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# taz.de -- Vorurteile gegen Suchtkranke: Du willst ja nicht!
> Anämie, Polyarthritis oder Hepatitis C sind saubere, ehrliche
> Krankheiten. Aber Süchte? Wer nicht davon betroffen ist, hält sie leicht
> für Willensschwäche.
Bild: Alkoholismus - eine Krankheit der Unterschicht? Von wegen.
Jeder Mensch ist latent süchtig, genauso wie jeder Mensch Anlagen zu
kriminellen Handlungen hat, zur Schizophrenie, zur Manie oder zum Sadismus.
Die Frage ist nur, ob, wie und wann dieser Mister Hyde in uns geweckt wird.
Wenn das Gehirn einen Menschen zum Töten treibt, zur Bewusstseinsspaltung
oder zur Lust am Quälen anderer Menschen, liegt meistens eine
Funktionsstörung vor. Sie setzt unsere natürlichen und anerzogenen
Hemmungen außer Kraft, diese Anlagen auszuleben.
Bei Süchten ist das anders. Die meisten schleichen sich ein ins Denken und
Handeln. Und weil sie in den Anfängen nicht schädlich für andere sind oder
strafbar, gibt es auch keine Hemmungen, ihnen nachzugehen. Erst wenn sie
uns beherrschen, versuchen wir, uns gegen sie aufzulehnen. Aber dann ist es
zu spät.
Alle Süchte haben eins gemeinsam. Sie sind Flucht aus der Realität. Der
Zehnjährige, der in Bukarest am Bahnhof Lackverdünner schnüffelt, der
Chefarzt, der sich nachts mit zwei Flaschen Wein flachlegt, der Zocker, der
im Casino wieder und wieder auf die weiße Kugel starrt, die Ehefrau, die
den achtzigsten Schal und das fünfzigste Paar Schuhe kauft - sie alle
wollen weg, raus aus ihrem Elend, ihrem Stress, ihrem Frust oder ihrem
eintönigen Dasein.
Wenn etwa 4 Millionen Bundesbürger den unterschiedlichsten Süchten
nachgehen (die meisten sind Alkoholiker), liegt das nicht an einer
genetischen Disposition. Die ist, krankhafte Veränderungen des Gehirns
ausgenommen, bei allen Menschen gleich. "Jeder kennt sie, die Sehnsucht
nach dem Rausch", weiß Professor Götz Mundle, der Leiter der
Oberbergkliniken, die sich auf Suchtkrankheiten spezialisiert haben. Auch
Erziehung und Bildung sind nicht ausschlaggebend. Entscheidend ist allein
die Lebenssituation, in der wir uns befinden. Ist sie geprägt von Ängsten,
Überforderung oder Hoffnungslosigkeit, erinnern wir uns an Momente, in
denen die Realität und somit alle Probleme zurückgedrängt wurden: beim
Feiern mit Alkohol, beim Sex, beim Computerspielen, am Roulettetisch oder
Daddelautomaten, im Hoch- oder Dämmerzustand mit Tabletten, beim Kaufen von
schönen Dingen oder beim Schlingen einer Tafel Schokolade.
Demzufolge sind alle Fluchtwege aus der Wirklichkeit zugleich Wege in eine
Sucht. Selbst Religionen können süchtig machen. Welche Sucht wir wählen,
hängt wiederum von unserer Lebenssituation und der Art der Belastungen ab.
Gegen Ängste, Stress und Hoffnungslosigkeit wirken am besten Alkohol und
Tabletten. Gegen Selbstzweifel hilft Sex. Bei Eintönigkeit sind Computer,
Kaufen und Essen die Mittel der Wahl. Harte Drogen wie Heroin, Kokain und
Designerdrogen nehmen hier eine Sonderstellung ein. Sie schleichen sich
nicht ein, sondern machen süchtig ohne psychischen Anlass. Der User hängt
bereits nach dem zweiten oder dritten Kick am Fliegenfänger. Die Motive
aber werden identisch: Flucht aus der Realität, hinein in ein anderes
Selbst, für das die aktuellen Probleme nicht existieren. Das gilt bedingt
auch für masochistische Süchte wie Anorexie, Bulimie oder Ritzen.
Weil die Deutschen ohne krankhafte Sucht sich nicht bewusst sind, dass sie
jederzeit umkippen können, halten sie sich für stark und gefestigt, dicht
an der Unfehlbarkeit. Zugleich entwickeln sie Ressentiments gegenüber den
Schwächlingen, die ihren Suff oder ihre Tablettenfresserei nicht abstellen
können.
Das am meisten verbreitete Vorurteil ist zugleich der gern genommene
Vorwurf: "Wenn du wirklich willst, kannst du aufhören. Aber du willst ja
nicht!" Jeder Suchtkranke hat sich schon hundert Mal gewünscht, wieder frei
zu sein von den Fesseln, die ihm seine Abhängigkeit anlegt. Genauso oft hat
er sich geschworen: "Morgen höre ich auf mit der elenden Scheiße." Aber ihm
fehlt die Kraft. Als sich die Sucht bei ihm einschlich, hätte er sie noch
gehabt. Doch er erkannte nicht die Gefahr, in der er sich befand - wollte
sie nicht erkennen. ("Ich ein Alkoholiker? Nie und nimmer!") Irgendwann kam
es zum Kontrollverlust. Das ist der Moment, in dem die Sucht endgültig
Macht über ihn gewinnt. Er muss trinken, spielen, kaufen oder essen. Sein
Wille flackert zwar hin und wieder auf, ist aber so stark wie eine
Kerzenflamme bei Windstärke zehn. Erst wenn er körperlich und psychisch am
Ende ist oder wenn er keine Möglichkeiten mehr hat, seine Sucht zu
befriedigen, kommt es zur Einsicht und zum Überlebenswillen. Schließlich
hat er nur drei Möglichkeiten: in die Gosse, in die Klapse oder in den
Sarg. Zwar gibt es Menschen, die vor dem finalen Absturz zurück in die
Normalität finden. Aber das sind die wenigsten.
Das zweite Vorurteil: Wenn der Suchtkranke schon keinen eigenen Willen hat,
braucht er Druck von außen. Also Bitten, Ermahnungen, Beschimpfungen und
schließlich Drohungen: "Morgen bin ich weg, wenn du nicht aufhörst. Das
schwöre ich dir." Noch nutzloser sind Verfolgungen mit Szenen in der Kneipe
oder in der Spielhalle. Am dümmsten aber ist es, dem Suchtkranken seinen
Stoff zu entziehen, also den Alkohol wegzuschütten, ihm das Geld
wegzunehmen (solange es sein eigenes ist), den Kühlschrank leer zu räumen
oder den PC verschwinden zu lassen. Die Betroffenen entwickeln nicht nur
Hass, sondern auch eine unglaubliche Energie, neue Wege der
Suchtbefriedigung zu finden. Notfalls über kriminelle Handlungen.
Das dritte Vorurteil: Suchtkranke müssen einen harten Entzug durchmachen.
Erst dann sind sie bereit, ihr "Laster" aufzugeben. Jeder Mediziner für
Suchterkrankungen weiß, wie nutzlos ein harter Entzug ohne medikamentöse
Unterstützung ist. Zwar erzeugen "kalte" Entgiftungen von Alkohol,
Tabletten und Drogen einen hohen Leidensdruck. Doch gerade er ist häufig
Ursache für den Rückfall. Der Betroffene will nur eins: den Horror
vergessen, den er gerade durchgemacht hat. Außerdem sind kalte Entzüge bei
stoffbedingten Süchten brandgefährlich. Wer unter einer verhaltensbedingten
Sucht leidet (Spielen, Kaufen, Sex, Computern, Fressen, Hungern usw.), hat
während des Entzugs zwar weniger körperliche Qualen. Die psychische
Belastung ist aber mindestens genauso groß und muss in den Anfängen
ebenfalls mit Medikamenten behandelt werden.
Das vierte Vorurteil: Der Weg aus der Sucht führt nur über eine
Selbsthilfegruppe. Für viele Kranke ist das zutreffend. Besonders dann,
wenn sie ihr soziales Umfeld verloren haben. Die Gruppe wird zur großen
Familie, die ihnen zuhört und die ihnen Verständnis entgegenbringt. Schon
das Gefühl "Denen geht es wie mir" ist Trost und Hilfe. Problem: Viele
Gruppen werden zu Mini-Sekten mit der alleinigen Heilslehre, nicht mehr zu
trinken, zu kiffen oder zu spielen. Die Abhängigkeit von Stoffen oder
Handlungen wird ersetzt durch die Abhängigkeit vom fortwährenden Credo,
nicht mehr abhängig zu sein. Auf viele Kranke wirkt das abstoßend. Sie
gehen eigene Wege, indem sie - mit oder ohne therapeutischen Beistand -
neue Lebensziele suchen und finden. Und sei es nur als Putzhilfe in einem
Altenheim.
Das fünfte Vorurteil: Süchte, und hier vor allem der Alkoholismus, sind
Krankheiten der Unterschicht. Tatsächlich ist der Anteil der Suchtkranken
bei Ärzten, Professoren, Anwälten, Piloten, Managern oder Politikern
genauso hoch wie bei Hartz-IV-Empfängern. Es handelt sich fast immer um
Berufsgruppen, die extrem abhängig sind vom Erfolg und dem Verhalten
anderer Menschen. Ihre Suchterkrankungen sind nur weniger auffällig, weil
sie nicht in Absturzkneipen und auf der Straße ausgelebt werden, sondern in
besseren Bars, Kantinen, Casinos, Etablissements oder im gepflegten
Zuhause. Außerdem gibt es 7,4 Millionen Hartz-IV-Empfänger in Deutschland,
aber nur 310.000 Ärzte und Ärztinnen oder 150.000 Anwälte. Rein statistisch
ist die Zahl der Süchtigen in fast allen Berufs- und Bevölkerungsgruppen
gleich. Nur haben sie in der sogenannten Oberschicht ein besseres soziales
Umfeld, sind nach außen hin geschützt und bekommen schnellere und bessere
ärztliche Hilfe.
Das sechste Vorurteil: Die Ursachen für Suchterkrankungen liegen in der
Kindheit. Das ist nichts als ein frommer Wunsch der deutschen Therapeuten,
die zu 90 Prozent von Suchterkrankungen überfordert sind. Der Kranke lebt
im Jetzt. Er trinkt, spielt oder kauft im Jetzt. Und nur im Jetzt kann er
damit aufhören. Viele Menschen werden erst zwischen vierzig und fünfzig
nach dramatischen Lebenskrisen krankhaft abhängig (Tod eines Angehörigen,
Trennung, Verlust des Arbeitsplatzes, Mobbing, finanzieller Ruin o. Ä.).
Nach der Theorie vom Kindheitstrauma müssten sie nach der Milchflasche und
der Coladose direkt zur Schnapsflasche greifen.
Bleibt die Frage der Fragen: Wie kommt der Suchtkranke raus aus dem
Teufelskreis, wenn Restriktionen, brutale Entzüge, Gruppen, Therapeuten und
auch Langzeittherapien entweder gar nicht oder nur vorübergehend helfen?
Bei Alkohol und Drogen zum Beispiel bleiben nur 10 bis 15 Prozent trocken
bis zu einem normalen Lebensende. Einen Königsweg gibt es nicht. Aber eine
Richtung. Und die lautet nicht Kapitulation, wie sie von anonymen
Selbsthilfegruppen gepredigt wird. Sondern Veränderung.
Der Suchtkranke, der seine Krankheit immer mit sich herumträgt, muss sich
ein Ziel setzen. Das darf nicht sein, nicht mehr zu trinken, nicht mehr zu
spielen oder nicht mehr dem Sex nachzurennen. Sondern wieder zu leben. So,
wie er früher alles der Sucht untergeordnet hat, muss er für dieses Ziel
arbeiten. Schritt für Schritt. Er muss seine süchtige Umgebung verändern.
Am besten, indem er sie verlässt.
Hat er dazu keine Möglichkeit, beginnt er in seinen vier Wänden, indem er
sie aufräumt und umgestaltet. Er muss sich von seinem süchtigen Umfeld
trennen, also von "Freunden", die mit ihm die Sucht gelebt haben. Er
sollte, wenn es notwendig ist, den Arbeitsplatz wechseln, notfalls auch den
Beruf. Es kann sogar sein, dass er seinen Partner verlassen muss, zumindest
vorübergehend. Die Verletzungen, die sie sich gegenseitig zugefügt haben,
sitzen tief. Doch das Entscheidende: Er braucht eine Aufgabe, die ihm
Befriedigung verschafft. Auch hier kann er in den eigenen vier Wänden
anfangen, indem er sie zum Beispiel gründlich renoviert. Er kann alten
Interessen und Hobbys nachgehen, die von der Sucht brachgelegt wurden. Er
kann sich bei sozialen Einrichtungen melden und sagen: "Braucht ihr
jemanden, der euch hilft?"
Doch das Wichtigste: Wenn er weiß, dass er stabil ist, kann er sich denen
zuwenden, die er wieder und wieder enttäuscht hat und von denen er darum
verlassen wurde. Sie werden ihn nicht zurückweisen.
14 Apr 2009
## AUTOREN
Reinhard Siemes
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