.“ | |
## Diesmal auf Nummer Sicher | |
Wie bei den vorangegangenen Wahlen werden die Ehrenamtlichen von Oy ve | |
Ötesi an den Wahlurnen nach dem Ende der Wahl die Auszählungsprotokolle in | |
einer App auf ihren Smartphones hochladen. So können sie die Ergebnisse mit | |
den offiziellen Zahlen vom Hohen Wahlrat vergleichen und feststellen, ob es | |
Fehler gibt. | |
Dieses Mal wollen sie auf Nummer sicher gehen. Es gab ein Treffen mit Sadi | |
Güven, dem Vorsitzenden des Hohen Wahlrats. Da die Wahlen im | |
Ausnahmezustand abgehalten werden, herrschen für die Opposition ungleiche | |
Bedingungen. Besonders fürchtet man sich vor den neuen Befugnissen von | |
Sicherheitskräften. Die Sprecher von Oy ve Ötesi fordern, dass | |
Sicherheitskräfte keinen Druck auf die Wahlbeobachter*innen und | |
Wähler*innen ausüben. | |
Es ist ungewiss, wie die Wahl ausgehen oder wie das vom Parlament | |
verabschiedete Wahlgesetz umgesetzt wird. Die Verkündung der Frühwahlen | |
scheint kein Handicap, sondern vielmehr einen Motivationsschub ausgelöst zu | |
haben. | |
Aus dem Türkischen: Sabine Adatepe | |
8 May 2018 | |
## AUTOREN | |
Tunca Öğreten | |
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