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# taz.de -- Wagt zu sagen, was ihr Apfel nennt
> Warum das Essen von Äpfeln die Wirkung von Literatur hat
Von Katharina Hagena
Der Apfel ist immer für eine Geschichte gut. Das wissen wir nicht erst seit
Adam und Eva. Auch bei den alten Griechen und Germanen gab es schon Sagen
von goldenen Äpfeln, die unsterblich machen, die begehrt, bewacht und
geklaut wurden.
Die beiden größten Epen der Antike, die „Ilias“ und die „Odyssee“, w�…
nicht geschrieben worden, hätte Paris nicht jener göttlichen Schönen einen
Apfel geschenkt, woraufhin der Trojanische Krieg ausbrach. Der Mordlust
ihrer Stiefmutter kann Schneewittchen mehrmals geschickt entkommen, aber
der Verführungskraft des vergifteten Apfels erliegt sie und wird nur durch
märchenhaftes Glück gerettet. Wilhelm Tell wäre ohne Apfel trotzdem ein
Held gewesen, aber wäre er eine Legende geworden? Friedrich Schiller, Autor
des Tell’schen Apfeldramas, bewahrte immer einige faulige Äpfel in der
Schublade seines Schreibtisches auf. Um sich im ganz wörtlichen Sinne zu
inspirieren, sog er den Apfelduft ein und schrieb dann drauflos. So
jedenfalls geht die Geschichte.
Ich kann mir ein Leben ohne Äpfel genauso wenig vorstellen wie ohne
Geschichten. Schon in meiner Kindheit gab es von beidem viel. Man brauchte
nie zu fragen, ob man ein Buch oder einen Apfel nehmen konnte. Wir durften
beides zu jeder Zeit verschlingen, sogar kurz vor dem Abendbrot, ja selbst
nach dem Zähneputzen. (Aber Äpfel schmecken nicht, wenn man gerade alles
mit Zahnpasta ausgewischt hat.)
Wir haben Apfelkerne zerkaut und entdeckt, dass sie nach Marzipan
schmecken. Klar hatten wir gehört, dass sie giftig waren, aber das war ja
gerade das Spannende. Später habe ich gelernt, dass der Kern selbst gar
kein Gift enthält, sondern nur einen Stoff, der erst nach dem Verzehr im
Körper des Kauenden zu Blausäure wird.
Kein Wunder, gibt es also all diese Apfelgeschichten. Der Kern des Apfels
funktioniert nämlich selbst wie eine Geschichte: Erst kaut man ein bisschen
drauf herum, und plötzlich entfaltet sich ein Geschmack, der zwar an
Marzipan erinnert, aber doch Bittermandel ist. Der gefährliche Wirkstoff
liegt also gar nicht in den Worten selbst, sondern entfaltet sich erst
durch den Vorgang der Lektüre im Körper des Lesenden.
Die enge Beziehung zwischen Apfel und Sprache beschreibt Rainer Maria Rilke
in seinem 13. Sonett an Orpheus. Eigentlich ist es die Dokumentation eines
Rausches, und die Droge ist der Apfel, vielmehr der volle Apfel.
Außer dem Apfel gibt es hier zwar noch Birne, Banane und Stachelbeere, doch
die sind eher Teil der Vorbereitung auf das volle Apfel-Wagnis, eine Art
Anreizen des Geschmackssinns, und die drei Pünktchen nach „Stachelbeere“
scheinen wie Wassertropfen, die im Munde zusammenfließen …
Das lyrische Ich unternimmt keinen Selbstversuch, das wäre zu unmittelbar.
Stattdessen nimmt es sich ein Kind als Testperson, um auf dessen Gesicht zu
lesen, was es „erschmeckt“. Denn eine Frucht, so die ahnungsvolle
Hypothese, „spricht Tod und Leben in den Mund“. Die Aufgabe des Dichters
ist es nun, diese Fruchtsprache hörbar zu machen. Letztlich ist es eine Art
Übersetzung: Der Apfel spricht durch seinen Geschmack die Sinne des Kindes
an, diese Reize übertragen sich auf dessen Gesicht, das dann abgelesen und
aufgeschrieben werden muss. „Lest es einem Kind vom Angesicht“, verlangt er
von uns, aber zum Glück macht er es dann doch lieber selbst, und wir lesen
das, was er gelesen hat, nämlich Orpheus, jenen Dichter aus der
griechischen Sage.
Auch in diesem poetischen Experiment muss der Apfel zunächst gekaut werden,
um seine Wirkung zu entfalten. Es gibt kaum etwas, das einem näher ist als
ein Bissen im Mund, und doch kommt das, was sich dann einfindet, „von
weit“. Erst wird uns „namenlos im Munde“, die Wahrnehmung raubt einem die
Sprache, doch nur wenig später lösen sich abstraktere „Funde“ aus der
sinnlichen Fruchtfleischeslust, und der Dichter und Experimentator fordert
etwas ganz und gar Unerhörtes: „Wagt zu sagen, was ihr Apfel nennt“.
Es braucht Mut für die Lektüre des Geschmacks von Äpfeln. Mit dem
In-Worte-Fassen dessen, was wir beim Verzehr des Apfels empfinden, fängt
der Apfel erst an zu existieren. Umgekehrt beginnt auch die dichterische
Schöpfung mit einem Apfel.
Die Worte, die das lyrische Ich in Rilkes Sonett vom Gesicht des Kindes
liest, werden flüssig und süß wie der Saft, den dieses kauend aus der
Frucht befreit. Auf einmal sind die Komponenten unterscheidbar: das Erdige
des Todes und das Sonnige des Lebens. Da ist das Hiesige, also das
Diesseits, und im Gedankenstrich verbirgt sich vielleicht das Jenseits,
jedenfalls etwas, das nicht oder noch nicht in Sprache gefasst werden kann,
ein Rest, ein Schweigen. Und dann kommt der Höhepunkt des Rausches. Das
letzte Wort, „riesig“, schließt an das erste, „voller“, an, und das Ge…
in seinem riesigen Volumen bei kleinster Oberfläche rundet sich wie der
volle Apfel, von dem es spricht.
Das Ergebnis des Rilke’schen Apfelrausch-Experiments ist überraschend, aber
nicht neu. Es liegt jeder Apfelgeschichte zugrunde und wird immer wieder
neue hervorbringen: Vorsicht! Der Verzehr dieses Apfels kann zu Erkenntnis
führen.
Katharina Hagena ist Schriftstellerin. Ihr Roman „Der Geschmack von
Apfelkernen“ wurde auch verfilmt
20 Oct 2018
## AUTOREN
Katharina Hagena
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