| # taz.de -- WM-Finalist Spanien: Echte Schönheit | |
| > Spanien hat den Fußball sowie das Denken über Fußball verändert. Und | |
| > ausgerechnet die jahrzehntelang auf Individualität gepolten Spanier | |
| > dominieren mit perfektem Passspiel. | |
| Bild: Man muss es eben nicht nur in den Füßen haben: Spaniens Trainer Vicente… | |
| Am Morgen nach dem 1:0 der Spanier gegen die deutsche Mannschaft erhielt | |
| ich in aller Herrgottsfrühe einen Anruf. Zunächst war da nur eine Art | |
| glückliches Seufzen. "Was ist los?", fragte ich. Dann bekam ich eine halbe | |
| Stunde lang das spanische Spiel erklärt. Wie die Deutschen immer dem Ball | |
| hinterhergelaufen seien und ihn nicht gekriegt hätten. Wie die Spanier sie | |
| am Umschalten hinderten, wenn sie ihn dann doch mal für kurze Zeit hatten. | |
| Welche fußballerische Autorität sich da auf dem Platz ausdrücke. Und wie | |
| ethisch Fußball sein könne, fast frei von allem Hässlichen, das wir | |
| Normalität nennen. Xavi! Iniesta! | |
| Echte Schönheit | |
| Während wir uns gegenseitig ins Delirium redeten, begann ich zu verstehen, | |
| was passiert ist: Spanien hat den Fußball verändert. Und es hat dadurch | |
| unser Denken und unser Sprechen über Fußball verändert. Sieht man mal von | |
| Franz Beckenbauer ab, der Spaniens Fußball "langweilig" findet und sich | |
| damit selbst abgehängt hat. | |
| Wer argumentiert, dass Spanien bei dieser WM oft nicht an der Kante war, | |
| jammert auf höchstem Niveau. Das Kurzpassspiel der Spanier hat uns eine | |
| neue Vorstellung von der Schönheit des Fußballs ermöglicht. Oder es hat uns | |
| überhaupt erst eine Vorstellung gegeben. Dass Spanien binnen drei Jahren so | |
| prägend werden konnte, liegt auch daran, dass es ein Vakuum gab. | |
| Jahrzehntelang schnalzte man vor einer WM mit der Zunge und sagte: | |
| Brasilien. Dann gewann Italien. Oder Brasilien. Aber auch das fühlte sich | |
| nie an, wie man dachte, dass es müsste. Weil die Vorstellung vom guten | |
| Fußball ein Phantasma aus nicht selbst erlebter Fußballgeschichte, Romantik | |
| und Ignoranz war. | |
| Das Neue besteht darin, dass Spaniens Schönheit echt ist. Alles ist auf dem | |
| Platz. Sicher wird man sagen können, dass selbst die in drei Vierteln des | |
| Platzes oft perfekten Spanier im vordersten Viertel kaum einmal perfekt | |
| sind. Wären sie es, wären sie übermenschlich. Und genau das sind sie eben | |
| nicht. | |
| Baraca, Bayern, Holland | |
| Ausgerechnet die jahrzehntelang auf Individualität gepolten Spanier haben | |
| mit der Verabschiedung von Raul eine kollektive Ästhetik des | |
| Zusammenspielens perfektioniert, die all ihre scheinbaren und echten | |
| Nachteile kompensiert oder gar in Vorteile verwandelt. Die Überlegenheit | |
| ihres Fußballs drückt sich nicht in hohen Siegen aus, sondern darin, dass | |
| er seine kollektive Kraft mit zunehmender Spieldauer entfaltet und | |
| durchsetzt. Sie haben die Deutschen sich totlaufen lassen. | |
| Und Trainer Vicente del Bosque? Die individuelle Wucht von Villa ist | |
| kalkuliert eingebaut, aber als Pedro den Konter gegen die Deutschen | |
| eigensinnig verzockte, holte ihn del Bosque binnen 30 Sekunden vom Platz. | |
| Seit Volker Finkes Fußballrevolution Anfang der Neunzigerjahre in | |
| Deutschland gilt für Anhänger des Kollektivfußballs: Der Torschütze ist | |
| nicht der Held, sondern nur der Spieler, der den letzten Laufweg | |
| abarbeitet. Der "Kult der Individualität" (El País), den die Argentinier | |
| und andere noch pflegen, ist 20. Jahrhundert. | |
| Es ist das erste WM-Finale Spaniens, und es ist sehr angemessen, dass der | |
| Gegner am Sonntag in Johannesburg Niederlande heißt. Der spanische | |
| Kombinationsfußball ist aus dem Fußball des FC Barcelona entstanden. Und | |
| der Fußball von Barca und seine vielgerühmte Nachwuchsakademie La Masia | |
| gehen auf den Niederländer Johan Cruijff zurück, wie auch die Fußballschule | |
| von Ajax Amsterdam. Cruijff, schreibt Simon Kuper in der Financial Times, | |
| habe die beiden Zentren zu "Universitäten des Passspiels" gemacht. Das | |
| halbe holländische Team kommt aus der Ajax-Schule, sieben Spanier aus La | |
| Masia. | |
| Es gibt einen zweiten Niederländer, er und Cruijff sprechen nicht mehr | |
| miteinander, aber dieser hat erst bei Ajax, dann bei Barcelona als Cruijffs | |
| Nachfolger gewirkt, hat Xavi zum Stammspieler gemacht und Iniesta | |
| rausgebracht. Es handelt sich selbstverständlich um Louis van Gaal, den | |
| Trainer des FC Bayern. Man hat erst im Lauf des Turniers kapiert, wie | |
| subtil es war, als der von van Gaal herausgebrachte Thomas Müller den | |
| Bundestrainer Löw "Jogi van Gaal" nannte, dessen Team mit den Passdreiecken | |
| der spanisch-niederländischen Schule kombinierte und Überzahl schuf. | |
| Auch der niederländische Fußball ist geprägt von Passspiel, ist | |
| flachhierarchisch, laufintensiv, derzeit teamorientiert, legt aber | |
| spätestens mit Trainer Bert van Marwijk einen starken Akzent auf Defensive, | |
| Kühle und Körperlichkeit. Das Team ist gewachsen und hat in der | |
| Qualifikation und der WM bisher alle Spiele gewonnen. Man wird sehen, ob | |
| van Bommel und de Jong den Spaniern näher kommen als die Deutschen, deren | |
| Körperlichkeit sich fast ausschließlich im Hinterherlaufen ausdrückte. | |
| Doch ein epochenprägendes Team sind die Niederlande nicht. Es ist das | |
| Verdienst der Spanier, dass wir zumindest derzeit den Zynismus mancher | |
| Fußballepochen überwunden haben, in denen stets derjenige den Sieg verdient | |
| hatte, der siegte. Spanien hat dem Fußball des 21. Jahrhunderts ein Gesicht | |
| gegeben, Spanien ist in der fortgeschrittenen Phase eines Zyklus, der vom | |
| unglücklichen Ausscheiden 2006 über den EM-Titel 2008 nun in das WM-Finale | |
| von Südafrika geführt hat. | |
| 11 Jul 2010 | |
| ## AUTOREN | |
| Peter Unfried | |
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