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# taz.de -- Über gegenwärtige Kriegsführung: Die Geister des Krieges
> Seit dem 11. September ist häufig die Rede von "Neuen Kriegen". Dabei
> sind diese Kriege weder neu, noch ist die Asymmetrie ein exklusives
> Merkmal gegenwärtiger Kriegsführung.
Bild: ISAF-Hubschrauber in Afghanistan: "Jede Besatzungsarmee sitzt in einer Fa…
BERLIN taz | Seit längerer Zeit schon herrscht Konfusion darüber, was Krieg
meint. Mit modernsten Kampfflugzeugen bombardierte die israelische
Luftwaffe 2008/09 Häuser im Gazastreifen. Die Hamas feuerte mit relativ
primitiven Geschossen Marke Eigenbau auf israelische Siedlungen. Der
Politikwissenschaftler Herfried Münkler sprach von "Häuserkämpfen, in denen
eine tendenzielle Symmetrie zwischen israelischem Militär und
Hamas-Kämpfern herrscht" (Frankfurter Rundschau vom 15. 1. 2009). Der
Israel-Kenner Josef Joffe dagegen meinte fast gleichzeitig, "statt in die
Falle des Straßenkrieges zu laufen, machen sich die Israelis die
,asymmetrische Kriegführung' zu eigen" (Die Zeit vom 31. 12. 2008). Reden
die beiden vom selben Krieg? Ist "tendenzielle Symmetrie" dasselbe wie
geschickt genutzte "Asymmetrie"?
Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 ist die Rede von "neuen Kriegen"
oder "asymmetrischen Kriegen" im Leitartikelwesen epidemisch geworden. Der
US-Präsident George W. Bush rief einen "Krieg gegen den Terrorismus" aus.
Und auch diese Formel wurde zum Gemeinplatz, obwohl jeder Leutnant weiß,
dass man gegen Terroristen keinen Krieg führen kann. Erfolgversprechend und
rechtstaatlich zulässig sind einzig polizeiliche Methoden der Ermittlung
und Verfolgung von Straftätern und ihren Komplizen. Haben wir es, wie der
Titel eines Buches von Herfried Münkler suggeriert, seit dem 11. September
mit einem "Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie" zu tun?
Es müssen drei Ebenen unterschieden werden: Erstens: Vom Kriegstheoretiker
Carl von Clausewitz (1780-1831) stammt der Satz: "Der Krieg ist das Gebiet
des Zufalls." Jede Kriegsstrategie und -taktik zielt darauf, nach Kräften
Asymmetrien auszunutzen, das heißt Schwächen des Gegners mit eigenen
Stärken zu begegnen. Insofern gehört die Asymmetrie zu jedem Krieg wie die
Kriegslist, die Überraschung und der Hinterhalt.
Das bedeutet aber nicht, dass es keine Unterschiede gäbe zwischen Kämpfen,
die Armeen gegeneinander führen, Operationen von Terroristen gegen reguläre
Armeen und Operationen regulärer Armeen gegen Terroristen. Asymmetrien
spielen in allen drei Kampfformen eine Rolle, aber die Behauptung einer
grundsätzlichen Differenz zwischen "Kriegen" und "neuen" oder
"asymmetrischen Kriegen" ist eine reine Chimäre. Eine differentia specifica
- also ein in der Sache selbst begründeter und artbildender Unterschied
zwischen "Kriegen" und "neuen Kriegen" - existiert nicht, und die
Ausnützung von Asymmetrien in allen Kampfformen ist schon gar nicht neu.
Das belegen auch die eben vom Spiegel und anderen Zeitungen
veröffentlichten geheimen Dokumente über den Krieg in Afghanistan. Die
Taliban verfügen über moderne Stinger-Boden-Luft-Raketen, und die
US-Spezialtruppe "Task Force 373" tötet gelegentlich so archaisch wie eine
Gruppe von Terroristen.
Bereits der chinesische Philosoph Sun Tsu bestimmte in seiner "Kriegskunst"
(um 510 v. Chr.) die Asymmetrie als das Wesen aller Kriege: "Bestimme ich
die Stärken des Feindes, während meine Gestalt nicht wahrnehmbar erscheint,
so kann ich meine Stärke konzentrieren, während der Feind unvollständig
ist." Ob bei der Plünderung Roms 1527 durch die Warlords des christlichen
Kaisers Karl V. oder bei den Feldzügen des Kriegsunternehmers Albrecht
Wenzeslaus von Wallenstein auf eigene oder kaiserliche Rechnung im
Dreißigjährigen Krieg (1618-48) - immer wurden Schwächen des Gegners durch
eigene Stärken - also Asymmetrien - nach der Definition von Sun Tsu
ausgenutzt.
Zweitens: Dass es in jedem Krieg um Asymmetrien geht, bedeutet nicht, dass
sich kein Wandel vollzogen hat vom klassischen Krieg zwischen Staaten zum
Krieg, in dem es staatliche Armeen mit irregulären Einheiten zu tun
bekommen. Klassische Kriege zwischen Staaten sind seltener geworden, Kriege
zwischen staatlichen Armeen und quasistaatlichen Verbänden aller Art haben
zugenommen. Da mögen neue Asymmetrien hinzugekommen sein, allerdings hat
keine einzige einen eigenen Typus "asymmetrischer Krieg" ausgebildet.
Die irregulären Einheiten können unterschiedliche Formen und
Größenordnungen annehmen: von kleinen Terrorgruppen wie der RAF, die trotz
ihres Namens keine Minute lang eine Armee war, die Krieg führte, bis zu
militärisch organisierten und kämpfenden Einheiten in Guerillakriegen.
Heute stoßen Besatzungsregimes auf Widerstand, den sie durch ihre pure
Präsenz verstärken und der sich nur durch den Schutz, den er bei der
Bevölkerung findet, und durch eine schlechtere Ausrüstung von der Krieg
führenden Besatzungsarmee unterscheidet. In Afghanistan nähert sich dieser
Widerstand immer mehr dem klassischen Krieg, was auch offiziell
mittlerweile nicht mehr bestritten wird.
Historische Improvisation
Drittens: Historisch neu ist das alles überhaupt nicht. Der Bezug auf den
11.September ist eine feuilletonistische Floskel beziehungsweise eine
historische Improvisation. Es reicht, den einen oder andern Roman zu lesen
- zum Beispiel Leo Tolstois "Krieg und Frieden" (1868/69).
Tolstoi war nicht nur ein großer Schriftsteller, sondern auch ein Kenner
der neueren "Kriegskunst", die schon Clausewitz mit einem "Handel"
verglich, weil Krieg "ein Konflikt menschlicher Interessen und Tätigkeiten
ist" und damit "der Politik näher steht" als "der Kunst" und "der
Wissenschaft". Tolstoi bewegte sich auf der Höhe der zeitgenössischen
Debatte über den Krieg. Die Kriege, die Tolstoi in seinem Roman beschreibt,
sind diejenigen der "Grande Armée" Napoleons gegen Preußen, Österreich und
vor allem gegen Russland nach 1805.
Am 24. Juni 1812 überquerten die napoleonischen Truppen mit 610.000 Mann
die Memel bei Kowno - die Hälfte waren Nichtfranzosen aus unterworfenen
Gebieten. Die napoleonischen Truppen gewannen die Schlachten bei Smolensk
im August und bei Borodino im September und zogen am 14. September 1812 in
Moskau ein. Vier Tage später setzten die Russen die Stadt selbst in Brand.
Nachdem der Zar Alexander I. mehrere Friedensangebote abgelehnt hatte,
entschloss sich Napoleon Mitte Oktober zum Rückzug - auch aus Respekt vor
dem unerbittlichen "General Winter", für den seine Truppen nicht
ausgerüstet waren. Den Rückzug der nach den beiden Schlachten noch rund
500.000 Mann starken napoleonischen Truppen überlebten bis zum Jahresende
gerade einmal 30.000 Soldaten - und selbstverständlich die hochdekorierte
Entourage Napoleons, die sich besonders eilig in Sicherheit brachte.
Napoleons Invasionsarmee hatte es mit drei Feinden zu tun: mit der arg
lädierten, regulären russischen Armee, mit dem strengen Winter, vor allem
aber mit der russischen Bevölkerung und mit irregulären paramilitärischen
Verbänden. Der Bevölkerung und diesen Verbänden setzte Tolstoi in seinem
Roman ein Denkmal.
Nach dem Brand von Moskau verkauften russische Bauern ihren Heuvorrat nicht
mehr für gutes Geld an die französische Kavallerie, sondern verbrannten
oder versteckten ihn in den Wäldern. Hungernde Pferde sind genauso nutzlos
im Krieg wie hungernde Soldaten unberechenbar. Wegen der irregulären
Verbände, die russische Adlige mit versprengten Soldaten, Kosaken und
einfachen Bauern bildeten, verlief der Kampf nun nicht mehr nach den Regeln
der alten Kriegskunst, gemäß derer sich Linientruppen in geometrischen
Formationen, wie in Manövern durchexerziert, aufstellten und - nur bei
Tageslicht - zum Angriff antraten, dem Gegner auswichen oder sich
zurückzogen.
Knüppel statt Florett
Tolstoi vergleicht den 1812 eingetretenen Wandel der Kampfführung mit einem
Fechtkampf, in dem ein Kontrahent das elegante Florett plötzlich gegen den
"Knüppel" austauscht und sich nicht mehr für Fechtregeln, sondern nur noch
"für das Umbringen von Menschen" interessiert. "Der Knüppel" schlägt mit
"törichter Einfalt, aber in vollkommener Zweckmäßigkeit". Asymmetrien
gehören also zum Krieg wie das Sterben.
Als "eine der handgreiflichsten und vorteilhaftesten Abweichungen von den
sogenannten Kriegsregeln" beschreibt Tolstoi "das Vorgehen einzelner gegen
zusammengeballte Menschenhaufen". Nur der FAZ-Autor Joseph Croitoru und die
israelische Propaganda halten selbstmörderische Attentate Einzelner immer
noch für eine Erfindung der Hamas. Schon Tolstoi berichtete von der "Frau
eines Dorfältesten" namens Wassilissa, die "Hunderte von Franzosen
totschlug", bevor sie selbst umkam. Sie erklärte damit Napoleon ebenso
wenig den "Krieg", wie die Attentäter vom 11. September der Weltmacht USA
mit "Teppichmessern den Krieg" (Münkler) erklärten.
Die "neuen Kriege" sind weder Kriege noch "asymmetrisch" noch neu. Schon
vor 200 Jahren setzten die russischen Freischärler die Regel außer Kraft,
der Angreifer müsse seine Kräfte im Augenblick des Angriffs konzentrieren.
Sie taten genau das Gegenteil. Sie vereinzelten sich zum Angriff und
zermürbten den Gegner.
Die Generalstabslogik, so Tolstoi, vertraute den Gesetzen der Mechanik,
wonach Kraft ein Produkt ist aus Masse mal Geschwindigkeit: je mehr
Soldaten und Material desto mehr Kraft. Irreguläre Kräfte dagegen bauten
darauf, dass "kleine Verbände ihnen zahlenmäßig überlegene besiegen"
können, weil sie Masse durch Kampfgeist ersetzen: Kosaken und Bauern
schlugen versprengte französische Einheiten und Requisitionskommandos "mit
der gleichen instinktiven Selbstverständlichkeit" tot, mit "der Hunde einen
herrenlos zugelaufenen tollen Hund beißen" (Tolstoi).
Operationen "aus heiterem Himmel" dienten dazu, Waffen, Kriegsmaterial und
Pferde zu erbeuten, aber auch "Zungen", das heißt lebende Soldaten und
Offiziere, aus denen Informationen herausgepresst werden konnten. Tolstois
Romanfigur Tichon "fing und tötete mehr Franzosen" als alle andern. Jede
Besatzungsarmee sitzt in einer Falle. Schlägt sie hart zurück gegen die
Tichons, tötet sie immer auch Unbeteiligte und bringt damit die
Zivilbevölkerung gegen sich auf. Bleibt sie moderat in ihren Aktionen,
verliert sie mehr eigene Soldaten bei den Überfällen der Tichons. Es ist
die Falle, in der auch die Isaf-Truppen stecken.
18 Aug 2010
## AUTOREN
Rudolf Walther
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