# taz.de -- Türkische Militäroffensive in Syrien: Der letzte Trumpf | |
> Erdoğan war innenpolitisch in die Ecke gedrängt, als er den Befehl zum | |
> Einmarsch in Syrien gab. Doch kann die Offensive seine Umfragewerte | |
> steigern? | |
Bild: Ein Fernsehjournalist blickt von der türkischen Seite auf die syrische S… | |
Neun Tage dauerte die Militäroffensive der türkischen Armee in Nordsyrien | |
an, als die Türkei und die USA am Donnerstagabend nach stundenlangen | |
Verhandlungen eine vorläufige Waffenruhe vereinbarten. Binnen 120 Stunden | |
soll sich die YPG-Miliz 30 Kilometer von der Grenze zurückziehen und ihre | |
Waffen abgeben. Mit diesem Deal scheint der türkische Staatspräsident Recep | |
Tayyip Erdoğan an der syrischen Grenze seinen außenpolitischen Zielen | |
nähergekommen zu sein. | |
Seit Langem hatte sich Erdoğan an der von der YPG errichteten autonomen | |
Föderation an der Grenze zur Türkei gestört und wiederholt angekündigt, | |
eine sogenannte Sicherheitszone im syrischen Grenzgebiet einrichten zu | |
wollen. Bereits im vergangenen Jahr hatte die Türkei einen 828 Kilometer | |
langen Sicherheitswall entlang ihrer Landgrenze zu Syrien errichtet, um zu | |
verhindern, dass Kämpfer*innen der YPG die Türkei infiltrieren. Seitdem gab | |
es nach Regierungsquellen bis zum Einmarsch der Türkei in Syrien keinen | |
einzigen Angriff der YPG auf die Türkei. | |
Wenn die Grenze also gesichert ist, warum entschied sich Erdoğan genau zu | |
diesem Zeitpunkt für einen Einmarsch? Um zu verstehen, welche | |
innenpolitischen Auswirkungen die Militäroffensive in der Türkei hatte, | |
muss man sich vor Augen halten, unter welchen Umständen Erdoğan sich für | |
den Krieg entschieden hat. | |
Nachdem die Regierungspartei AKP am 31. März die Kommunalwahlen verloren | |
hatte, ließ Erdoğan auf rechtswidrige Weise die Wahl des Istanbuler | |
Oberbürgermeisters annullieren und wiederholen. Im zweiten Wahlgang gewann | |
der Oppositionskandidat Ekrem İmamoğlu mit deutlichem Vorsprung. Die | |
Unterstützung für Erdoğan sank im September auf unter 50 Prozent. In den | |
drei kurdischen Großstädten Diyarbakır, Mardin und Van ließ Innenminister | |
Süleyman Soylu die Bürgermeister*innen absetzen und stellte die Städte | |
unter kommissarische Verwaltung durch Gouverneure. | |
Nachdem zwei seiner alten Mitstreiter ankündigt hatten, neue Parteien | |
gründen zu wollen, fiel die Unterstützung für Erdoğan, die AKP und die MHP | |
im Oktober weiter. Sowohl innenpolitisch als auch außenpolitisch hatte die | |
Regierungskoalition einige Misserfolge zu verbuchen, während sich die | |
Auswirkungen der Wirtschaftskrise immer deutlicher zeigten. Entsprechend | |
sehen viele Kommentator*innen die Militäroffensive als einen Rettungsschlag | |
des in die Ecke gedrängten Staatspräsidenten. | |
## Kein breites Bündnis gegen Krieg | |
Ein verblüffend hoher Teil der türkischen Bevölkerung unterstützt die | |
Offensive. Das türkische Meinungsforschungsinstitut Areda Survey hat | |
zwischen dem 11. und 14. Oktober mehr als 2.000 Menschen befragt. Rund 76 | |
Prozent stehen hinter dem Militär und 56 Prozent gaben an, die Offensive | |
müsse unter allen Umständen fortgeführt werden. Das breite demokratische | |
Bündnis gegen Erdoğan, von dem in den letzten Monaten zunehmend die Rede | |
war, scheint zumindest kein breites Bündnis gegen Krieg zu sein. | |
Die zunehmend harte Linie, die die AKP-Regierung mit ihrem | |
rechtsnationalistischen Koalitionspartner MHP seit 2015 vor allem gegen die | |
Kurd*innen fährt, findet auch bei Anhänger*innen der Hauptoppositionspartei | |
CHP Anklang. | |
In den türkischen Medien ist die Offensive seit Tag eins sehr präsent. | |
Regierungsnahe Medien berichten live von der Grenze und viele Stücke | |
klingen wie Newsletter der AKP. Abgesehen von der HDP hat sich keine | |
politische Partei gegen den Krieg positioniert. Auch die traditionell | |
armeenahe CHP stimmte im Parlament für die Offensive. Viele Politiker*innen | |
der Partei haben proaktiv von ihren persönlichen Accounts ihre volle | |
Unterstützung für die türkischen Soldaten getweetet. | |
Wer da nicht mitmacht, wird schnell selbst verdächtigt. Das gilt auch für | |
Prominente und Künstler*innen. 200 Menschen wurden festgenommen, weil sie | |
sich kritisch über die Militäroperation geäußert oder gar Nein zum Krieg | |
gesagt haben. 24 von ihnen befinden sich in Untersuchungshaft. Selbst gegen | |
Abgeordnete der Oppositionsparteien wurden Ermittlungsverfahren wegen | |
Kritik an der Offensive eingeleitet. | |
## Das Regime bekämpft Symptome | |
Ob Erdoğan diese Entwicklungen innenpolitisch für sich nutzen kann, ist | |
fraglich. Die nächsten regulären Wahlen in der Türkei liegen noch fast vier | |
Jahre in der Zukunft. Kurzfristige Popularität dank seiner starken | |
militärischen Hand muss dem Präsidenten also zum Machterhalt nicht | |
unbedingt nützen. Denn auch nach der Eroberung der syrischen Stadt Afrin im | |
letzten Jahr brach die Unterstützung für die AKP ein. Die Welle | |
nationalistischer Euphorie konnte der rechtsnationalistische | |
Koalitionspartner MHP weitaus besser abgreifen als die AKP. Der Unmut über | |
die Operation gegen die kurdischen Kräfte in Afrin stärkte hingegen die | |
HDP. | |
Der Leiter des Meinungsforschungsinstituts Akam, Kemal Özkiraz, geht nicht | |
davon aus, dass es Erdoğans primäres Ziel ist, seine Umfragewerte zu | |
verbessern. Auf der einen Seite gehe es ihm natürlich darum, zu zeigen, | |
dass er ein Mann ist, der sich mit allen Weltmächten anlegt, so Özkiraz. | |
Auf der anderen Seite aber stünden die syrischen Geflüchteten. Die Türkei | |
beherbergt aktuell fast vier Millionen Syrer*innen – und neben der | |
wirtschaftlichen Entwicklung ist die ablehnende Haltung der Bevölkerung | |
gegenüber den Geflüchteten das brennendste innenpolitische Thema geworden. | |
Im vergangenen Jahr wuchs die Feindschaft gegen Syrer*innen, es kam | |
wiederholt zu Angriffen und Plünderungen syrischer Geschäfte. Nun versucht | |
Erdoğan, mit einer Klatsche sämtliche Fliegen zu schlagen und verspricht, | |
mehr als eine Million Syrer*innen aus der Türkei in die Sicherheitszone | |
umzusiedeln, die er in Nordsyrien einrichten möchte. Türkische | |
Bauunternehmen sollen Wohnsiedlungen errichten, finanzieren soll das die | |
EU. Klingt so, als wolle die Regierung den kränkelnden Bausektor wieder | |
ankurbeln. Dass es dazu kommt, hält der Meinungsforscher Özkiraz für | |
unwahrscheinlich: „Sie können ein anderes Land nicht ohne dessen | |
Einverständnis zum Baugelände machen.“ | |
Die Ökonomin Nesrin Nas geht davon aus, dass die Offensive der türkischen | |
Wirtschaft mittelfristig schweren Schaden zufügen wird. Selbst wenn keine | |
Sanktionen verhängt werden, werde die Situation ausländische Investoren | |
abschrecken. Spontane Gewaltakte wie der Einmarsch im Nachbarland würden | |
also allerhöchstens kurze innenpolitische Atempausen einbringen. Die | |
Bevölkerung werde jedoch dauerhaft unter den wirtschaftlichen Konsequenzen | |
leiden. | |
Wirklich funktionierende Politiken vermag das Erdoğan-Regime seit Längerem | |
nicht mehr zu entwickeln. Nachhaltige Lösungen für die bedrängte Wirtschaft | |
sind nicht zu erwarten. Stattdessen bekämpft das Regime Symptome. „Erdoğan | |
hat bis heute kein einziges Problem gelöst, er hat jedes Problem mit einem | |
neuen Problem überlagert. Das war sein letzter Trumpf“, sagt Nas. | |
Aus dem Türkischen von Oliver Kontny | |
18 Oct 2019 | |
## AUTOREN | |
Nar Iraz | |
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