| # taz.de -- Tod eines Anständigen | |
| AUS PARIS RUDOLF BALMER | |
| Es war der 1. Februar 1954. Ein Hilferuf des Obdachlosenpriesters Abbé | |
| Pierre rüttelte die französische Nation auf. Ein dreijähriges Kind und eine | |
| Frau waren in jenen Wintertagen gestorben, erfroren. Mit vor Zorn bebender | |
| Stimme appellierte der hagere Abbé Pierre – gekleidet in seine schlichte | |
| Kapuzinerkutte, die Baskenmütze auf dem Kopf – an die Solidarität seiner | |
| Landsleute mit den tausenden von Obdachlosen, die unter Brücken oder damals | |
| in Slums, den sogenannten Bidonvilles, hausten. | |
| Mit seinem Appell löste der Obdachlosenpriester eine in der französischen | |
| Nachkriegsgeschichte einmalige moralische Revolution aus. Er selbst nannte | |
| diese Volksbewegung der Nächstenliebe einen „Aufstand der Güte“: Tausende | |
| Bürger und Prominente wie Charles de Gaulle, Charlie Chaplin, Yves Montand | |
| oder Michel Simon – Bourgeois und Proletarier –, die seinen Aufruf am Radio | |
| gehört hatten, brachten spontan Geld, Lebensmittel und Decken ins Pariser | |
| Hotel Rochester, das der Gründer der Emmaus-Gemeinschaft für seine | |
| Initiative requiriert hatte. Die von ihm 1949 gegründete Bruderschaft baute | |
| er im weiteren Verlauf seines Lebens zu einem großen Hilfswerk mit Ablegern | |
| in mehr als 40 Ländern aus. Emmaus verwaltet heute in Frankreich auch | |
| tausende Sozialwohnungen. | |
| Abbé Pierres Aufruf im Winter 1954 wirkte wie ein heilsamer Schock auf das | |
| Gewissen der Nation. Er hatte seine Landsleute an einem empfindlichen Nerv | |
| getroffen. Zu dieser Zeit, knapp zehn Jahre nach dem Krieg, lebten viele | |
| endlich wieder in einem gewissen Wohlstand. Die anderen im Schatten des | |
| Wirtschaftswunders wollte man lieber nicht sehen. Der damalige | |
| Premierminister Joseph Laniel sagte später einmal zu Abbé Pierre: „Niemand | |
| hätte Sie daran hindern können, die Macht zu ergreifen, falls das Ihre | |
| Absicht gewesen wäre.“ Doch Abbé Pierre war ein Revolutionär des Herzens, | |
| er wollte nicht den Umsturz, sondern konkrete Hilfe für die Bedürftigen. | |
| Die Regierung reagierte und beschloss in Rekordzeit den Bau von 12.000 | |
| Sozialwohnungen. Abbé Pierre aber ging mit seiner Aktion in die Geschichte | |
| ein, der Kampf für die Obdachlosen wurde zu seiner Lebensaufgabe. Immer | |
| wieder appellierte er nicht nur an die christliche Nächstenliebe, sondern | |
| auch an die Verantwortung der Regierenden und der Besitzenden. Gestern ist | |
| Abbé Pierre 94-jährig in einem Pariser Krankenhaus gestorben. | |
| Bei einem seiner unzähligen Fernsehauftritte machte er anhand eines Bildes | |
| deutlich, wie kurzsichtig seiner Meinung nach der Egoismus und der | |
| Nationalstolz seiner Landsleute waren: Als eine der größten Nationen sei | |
| Frankreich wie ein von allen bewunderter Champion, der eine unscheinbare | |
| Wunde am Bein nicht sehen wolle, die tödlich für ihn werden könne – wenn er | |
| sie nicht heile. Er fügte an: „Fühlt euch nicht länger ohnmächtig vor so | |
| viel Leiden! Es ist zu einfach und zu gefährlich, zu warten und auf die | |
| anderen oder den Staat zu zählen. Wir rufen euch auf zu handeln. Damit | |
| unsere Untätigkeit nicht ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit wird. | |
| Geringe Dinge zu tun ist nie lächerlich. Lieber eine kleine Geste und eine | |
| bescheidene Aktion als ein großer Traum, der nie verwirklicht wird.“ | |
| Diese Worte kann man auch als Absage an politische Utopien verstehen. Nach | |
| einer kurzen Karriere als christlich-sozialer Abgeordneter gleich nach dem | |
| Zweiten Weltkrieg mied Abbé Pierre die Politik und die Parteien. Trotz | |
| Orden und Ehrungen durch die Präsidenten seines Landes ließ er sich nie | |
| politisch instrumentalisieren. Gegen Ende seines Lebens überraschte – oder | |
| schockierte – er manche seiner Bewunderer mit dem Eingeständnis, dass auch | |
| er als Geistlicher es mit dem Keuschheitsgelübde nicht immer ganz genau | |
| genommen habe. Er setzte sich für eine Lockerung des Zölibats ein. | |
| Noch mit über 90 Jahren fand der greise Abbé trotz Krankheit und | |
| Altersgebrechen immer wieder die Kraft, seinen Landsleuten und ihren | |
| Abgeordneten ins Gewissen zu reden. In seinem Kampf für die Armen, | |
| Ausgeschlossenen und Erniedrigten resignierte er nie. In den letzten Jahren | |
| setzte er seinen prominenten Namen für obdachlose Hausbesetzer und von | |
| Abschiebung bedrohte MigrantInnen ein. Längst wollte er freilich den Platz | |
| räumen für die Jüngeren, die sich ihm angeschlossen haben. Doch ersetzen | |
| konnte und kann ihn keiner. | |
| Abbé Pierre ist mehr als ein Symbol, er war Frankreichs gutes Gewissen. | |
| Schon zu Lebzeiten wurde er fast wie ein Heiliger verehrt. Nach einer | |
| Begegnung mit ihm fragten sich auch die Ungläubigen und Zyniker, ob nicht | |
| doch vielleicht das Gute im Menschen existiere. Wer junge Französinnen und | |
| Franzosen nach ihren Vorbildern befragt, wird möglicherweise überrascht | |
| sein, den Namen Abbé Pierre zu hören – noch vor jenen von Sport- und | |
| Filmstars. Nichts ärgerte ihn selber aber mehr, als wenn Journalisten ihn | |
| als „Idol“ bezeichneten. Denn Demut und Bescheidenheit waren sein | |
| Lebensinhalt. Für seinen Grabstein hat er sich die Inschrift gewünscht: „Er | |
| versuchte zu lieben“. | |
| „Abbé Pierre, das ist Frankreichs Gandhi“, sagte gestern Morgen an einem | |
| Pariser Zeitungskiosk eine Schülerin. Die Franzosen sind aufrichtig | |
| betroffen. Staatspräsident Jacques Chirac erklärte gestern Vormittag, er | |
| sei „zutiefst erschüttert“, er empfinde „für Abbé Pierre einen immensen | |
| Respekt und eine große Zuneigung“. Premierminister Dominique de Villepin | |
| würdigte den Verstorbenen als unablässigen Mahner und Provokateur im | |
| Dienste der Menschlichkeit: „Abbé Pierre war zeit seines Lebens eine Kraft | |
| der Empörung, der es gelang, die Herzen und die Gewissen in Bewegung zu | |
| versetzen.“ Der frühere Staatschef Valéry Giscard d’Estaing meinte, ohne | |
| Abbé Pierre werde „Frankreich nicht mehr sein wie zuvor, weil er den Beweis | |
| erbracht hat, dass die Energie des Herzens grenzenlos ist“. | |
| Auch die Präsidentschaftskandidaten berufen sich auf Abbé Pierre. Die | |
| Sozialistin Ségolène Royal unterstrich gestern: „Sein Kampf für die | |
| Obdachlosen ist leider weiter höchst aktuell. Wir müssen seinen Geist der | |
| Revolte bewahren, um für alle eine sichere und menschenwürdige Wohnung zu | |
| erlangen.“ Ihr rechter Wahlgegner Nicolas Sarkozy sieht in dem Verstorbenen | |
| eine große Figur der Geschichte: „Während mehr als einem halben Jahrhundert | |
| hat Abbé Pierre die Franzosen aufgefordert, nicht die Augen beschämt zu | |
| senken und die Arme hängen zu lassen angesichts von menschlichem Elend.“ | |
| Seine Mitbürger und seine Bewunderer überall auf der Welt werden sich auch | |
| an seine faszinierende Lebensgeschichte erinnern. Als Henri Grouès kam er | |
| am 5. August 1912 in Lyon auf die Welt. Nach dem Theologiestudium | |
| verzichtete er auf jeden Besitz und wählte den Kapuzinerorden als seine | |
| Familie. Trotz schwacher körperlicher Konstitution schloss er sich in den | |
| Kriegsjahren 1942 bis 1944 der Widerstandsbewegung gegen die deutsche | |
| Besetzung an. Er organisierte die Flucht von Kämpfern der Résistance und | |
| jüdischen Mitbürgern, oft begleitete er selbst Flüchtlingsgruppen in die | |
| Schweiz oder über die Pyrenäen nach Spanien. Einmal entging er ganz knapp | |
| einer Razzia der Gestapo, weil er wegen einer Diphtherie in ein Krankenhaus | |
| gebracht worden war. Als er 1943 schließlich doch verhaftet wurde, gelang | |
| ihm die Flucht über Spanien nach Algerien, wo er mit General de Gaulle | |
| zusammentraf. | |
| Später erzählte er, wie er dreimal sein Überleben einer wundersam | |
| anmutenden Rettung verdankte, in der er als Christ die göttliche Vorsehung | |
| vermutete: Einmal fiel er als Fluchthelfer in eine Eisspalte und konnte | |
| gerade noch verletzt geborgen werden; in Indien überlebte er einen | |
| Flugzeugabsturz und in Argentinien den Untergang eines Schiffs. Kein | |
| anderer Franzose wurde von seinen Landsleute so hoch geachtet und | |
| respektiert wie Abbé Pierre. | |
| Kurz vor seinem Tod wurde ihm noch einer seiner Lebensträume erfüllt: Die | |
| Regierung in Paris versprach, bis 2012 ein einklagbares Recht auf Wohnraum | |
| einzuführen. Vor dem Tod, den er als „Fortsetzung“ des Lebens betrachtete, | |
| hatte er keine Angst: „Je älter ich werde, desto überzeugter bin ich, dass | |
| es zwei wichtige Sachen gibt, die einem im Leben nicht missraten dürfen – | |
| zu lieben und zu sterben“, schrieb er in den 90er-Jahren. Gestern nun ist | |
| er gestorben. Das nach Abbé Pierres Tod umgehend geforderte Staatsbegräbnis | |
| wird es wohl nicht geben. Seine Emmaus-Gemeinschaft erklärte, ihr Gründer | |
| solle Ende der Woche im engsten Kreis einer kleinen Gemeinde im Norden | |
| Frankreichs beigesetzt werden. | |
| 23 Jan 2007 | |
| ## AUTOREN | |
| RUDOLF BALMER | |
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