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# taz.de -- Von höheren Vätern
Sigmund Freuds Verhältnis zum Judentum blieb zeitlebens ambivalent. Jude
wurde er erst durch den Antisemitismus
VON PHILIPP GESSLER
Der Junge ist etwa zehn Jahre alt, als der Vater die Geschichte erzählt:
„Als ich ein junger Mann war, bin ich in dem Geburtsort am Samstag in der
Straße spazieren gegangen, schön gekleidet, mit einer neuen Pelzmütze auf
dem Kopf. Da kommt ein Christ daher, haut mir mit einem Schlag die Mütze in
den Kot und ruft dabei: ‚Jud, herunter vom Trottoir!‘ “ Was er gemacht
habe, fragt der Junge. „Ich bin auf den Fahrweg gegangen und habe die Mütze
aufgehoben“, antwortet der Vater. Der Junge ist enttäuscht. „Das schien mir
nicht heldenhaft von dem großen starken Mann“, notiert der Junge als
erwachsener Mann. Er habe sich damals anderen Vorbildern zugewandt – und
vielleicht war diese Enttäuschung über den Vater die Geburtsstunde der
Psychoanalyse.
Sigmund Freud war der Junge, die Anekdote hat er in seinem Werk „Die
Traumdeutung“ im Jahr 1900 veröffentlicht. Eine Geschichte seines Vaters
wurde für Freud zu einem prägenden Erlebnis. Doch in dieser doppelten
Erinnerung von Vater und Sohn geht es nicht nur um mannhaftes Verhalten.
Auch Religion wird hier verhandelt. So prägte der Vater Jacob Freud auch
Sigmund Freuds Bild vom Judentum. Zeitlebens blieb das Verhältnis des
Psychoanalytikers zu seiner Religion ambivalent – oder besser gesagt,
dialektisch. Was sowohl zum Judentum wie auch zur Psychoanalyse passt.
Wie schon in seiner Reaktion auf die Anekdote des Vaters angedeutet ist:
Freuds Judentum war durch den Blick anderer Menschen geprägt. Etwas
überspitzt könnte man sagen: Je mehr die Antisemiten hetzten, umso mehr
bekannte sich Freud zum Judentum.
Typisch ist, wie er seinen Studienbeginn 1873 fast 50 Jahre später
beschreibt: „Vor allem traf mich die Zumutung, dass ich mich als
minderwertig und nicht volkszugehörig fühlen sollte, weil ich Jude war. Das
erstere lehnte ich mit aller Entschiedenheit ab. Ich habe nie begriffen,
warum ich mich meiner Abkunft oder, wie man zu sagen begann: Rasse schämen
sollte.“ Und dann fügt er voll Stolz hinzu: „Auf die mir verweigerte
Volksgemeinschaft verzichtete ich ohne viel Bedenken.“ Noch klarer hat er
es 1926 formuliert: „Meine Sprache ist Deutsch. Meine Kultur, meine
Errungenschaften sind deutsch. Geistig betrachtete ich mich als einen
Deutschen, bis ich die Zunahme antisemitischer Vorurteile in Deutschland
und Deutschösterreich bemerkte. Seither bezeichne ich mich lieber als
Juden.“
Freud hat seine jüdische Herkunft nie verleugnet, aber offensichtlich sein
sollte sie nicht. Dazu passt, dass er als junger Mann seinen Namen leicht
veränderte: Aus Sigismund Schlomo Freud wurde Sigmund Freud. Der Name
Sigismund war damals häufiger Gegenstand antisemitischer Witze. Das
hebräisch-jiddische Schlomo ließ er ganz weg. Opportunistisch wirkt auch
seine Mitgliedschaft im Leseverein der deutschen Studenten Wiens, der
deutsch-nationalistisch und latent antisemitisch war. Persönliche
antisemitische Attacken aber brachten ihn auf. Studenten, die er für
intelligenter hielt, griffen den jungen Freud als „elenden Juden“ an. Er
rief ihnen „Gesindel“ hinterher. Er habe, schrieb er stolz, da wohl den
Trotz und die Leidenschaft seiner Glaubensväter bei der Verteidigung des
Tempels geerbt.
Freud will stolz sein auf sein Judentum – aber hindern soll es ihn nicht.
Dabei half ihm, dass er als Naturwissenschaftler, wie er sich selbst mit
Verve sah, allen Religionen generell misstraute. Gott ist für ihn,
formulierte er einmal gut psychoanalytisch, „im Grunde nichts anderes als
ein erhöhter Vater“. In einer Korrespondenz spricht er 1918 von sich selbst
als einem „ganz gottlosen Juden“ – und weiß gleichwohl „das Schöne der
Religion“ zu würdigen. Bei einer Feier zu seinem 70. Geburtstag erklärte
Freud – und hier ist der Imperfekt nicht zu überlesen: „Ich war Jude, und
es war mir immer nicht nur unwürdig, sondern direkt unsinnig erschienen, es
zu verleugnen.“ Ist das der Kern: Judentum ja, Gott nein?
Freud trat kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert der jüdischen
B’nai-B’rith-Loge in Wien bei – und blieb ihr bis zu seiner Auswanderung
1938 nach London verbunden. Anlass des Beitritts sollen dabei auch die
antisemitischen Wahlkampagnen Karl Luegers für das Amt des Wiener
Bürgermeisters gewesen sein. Freud war anfangs ein sehr aktives
Logenmitglied, hielt dort 13 Vorträge zu seinem Fach und lobte seine
Logenbrüder: „Ich wurde einer von Euch, mich in Eurer Sympathie sonnend,
als ich den Ort aussuchte, an dem ich beinahe ohne Fehl sicher war, Freunde
zu finden, wenn ich von extremer Feindseligkeit umgeben war.“
Freuds Judentum war in erster Linie ein Bekenntnis zu seiner kulturellen
Herkunft, eine spirituelle Erfahrung fehlte. Während seiner Behandlungen
erzählte er gern jüdische Witze und wusste sie auch mit einem profunden
Wissen über jüdisches Leben und jüdische Schriften zu deuten. In einem
Brief an Arnold Zweig sprach er einmal von seinem „jüdischen Bewusstsein“ …
die Prägungen waren ihm bewusst. Es gebe „gewiss große Unterschiede zum
arischen Geist“, räumte er intern ein. „Wir überzeugen uns alle Tage
davon.“ An seinen Freund Karl Abraham schrieb Freud, dieser stehe „meiner
intellektuellen Konstitution durch Rassenverwandtschaft näher“ als sein
Schüler Carl Gustav Jung.
Zugleich wehrte er sich dagegen, dass seiner neuentwickelten Wissenschaft
das Etikett „jüdisch“ verpasst wurde, es wäre damals eine offene Flanke
gewesen. Besonders deutlich wird dies am Fall Jung. Obwohl die erste
Generation der Psychoanalytiker vor allem durch Juden geprägt war, die vor
der Drangsalierung im Zarenreich in das liberalere Habsburger Reich
geflohen waren, wollte Freud unbedingt Jung, Sohn eines Pastors, als
Präsidenten der 1910 gegründeten Internationalen Psychoanalytischen
Gesellschaft. Sein offensichtliches Kalkül: Die Psychoanalyse sollte auch
personell nicht als „jüdische Wissenschaft“ auftreten.
Schon recht früh drückte er gegenüber Karl Abraham seine Hoffnung aus, Jung
könnte die Psychoanalyse davor „retten“, wie er schrieb, als
„jüdisch-nationale Angelegenheit“ betrachtet zu werden. Die Nazis
verbrannten später gleichwohl Freuds Schriften, weil sie Grundlage einer
„jüdischen Wissenschaft“ seien. Freud scheint den Widerstand gegen seine
Psychoanalyse aus antisemitischen Gründen früh wahrgenommen oder geahnt
haben. So schrieb er 1908 an Karl Abraham: „Seien Sie versichert, wenn ich
Oberhuber hieße, meine Neuerungen hätten weit geringeren Widerstand
gefunden.“
Die Einschätzung hat etwas für sich, bedenkt man, wie gern seine
Zeitgenossen bei ihrer Kritik an der Psychoanalyse offen oder verdeckt auf
den jüdischen Hintergrund ihres Gründers hinwiesen. Andersherum aber wird
wohl auch ein Schuh daraus: Es mag sein, dass solch ein umstürzlerisches
Projekt wie die Psychoanalyse mit seinen gravierenden Auswirkungen auf die
Natur- und Geisteswissenschaften seiner Zeit am ehesten durch jemand
entstehen konnte, der selbst wegen seines Judentums außerhalb der
christlichen Mehrheitsgesellschaft stand. Dieser Blick von außen hilft –
nicht zuletzt weil die Mehrheit dazu neigt, die Leiden der Minderheit zu
übersehen, während sie von Mitgliedern der Minderheit selbst am ehesten
registriert werden.
Wenig erstaunlich, dass die Kritik der Bürgerlichkeit und ihrer
Vorstellungen von Normalität bei Freud schon früh angelegt ist – auch dies
macht einen Teil seiner bleibenden Attraktivität für alle aus, die
antibügerlich oder radikal denken wollen. Dass manche in der Psychoanalyse
allerdings so etwas wie einen Religionsersatz sahen, war Freud ein Graus:
„Mich aber sollten Sie für keinen Religionsstifter halten“, schrieb er
einmal an Jung.
Freud war, siehe seine „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“, skeptisch
gegenüber all dem, was auch im Judentum als sexuell „normal“ vorgegeben
ist. Freuds zumindest angedeutete Kritik an angeblich üblichen sexuellen
Normierungen und dynastischen Vorstellungen „seiner“ Religion wird jedoch
in gewisser Weise konterkariert durch die Betonung der familiären Prägung
in der Psychoanalyse. Anders gesagt: Wer die Bedeutung der Familie im
Judentum kennt, wundert sich keine Minute, dass es ausgerechnet ein
säkularer Jude war, der die Psychoanalyse mit ihrer Familienfixierung
erdachte.
Wenn es aber um die Wissenschaft ging, war Freud strikt: „Besondere arische
und jüdische Wissenschaft dürfe es aber nicht geben.“ Kühl schrieb er 1910:
„Auf die Äußerungen des Talmud über die Traumprobleme bin ich wiederholt
aufmerksam gemacht worden. Ich muss aber sagen, dass die Annäherung an das
Verständnis des Traumes bei den alten Griechen eine weit auffälligere ist.“
Freud wollte mit seiner Wissenschaft nicht in den damaligen antisemitischen
Diskurs passen, der Juden als Verkörperung der Modernität, als Störer und
Zersetzer sah. Es scheint, als habe er das Thema Judentum geradezu
gemeiden. Und wenn er sich doch einmal einem „jüdischen“ Motiv widmete,
etwa der Figur Mose in seinem Werk „Der Mann Moses und die monotheistische
Religion“, so ging das, zumindest exegetisch gesehen, ziemlich daneben.
Seine Tochter übrigens war beim Thema „jüdische Wissenschaft“ gelassener:
Als an der Hebrew University in Jerusalem 1977 der weltweit erste Lehrstuhl
für Psychoanalyse eingerichtet wurde, sprach Anna Freud von einer
„jüdischen Wissenschaft“ – und erklärte dies zu einem Ehrentitel. Am be…
hat Freud sein zwiespältiges Verhältnis zum Judentum selbst auf den Punkt
gebracht, und zwar in der Vorrede zur hebräischen Ausgabe von „Totem und
Tabu“, erschienen 1934. Darin schrieb er: „Keiner der Leser dieses Buches
wird sich so leicht in die Gefühlslage des Autors versetzen können, der die
heilige Sprache nicht versteht, der väterlichen Religion – wie jeder
anderen – völlig entfremdet ist, an nationalistischen Idealen nicht
teilnehmen kann und doch die Zugehörigkeit zu seinem Volk nie verleugnet
hat, seine Eigenart als jüdische empfindet und sie nicht anders wünscht.“
Und selbstzweifelnd fügte Freud hinzu: „Fragte man ihn: Was ist an dir noch
jüdisch, wenn du alle diese Gemeinsamkeiten mit deinen Volksgenossen
aufgegeben hast, so würde er antworten: Noch sehr viel, wahrscheinlich die
Hauptsache. Aber dieses Wesentliche könnte er gegenwärtig nicht in klare
Worte fassen.“ Freud und das Judentum – das blieb dem Meister der
Innensicht selbst stets ein Rätsel.
PHILIPP GESSLER, Jahrgang 1967, ist Autor im Schwerpunktressort der taz
16 Dec 2006
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PHILIPP GESSLER
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