# taz.de -- Utopische Szenarien: Die Chance des Fehlers | |
> Ursula Le Guins utopische Welt ohne Eigentum und Regierung ist | |
> zwiespältig. Ausgrenzende Kontrollmechanismen gibt es trotzdem. | |
Bild: Mietfreie Utopia-Insel Neu-Lummerland in der Rummelsburger Bucht, Berlin.… | |
## DIE UTOPIE | |
von Ursula Le Guin | |
Im dritten urrasischen Jahrtausend hatten die Astronomenpriester von | |
Serdonou und Dhun beobachtet, wie sich das helle Lohbraun der Anderwelt mit | |
der Jahreszeit wandelte, und den Ebenen und Bergzügen und sonnespiegelnden | |
Meeren mystische Namen gegeben. Eine Region, die vor allen anderen im neuen | |
Mondjahr grün wurde, nannten sie Ans Hos, Garten des Geistes: das Eden von | |
Anarres. | |
In späteren Jahrtausenden hatten Fernrohre ihnen recht gegeben. Ans Hos | |
erwies sich tatsächlich als schönster Fleck von Anarres, und das erste | |
bemannte Schiff zum Mond landete dort auf dem grünen Landstrich zwischen | |
den Bergen und dem Meer. | |
Doch das anarresische Eden erwies sich als trocken, kalt und windig und der | |
Rest des Planeten als noch unwirtlicher. Die Evolution war nicht über | |
Fische und blütenlose Pflanzen hinausgegangen. Die Luft war so dünn wie die | |
Luft auf Urras in sehr großer Höhe. Die Sonne brannte, der Wind war eisig, | |
der Staub verstopfte die Atemwege. | |
[... Im] Jahr 771 wurde im Rat der Weltregierungen vorgeschlagen, den Mond | |
dem Internationalen Verband der Odonier zu überlassen – sich mit einer Welt | |
von ihnen loszukaufen, bevor sie die herrschenden Gesetze und die | |
Souveränität der Nationalstaaten auf Urras vollständig untergruben. | |
Anarres-Stadt wurde evakuiert, und aus Thu wurden inmitten des Chaos ein | |
paar letzte Raketen losgeschickt, um die Goldgräber abzuholen. Nicht alle | |
entschlossen sich zur Heimkehr. Einigen gefiel die stürmische Einöde. | |
Über zwanzig Jahre pendelten die zwölf Schiffe, die den odonischen | |
Aussiedlern vom Rat der Weltregierungen bewilligt worden waren, zwischen | |
den Welten hin und her, bis die Million Seelen, die sich zu dem neuen Leben | |
entschlossen hatten, vollständig über den Abgrund der Leere befördert | |
worden waren. Dann wurde der Hafen für Einwanderer geschlossen und blieb | |
nur mehr für die Frachtschiffe des Handelsabkommens geöffnet. In dieser | |
Zeit war die Bevölkerung von Anarres-Stadt auf hunderttausend angewachsen, | |
und der Ort war in Abbenay umbenannt worden, ein Name, der in der neuen | |
Sprache der neuen Gesellschaft „Geist“ bedeutete. | |
[…] Die Gebäude der Stadt waren einander fast durchweg ähnlich: schlichte, | |
solide Bauten aus Stein oder gegossenem Schaumstein. Einige wirkten in | |
Sheveks Augen ziemlich groß, doch wegen der häufigen Erdbeben war kaum | |
eines mehr als eine Etage hoch. Aus demselben Grund waren die Fenster klein | |
und aus einem zähen Silikonkunststoff, der nicht zersplitterte. Sie waren | |
klein, aber zahlreich, denn es gab von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang | |
und je eine Stunde davor und danach kein künstliches Licht. Wenn die | |
Außentemperatur 13 Grad Celsius überstieg, wurde nicht geheizt. Der Grund | |
war nicht, dass in Abbenay mit seinen Windturbinen und dem von | |
Erdwärme-Differenz-Generatoren die Energie knapp gewesen wäre, sondern | |
vielmehr, dass sämtliche Bereiche der Gesellschaft zu sehr vom Prinzip | |
organischer Wirtschaftlichkeit geprägt waren, als dass Ethik und Ästhetik | |
hätten ausgenommen sein können. »Exzess ist Exkrement«, hatte Odo in der | |
Analogie geschrieben. »Exkremente, die im Körper verbleiben, sind Gift.« | |
Abbenay war giftfrei: eine schlichte Stadt, blankgeputzt, die Farben hell | |
und hart, die Luft rein. Sie war still. Sie war ganz und gar zu sehen, lag | |
so offen da wie verschüttetes Salz. | |
Nichts war verborgen. | |
Ursula K. Le Guin: Freie Geister. Eine zwiespältige Utopie. Frankfurt am | |
Main: FISCHER Tor 2017 (übers. v. Karen Nölle, amerikanisches Original | |
1974), S. 106-108, 111f. | |
## WAS AUS DER UTOPIE WIRD | |
von Zoë Herlinger | |
Anderthalb Jahrhunderte vor der Zeit, in der Ursula Le Guins »zwiespältige | |
Utopie« spielt, hat sich eine Gruppe von Revolutionären des Planeten Urras | |
auf den Mond Anarres abgesetzt, um dort eine anarchistische Utopie zu | |
verwirklichen. Nun, nach mehreren Generationen der Trennung, gibt es einen | |
ersten persönlichen Kontakt zwischen den beiden Gesellschaften: Shevek, ein | |
anarresischer Physiker, macht sich nach Urras auf, um seine Erkenntnisse | |
mit den Forschern der alten Welt zu teilen. | |
Er kommt nicht als Diplomat oder Gesandter seines Landes, denn in dem gibt | |
es weder eine Zentralregierung noch Nationalstaatlichkeit. Im Gegenteil | |
reist er unter dem Protest seiner Planetsleute ab, die ihm einen Verrat am | |
anarresischen Experiment unterstellen. Auf Urras lernt Shevek eine reiche | |
Welt kennen: reich, weil er in den Genuss des luxuriösen Lebens der | |
aristokratischen Oberklasse kommt. Reich aber auch, weil der Planet selbst | |
paradiesisch opulent ist. Die Natur ist üppig und bunt, Vögel zwitschern, | |
Wälder sprießen – kein Vergleich zu der staubtrockenen Ödnis auf Anarres, | |
wo Hungersnöte und Ressourcenknappheit selbst bei gerechtester Verteilung | |
zum Alltag gehören. | |
Trotz seines Komforts und Pomps kommt Urras schlecht weg. Eigentum und | |
Dominanzstreben haben den Planeten korrumpiert; Stellvertreterkriege, | |
Ungleichheit und Ressourcenverschwendung werden vor einer hübschen Kulisse | |
nicht unschuldiger. | |
Aber auch Anarres ist nicht perfekt. Nicht nur das Klima des Planeten ist | |
harsch und unwirtlich, auch menschlich hat die Utopie Mängel. Mobbing und | |
Ausgrenzung sind wirksame Sanktionen in einer Welt, in der das Kollektiv | |
alles zählt. Und überall dort, wo es Expertise braucht, sprießen Türhüter | |
und sich selbst stabilisierende Kontrollzentren. Die Staatsgewalt ist bloß | |
einer informelleren Macht gewichen. | |
Die Frage, die Le Guin in ihrem Roman stellt, ist die nach der Freiheit. | |
Sie wird wesentlich zwiespältiger beantwortet als in diversen Space Operas, | |
die die Legende von der westlichen freien Welt gegen die Tyrannei schlecht | |
versteckt in Weltraumkriegen wiederholen. Wie Shevek als Außenseiter beider | |
Planeten zu spüren bekommt, haben beide ihre jeweils spezifischen Mauern. | |
Urras baut die seinen gegen Besitzlose, Frauen und Fremde, obwohl es frei | |
von jeder existenziellen Not sein könnte; Anarres ist zwar frei von | |
Ausbeutung und den Zwängen des Geldes, unterliegt dafür einer stillen | |
Herrschaft von Sozialkontrolle und gesellschaftlicher Konvention. | |
Wenn Anarres am Ende doch die Herzen gewinnt, dann, weil die imperfekte | |
Utopie eine Chance des Fehlers offenlegt: nämlich Wandel und Neuordnung zu | |
erlauben, im Gegensatz zu den uralten Herrschaftsverhältnissen auf Urras, | |
die mit Geld und Waffen gewaltsam verteidigt werden müssen. Die odonische | |
Philosophie, auf der die anarresische Gesellschaft fußt, schreibt eine | |
fortwährende Revolution vor: Das heißt, wachsam für die wortwörtliche Macht | |
der Gewohnheit zu bleiben und die Bürokratie als einziges | |
Ordnungsinstrument immer und immer wieder neu zu bauen. | |
Le Guins Welt ohne Eigentum und Regierung ist nicht konfliktlos, nicht | |
macht- oder fehlerfrei. Ihre klügsten Bewohner*innen wissen das und leiten | |
daraus ein radikal demokratisches Versprechen ab: dass ein System sich den | |
Menschen anpasst, aus denen es besteht, und nicht umgekehrt. | |
18 Feb 2021 | |
## AUTOREN | |
Zoë Herlinger | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |